Schon beim ersten Donnergrollen hatte Cadan sich mit den Hunden aufgemacht, um die Schafe seines Stiefvaters in den Schutz einer Felsengruppe zu treiben, die auf einem Hügel über dem Moor aufragte. Man konnte nie sicher sein, ob die Tiere nicht bei einem Gewitter in Panik ausbrachen und Hals über Kopf in den sicheren Tod rannten. Wenn ihre Wolle lang und dicht war, hatten sie keine Chance, aus einem der kalten, morastigen Tümpel herauszukommen und würden dort elendig verenden. Die Verantwortung dafür lag schwer auf dem Burschen, denn mit gerade fünfzehn Jahren war er nicht viel mehr als ein Kind, doch der Farmer sah das nicht so. Cadan war sich sogar sicher, dass er, der Sohn seiner Mutter aus erster Ehe, nur als zusätzliche Arbeitskraft geduldet war. Arbeit, schwere Farmarbeit und Zorn waren es, die sein Leben prägten. Zorn, wegen der Schläge, die dieser Mann für Kleinigkeiten und viel zu brutal verteilte, weswegen seine Frau bereits ein Ungeborenes verloren hatte. Es war jedoch nur noch eine Frage der Zeit, bis Cadan stark genug wäre, sich zu wehren und seine Mutter besser zu beschützen.
Die Schafe ließen sich von den Hunden, die den Befehlen des Burschen gehorchten, unter einen großen, überhängenden Fels treiben, wo sie der mit dem nächsten Donner und Blitzen einsetzende Platzregen nicht erwischen würde. Gerade noch rechtzeitig, dachte Cadan und schaute sich um. Es dunkelte bereits und so verhangen wie der Himmel war, würde das Gewitter ganz sicher die halbe Nacht andauern. Er fluchte, denn er war so eilig aufgebrochen, dass er nichts zu essen mitgenommen hatte und hier oben gab es nichts, außer etwas Schafsmilch.
Während die Hunde die Gruppe Schafe bewachten, klaubte Cadan einen Haufen mit trockenem Gras und Gestrüpp zusammen, um sich ein kleines Feuer zu machen. Wenn er Pech hatte, müsste er die ganze Nacht hier verbringen. Immerhin war das besser als die Prügel, wenn er eines der Tiere verlieren würde.
Bald darauf war das Feuer entfacht. Es war lediglich ein Strohfeuer, würde jedoch für kurze Zeit Wärme spenden. Cadan hockte sich daneben und zog die Beine fest an den Körper. So sah er über das Moor. Irgendwo in der Weite erkannte er die Farm, Blitze fuhren über den Himmel und die Schafe blökten angstvoll mit jedem neuen Donnerknall. Doch sie blieben in Sicherheit. Dann, mit einem Mal, begannen die Hunde zu bellen und der Bursche stand auf, nahm einen brennenden Ast und leuchtete, ob er etwas erkennen konnte. Was mochte es sein, das die Hunde beunruhigte? Ein Wolf würde sich dem Feuer nicht nähern, also kam da vielleicht etwas anderes? Ein Mensch? Ein Geist? Es gab die furchterregendsten Geschichten über das Moor. Cadan war alles recht, wenn da nur nicht sein Stiefvater kam.
„Wer ist da?“, rief er in die Dunkelheit neben den Felsen, wohin die Hunde starrten.
„Ein Wanderer, der hier Schutz sucht! Hab keine Furcht, Junge!“
Cadan hielt den Ast höher und erblickte nun eine Gestalt. Es war, der Statur und Haltung nach, ein alter Mann mit einem langen Kapuzenumhang. Als er näherkam, sah Cadan einen weißen Bart und freundliche Augen. Keine Waffe, nur einen Wanderstab. Also beruhigte er sich.
„Erlaubst du, dass ich mich zum Feuer setze? Ich bin nass und erschöpft.“
Der junge Hirte nickte und bot dem Alten einen Platz an. „Hier. Niemand sollte bei solchem Wetter hier draußen sein.“
Der Wanderer blickte den Burschen nun prüfend an und lächelte etwas müde. „Das ist wahr. Doch auch du bist hier. Hast du kein Heim?“
„Keines, das ich dem hier vorziehen würde“, antwortete Cadan und deutete auf die Felsen.
„Das ist bitter.“
Der Bursche tat, als mache ihm diese Bemerkung nichts aus und zuckte die Achseln.
„Ich habe nichts außer etwas Schafsmilch“, bot er dann dem Alten an. „Ihr müsst allerdings unter dem Euter zu trinken.“
„Oh, danke. Das will ich gern tun.“
„Ich suche uns ein paar Äste.“
Cadan fand noch ein wenig trockenes Geäst, dann kam er damit zum Feuer. Der Alte lag inzwischen unter einem der Schafe und melkte und trank so gierig, dass der Junge sich fragte, ob er in den letzten Tagen überhaupt etwas gegessen hatte. Er selbst tat es ihm gleich und als beide genug getrunken hatten, setzten sie sich an das Feuer.
„Du bist sehr freundlich zu mir“, bemerkte der Wanderer. „Obwohl du mich nicht kennst.“
„Ihr macht keinen besonders gefährlichen Eindruck“, fand Cadan.
„Mit der Ansicht bist du wohl ziemlich allein, mein Junge. Ich bin Roswin, den sie auch den Hexer nennen.“
„Wenn ihr Magie hättet, dann wärt ihr nicht so ausgehungert.“
Der Alte lachte. „Das ist wohl anzunehmen. Aber was ist, wenn ich nur hier bin, um dich zu testen?“
„Warum sollte ein mächtiger Hexer einen nichtsnutzigen Schafhirten testen?“
„Weil er einen Nutzen hat. Weil er mutig ist und freundlich zu Fremden. Und weil ihm mit Magie geholfen werden kann.“
Ohne Umschweife nahm Roswin nun seine Kapuze ab und da erblickte Cadan ein Zeichen wie eine alte Rune auf der Stirn des Mannes. Sie schien den Schein des Feuers zurückzuwerfen und Cadan verspürte den Drang, sie zu berühren.
„Darf ich?“
„Dir sei es erlaubt“, stimmte der Alte zu. „Merke dir dieses Zeichen gut. Wenn du es dir selbst auf die Stirn zeichnest, noch vor dem nächsten Vollmond, dann wird die Magie auch zu dir kommen. Du brauchst dann nichts mehr zu fürchten.“
Der Bursche fuhr fasziniert mit den Fingerspitzen über die Stirn. „Wie kann ich lernen, solchen Zauber zu nutzen?“
Der alte Hexer lächelte über diese Frage, mit der er gerechnet haben musste. „Wenn du das Zeichen trägst, führt es dich zu mir und ich lehre dich. Denke darüber nach. Du hast Zeit, bis der Mond voll über dem Moor steht.“
Mit diesen Worten erhob sich der Alte, schenkte Cadan einen durchdringenden Blick zum Abschied, dann wandte er sich um und schritt durch die Schafe hinaus in den Regen. Im Licht der Blitze glaubte Cadan zu erkennen, dass der Mann nicht nass wurde, gerade so, als ginge der Regen nur durch ihn hindurch.
„Ich werde kommen!“, rief der junge Hirte ihm hinterher.
Da knallte der Donner und die Gestalt war verschwunden.