Die erste Zeit in der Hütte des Hexenmeisters Lucius war hart für Cadan. Zwar war der Alte freundlich und verständnisvoll, aber dennoch waren viele der täglichen Pflichten und Arbeiten mehr als ungewohnt für den Jüngling. Das Torfstechen war körperlich sehr anstrengend und während Cadan sich mit dem Spaten abmühte, zeigte sein Lehrmeister kaum die zu erwartenden Müdigkeitserscheinungen. Aber sie brauchten den Torf aus zwei Gründen, hatte Lucius erklärt. Zum einen würden sie ihn in der kalten Jahreszeit im Ofen verbrennen und dann brauchten sie auch eine unverdächtige Arbeit, der sie nachgingen und mit der sie etwas Geld verdienen konnten, ohne dass es ein zu großes Aufsehen bei den Bewohnern der Dörfer erregte.
Eine weitere Aufgabe bestand darin, lesen und schreiben zu lernen. Nie hätte Cadan gedacht, dass dies einmal wichtig für ihn wäre, doch der Hexer bestand darauf, dass es gar keine Alternative gab. Vieles, was es zu wissen und anzuwenden gab, war in Büchern geschrieben, die er in seiner Kammer in einer großen Truhe aufbewahrte. Anderes, was es noch zu entdecken galt, müsste Cadan aufschreiben und eines Tages selbst weitergeben. Der Bursche sah das ein und tat sein Bestes, schon weil sich zwischen ihm und dem Hexer langsam, aber stetig ein besonderes Band entwickelte. Sie waren nicht nur Lehrer und Schüler, sie wurden auch so etwas wie Vater und Sohn, sofern Cadan denn etwas davon verstand. Er war es nicht gewohnt, Fehler zu machen, die ihm der Mann verzieh, und schon gar nicht, dass ihm Freundlichkeit wie ein Lächeln oder ein Apfel geschenkt wurde, wenn er etwas richtig machte.
Er liebte vor allem die frühen Abendstunden, wenn sie gemeinsam in Lucius‘ Hexenküche saßen und dieser ihm die Grundlagen der Heilkunst beibrachte. „Erst komme das Weltliche“, sagte er immer, „später das Magische“. Cadan konnte es kaum erwarten. Manchmal schlug er das Buch mit den Runen und Symbolen auf und versuchte, sich vorzustellen, wofür sie gut waren. Wie wunderbar wäre es, wenn sie böse Menschen besänftigen oder den Hilflosen Stärke und Trost geben könnten?
So vergingen der Sommer und der Herbst. Inzwischen war der junge Mann kräftiger geworden und gewachsen, was ganz sicher auch an dem Kräutertrank lag, den Lucius ihm verabreichte und dem regelmäßigen, guten Essen, das Cadan so nie gekannt hatte. Wenn der Abend anbrach, gingen sie nun früher hinein, heizten den Ofen und verriegelten die Fensterläden. Dies sei notwendig, betonte der alte Hexer, denn mit den dichten Nebelschwaden, sei das Moor nicht geheuer. Licht, das nach draußen dringt, so sagte er, könne Kreaturen anlocken, die es nicht gut mit den Menschen meinten.
Cadan dachte darüber viel nach. Wo er aufgewachsen war, galten Hexen und Hexenmeister als gefährlich und nicht menschlich. Sie waren des Teufels. Aber Lucius war das ganz sicher nicht. Doch was mochten das für Wesen sein, vor denen selbst er als Hexenmeister solche Furcht zeigte, dass er sich und ihn in der Hütte einschloss? Wirkte denn der Bannkreis bei ihnen nicht?
In jener finsteren Nacht lag der Bursche auf seinem Lager und wälzte sich schlaflos hin und her. Ihm war seltsam zumute. Es waren eine innere Unruhe und zugleich ein Sehnen, die ihn quälten. Er verstand sie nicht. Immer wieder sah er seine Mutter vor sich, und ihm schien es, als könne er ihre Stimme hören. Aus der Ferne, doch das war nicht möglich. Ihm wurde heiß und kalt und er begann zu zittern. Erst wickelte er sich in seine Decke, doch es half nichts. Er öffnete das Fenster einen Spalt, nur um etwas frische Luft hereinzulassen. Da ertönte mit einem Mal ein Ruf, draußen über dem Moor.
Cadan erschauerte. Das war doch nicht möglich. Niemand würde zu so einer gottverlassenen Stunde übers Moor streifen. Er sah sich in seiner Kammer um. Sein Hund schlief zu seinen Füßen tief und fest. Hörte er es nicht?
Der junge Mann machte die Läden jetzt weiter auf und horchte.
„Komm, komm her!“, ertönte eine Stimme. Aber das war nicht seine Mutter. Das musste ein Mann sein, der da rief. Gewiss nicht sein Stiefvater. Der würde sich nicht scheren und dessen Stimme würde Cadan nicht so warm schauern machen.
„Cadan! Komm zu mir!“, schallte es erneut.
Der junge Mann starrte hinaus in die Nacht. Dort war nichts zu sehen, außer dem Nebel, der sich über die sanften Hügel und die tiefen, feuchten Löcher des Moors gelegt hatte. Er waberte und wirkte so seltsam, fast als wäre er vertraut. So, als würde er ihn locken. Und wieder erklang die Stimme.
„Komm Cadan! Wo bleibst du?“
Ein kalter Hauch wehte ihm ins Gesicht, als er antwortete.
„Wer bist du? Wohin gehörst du? Warte auf mich, ich komme!“
Mit einem Satz sprang Cadan aus dem Fenster.
…