Draußen war es nicht nur bitterkalt, sondern auch feucht. Cadan lief, nur mit einem groben Hemd am Leib, in dem er zu schlafen pflegte, und ohne Schuhwerk über morastigen Grund und widerspenstiges Gras, das in seine Füße schnitt. Sein Atem ging unregelmäßig, viel zu schnell und kondensierte in der Nacht. Wenn er so weiterliefe, dann würde er sich gewiss den Tod holen, ertönte in seinem Kopf eine weit entfernte Stimme der Vernunft. Trotzdem beeilte er sich, so gut er es vermochte. Er konnte nicht halten oder sich gar umdrehen, denn lauter als sein keuchender Atem und seine Klagelaute waren die Lockrufe, deren Quelle er zu finden hoffte.
„Wo bist du, Cadan? Komm zu mir, ich will gut zu dir sein …“
Das war niemand, den er kannte, aber dennoch kannte der Rufende den Namen des jungen Mannes. Cadan. Er trieb sich selbst zu noch größerer Eile an. Er achtete kaum auf den Weg, stolperte über Stock und Stein, fiel immer wieder hin und stand auf, um weiterzulaufen.
„Cadan!“, hörte er es wieder. War das eine andere Stimme?
„Komm zu mir, ich will dich fassen, dich halten, dir Trost geben …“
Eine merkwürdige Hitze stieg in ihm auf. Das war keine körperliche Wärme, trotz aller Kälte, hervorgerufen durch den Lauf, es war noch anders. So als erwarte Cadan etwas, als wäre da eine wilde Vorfreude, ein Verlangen, aber nach was? Seine Wangen glühten regelrecht und es kam ihm so vor, als konzentrierten sich alle seine Lebensgeister auf seinen Unterleib, wo das Ding zwischen seinen Beinen zu ziehen und zu kribbeln begann. Was war nur los mit ihm?
„Junge, bleib stehen, nicht weiter!“
War das der Hexer?
„Cadan, hör nicht auf den alten Mann, es erwartet dich ein junger!“
Als würde ihn die Stimme über das Moor ziehen und körperlich an ihm reißen, rannte der Bursche schneller. Er wollte alles geben, um den Hexer abzuhängen, der ihm folgte. Er achtete nicht mehr auf seinen Schritt, die wilden Geräusche der Tiere. Hier sprang ein Fuchs, dort flog ein Uhu …
Endlich kam Cadan völlig erschöpft zum Rand einer großen Senke, wo er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Am Boden hatte sich dichter Nebel gesammelt, sodass nicht auszumachen war, wie tief es hinunterging. Weiße Schwaden waberten auf und nieder, als würde der Nebel wie eine Schlange züngeln. Unnatürlich schnell geschah das und als er seine Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können, schien es Cadan, als wäre da eine Gestalt wie von einem Menschen. Gebannt und verwirrt hielt er den Atem an. Das war doch nicht möglich? Wer würde sich zu dieser Stunde so weit auf das Moor verirren? Hatte die Stimme noch jemanden gerufen? Nein! Das musste der Mann sein, der ihn gerufen hatte. Was machte der hier, inmitten des Nichts aus Dunst?
„Komm zu mir!“, rief es wieder und als würde er auf dem Nebel schweben, näherte sich der Unbekannte langsam.
Cadan war unfähig sich abzuwenden, denn jetzt erkannte er die gespenstische Schönheit des Mannes. Er war groß, von kräftiger Statur und auf seinem bloßen Leib trug er seltsame Zeichen und Runen. Wie merkwürdig, dass der Hexenlehrling keine davon kannte. Das Gesicht des Fremden war umrahmt von fließenden, tiefdunklen Strähnen und wirkte seltsam alterslos. Jung einerseits, doch dunkle Augen und Brauen schienen von Jahrhunderten zu erzählen.
„Gefalle ich dir? Dann komm, denn auch du gefällst mir“, lockte er wieder.
Mit großen Augen starrte Cadan ihn an. Ja, der Mann war unheimlich, doch gleichzeitig hatte der Bursche noch keinen schöneren gesehen. Und was immer es war, wofür er Cadan zu sich rief, jede Faser im Leib des jungen Mannes schrie danach, sich dem hinzugeben.
„Wer bist du?“, brachte er keuchend heraus und wappnete sich innerlich für die Antwort.
„Ich bin der, den du suchst. Ich bin das, wonach es dich verlangt“, lautete sie.
Der Klang der Stimme des Mannes, ließ Cadan beben und mit Entsetzen stellte er fest, dass es ihn erregte, was der Fremde zu ihm sagte. So etwas hatte der Bursche noch nie gefühlt. Gleichzeitig spürte er keine Angst, nur den Drang nachzugeben. So wollte er gerade einen Schritt wagen, als ihn plötzlich eine menschliche Hand am Arm packte und herumriss.
„Verflucht, Junge, komm weg hier!“
Das war Lucius!
„Nein! Ich muss zu ihm, er will mich!“
Der Hexer begriff, dass der Junge nicht ganz bei Verstand war und fixierte ihn mit seinem Blick.
„Dieses Wesen ist nicht das, was du siehst. Los, weg hier!“
Kaum war das gesagt, da erschallte plötzlich ein markerschütternder Schrei. Cadan und der Hexer fuhren herum und sahen, wie der Nebel um den Mann wirbelte, sodass es den Anschein hatte, als würde er ihn in sich aufsaugen. Gleichzeitig wuchs er an Größe und seine Augen begannen wütend zu funkeln. Die Zeichen auf seinem Köper nahmen andere Formen an, so, als ob sie lebendig wären und wie Nattern oder Würmer begannen sie, sich zu ringeln und zu winden.
Gepackt von Entsetzen, schrie Cadan auf. Im selben Moment erhob der Alte seine Stimme und brüllte gegen das Tosen der wirbelnden Nebelschwaden an.
„Verschwinde! Heute Nacht gibt es kein Opfer für dich!“
Sodann erhob er eine Hand und malte eine Rune in die Luft, die für das Nebelwesen sichtbar sein musste, denn es stieß einen Schmerzensschrei aus. Der Dunst verfärbte sich, wurde dunkler und dunkler, da packte Lucius seinen Schüler mit beiden Armen um den Leib und zog ihn fort. Cadan stemmte sich erst dagegen, wehrte sich, wollte nicht mitgeschleift werden, doch der Hexer war stärker als man es vermuten sollte. Er umklammerte den Jungen fest und kaum, dass er ihn ein kleines Stück vom Rand der Senke weggezerrt hatte, fiel von ihm ab, was immer ihn zu dem Mann darin hingezogen hatte. Er begriff, dass er in Gefahr war, dass Lucius hier war, um ihn zu retten. Er hörte auf, sich gegen ihn zu stemmen und sah ihn erkennend an. Dann rannten sie gemeinsam so schnell sie konnten.