Orion hatte sich ein Stück von den anderen weg bewegt. Er wollte es nicht zugeben, doch er fühlte sich fehl am Platze. Alle anderen hier waren Männer, Zauberer, die schon erwachsen waren oder es bald sein würden. Nur er war weit davon entfernt. Lag es an seinem Alter, dass er Angst empfand? Lag es an seinem Alter, dass er unsicher war, ob er einen Unverzeihlichen sprechen konnte oder wollte?
Abraxas hatte ihn vorbereitet. Er wusste, dass zur richtigen Aufnahme gehörte, dass man Tom beweist, dass man den Cruciatus Fluch beherrscht. Tom hatte offenbar warten wollen, bis er sechszehn Jahre alt war, ehe er das von ihm verlangte. Aber das erleichterte Orion kein Stück. Er würde heute den Cruciatus sprechen müssen und er hatte so viel Angst zu versagen.
Beinahe noch mehr Angst machte ihm der Basilisk. Es kostete ihn alle Selbstbeherrschung, nicht zu der riesigen Schlange aufzuschauen. Tom hatte dieses Monster, das er Fenrir nannte, einfach so zu ihnen in die Halle kommen lassen, ohne Warnung. Ein falscher Blick, und jeder einzelne von ihnen hätte sterben können.
Orions Hände verkrampften sich zu geballten Fäusten, während er zusah, wie Dolohow neben Tom stand und sich offenbar bereit machte, den Fluch zu sprechen. Hatte Tom ihr aller Leben einfach so riskiert? Oder hatte der Basilisk die Augen geschlossen? Tom hatte auf Parsel mit ihm gesprochen. Obwohl es kühl hier tief unter der Erde war, spürte Orion, wie eine Schweißperle sich aus seinem Nacken löste und quälen langsam über seinen Rücken rollte.
Er hatte so viel Angst.
Vor Wochen noch war er stolz gewesen, von Tom aufgenommen worden zu sein. Doch seitdem hatte er immer und immer wieder gemerkt, dass er viel jünger war als die anderen. Tom hatte es ihn so deutlich spüren lassen. All diese unterschwelligen Drohungen, diese Andeutungen. Die Art, wie er seine Freundin berührte und dabei ihn anschaute. Wie er lachte, wenn Orion rot wurde.
Orions Bewunderung hatte sich in Ekel verwandelt. Trotzdem stand er hier. Trotzdem stand er hier und wollte beweisen, dass er dazu gehören konnte. Als Rufus ihn darum gebeten hatte, bei einem kleinen Plan mitzuhelfen, der Hermine Dumbledore in ihre Schranken weisen würde, war er nur zu begierig gewesen zu helfen. Sie war schließlich die Wurzel allen Übels. Sie lockte ihn mit ihren weiblichen Kurven und ihrem falschen Lächeln, um ihn dann schändlich abzuweisen und sich Tom an den Hals zu werfen. In aller Öffentlichkeit hatte sie sich von ihm anfassen lassen, ohne jeglichen Sinn für Anstand, als ob sie ihm unter die Nase reiben wollte, dass er sie nicht haben konnte.
Dennoch stand sie neben Tom, die Beziehung offenbar noch nicht intakt, und Orion verstand, dass es falsch gewesen war, sich auf die Seite von Rufus zu stellen. Denn es war die Seite, auf der Tom der Gegner war.
Orion hatte Angst.
Seine Füße fühlten sich wie festgefroren auf dem nassen Steinboden an, während der Rest seines Körpers zitterte. Sein Blick lag starr auf Rufus, der gerade zu Boden ging und sich unter den Schmerzen des Cruciatus Fluches wand. Natürlich war es Dolohow ohne Probleme gelungen, den Fluch zu sprechen. Die russische Familie war bekannt dafür, Zauberer mit einem Händchen für Flüche zu produzieren.
War heute nur Rufus als Testsubjekt geplant? Oder wollte Tom ihnen allen eine Lehre erteilen? Würden er, Avery und Nott ebenfalls bestraft werden, weil sie eingeweiht gewesen waren? Ein weiterer Schweißtropfen perlte über seinen Rücken.
Immer noch lag Rufus am Boden und krümmte sich. Seine Schreie hallten von den hohen Wänden wider. Dolohows Gesicht war ungerührt, während Tom mit offensichtlicher Freude auf seinen Freund hinab starrte. Orions Blick wanderte weiter. Dumbledores Augen waren geweitet, während ihr Blick voller Intensität auf Rufus lag. Sie sah blass aus, aber ihre Lippen zierte ein triumphierendes Grinsen.
Genauso wie Tom genoss sie die Szene. Sie genoss es. Sie freute sich darüber, dass ein anderer Mensch solche Schmerzen erleiden musste. Kopfschüttelnd schaute Orion sich um. Alle anderen Anwesenden zeigten grimmig verzogene Münder, niemand freute sich. Da lag ein reinblütiger Zauberer am Boden und wurde gefoltert. Wie konnte Tom, wie konnte Hermine das genießen?
„Genug.“
Das leise Wort ließ Orion beinahe erleichtert aufseufzen. Augenblicklich unterbrach Dolohow den Fluch und die Schreie hörten auf. Lestranges Körper zitterte, als er versuchte, sich auf Arme und Knie aufzustützen. Als hätte er keine Kraft in seinen Gliedmaßen sank er zurück auf den Boden.
Orion bemerkte kaum, wie Antonin zurücktrat und Platz für Mulciber machte, der nun vortrat, um seine Bereitschaft zu zeigen. Sein Blick war auf Rufus gerichtet, der immer noch verzweifelt darum kämpfte, seine Würde zurück zu bekommen. Wie durch Watte nahm Orion wahr, dass Tom ähnliche Worte an Mulciber richtete, und dass dieser ebenfalls seine Bereitschaft erklärte. Panik erfasste seinen Körper.
Er wusste, es war möglich, den Verstand zu verlieren, wenn man zu lange dem Cruciatus Fluch ausgesetzt war. Es war unmöglich, dass Tom das nicht wusste. Jeder hier in der Halle musste das wissen. War es ihnen egal? Nahm Tom in Kauf, einen reinblütigen Zauberer aus dem Hause Lestrange solange zu foltern, bis er wahnsinnig wurde?
Orions Blut rauschte ihm in den Ohren, während er zusah, wie Mulciber seinen Stab hob. Er sah, wie dessen Mund das Wort Crucio formte, wie er die Bewegung ausführte – und dann nichts. Rufus lag unberührt am Boden, keine Magie löste sich aus dem Stab. Mulciber hatte versagt. Langsam stieß Orion die Luft aus. Vielleicht waren die anderen nicht in der Lage, den Fluch zu sprechen. Vielleicht würde Rufus verschont bleiben.
Tom trat hinter Mulciber und legte ihm beide Hände auf die Schulter. Er flüsterte ihm etwas zu, unhörbar für alle anderen. Der Schüler wurde blass, doch er hob erneut seinen Stab und deutete auf Rufus. Ohne dass Tom seine Hände von ihm nahm, sprach er erneut den Fluch und dieses Mal gelang es.
Wieder war die riesige Halle von Schreien erfüllt. Orion schloss die Augen. Er konnte nicht hinsehen. Rufus war seltsam und durchtrieben, aber er war ein Freund und Mentor für ihn. Sein einziges Verbrechen war es, dass er Hermine Dumbledore demütigen wollte, um sie von Tom zu trennen. Er hatte es für Tom getan. Diese Bestrafung war sinnlos und ohne jedes Maß. Niemand hatte solche Schmerzen verdient.
Mit klopfendem Herzen schaute Orion wieder zu Tom. Er lächelte nicht mehr, sondern schaute stattdessen hochkonzentriert zwischen Mulciber und Rufus hin und her. Sekunden verstrichen, zogen sich wie Minuten, während der Folterfluch den sich am Boden windenden Körper in seinem Bann hielt. Die Schreie wurden schwächer, bis sie ganz verstummten und nur noch ein schmerzverzerrtes Keuchen zu hören war.
„Das reicht.“
Diesmal war es Dumbledore, die die Worte sprach. Ruckartig schaute Orion zu ihr. Was nahm sie sich heraus, in die Aufnahmezeremonie von Tom einzugreifen? Wer war sie, dass sie dachte, über solche Dinge bestimmen zu können?
„Du hast die Dame gehört“, bestätigte Tom ihre Worte.
Augenblicklich unterbrach Mulciber den Fluch und ließ den Stab sinken. Seine Brust hob und senkte sich hektisch, als wäre er derjenige gewesen, der am Boden liegend gefoltert worden war. Mit einem unsicheren Blick zu Tom schritt er zur Gruppe zurück und stellte sich neben Dolohow.
Orion trat einen Schritt vor, wollte etwas sagen, etwas einwenden, protestieren, dass sie eingegriffen hatte. Doch sofort legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter. Überrascht drehte er sich um und schaute in die ernsten Augen von Peter Nott. Der ältere Junge schüttelte bestimmt den Kopf. „Das letzte, was du jetzt tun solltest, ist, gegen Hermine Dumbledore zu protestieren.“
Orion verengte die Augen zu Schlitzen. „Wer ist sie, dass sie sich in Toms Angelegenheiten einmischen darf?“
Mit einem Seufzen nahm der ältere Zauberer seine Hand von der Schulter. „Begreifst du es wirklich nicht, junger Black? Das hier mag eine Aufnahmezeremonie sein, aber in Wirklichkeit geht es nur um eines. Vergeltung für Dumbledore.“
Aus den Augenwinkeln sah Orion, wie als nächstes Rosier nach vorne trat. Er schluckte. Sollte Rufus erneut gefoltert werden? „Warum Vergeltung?“
Offensichtlich überrascht fuhr Nott sich durch seine dichten Haare. „Ich dachte, du warst auch Teil des Plans? Hat Rufus dich nicht informiert, warum du Abraxas ablenken sollst?“
Ungeduldig rollte Orion mit den Augen. „Natürlich hat er das. Er wollte in Ruhe mit Dumbledore sprechen und ihr im Zweifelsfall in einem Duell beweisen, dass sie keine angemessene Partnerin für Tom ist.“
Notts Augenbrauen schossen in die Höhe. „Und du glaubst, das ist passiert?“
Plötzlich verunsichert flackerte Orions Blick nach vorne, wo Hermine Dumbledore immer noch mit grimmigem Triumph auf Rufus herabschaute. Er kratzte sich am Nacken. „Ich gebe zu, ich bin erstaunt über die Schwere der Strafe, die Rufus dafür ertragen muss.“
„Weil das nie passiert ist.“ Peter hatte seinen Blick inzwischen wieder nach vorne gerichtet, doch er sprach mit leiser Stimme weiter. „Rufus hat getan, was für eine junge Dame mit Aussicht auf eine profitable Ehe das schlimmste ist.“
Augenblicklich weiteten sich Orions Augen. Nott musste es nicht aussprechen, er verstand auch so. Natürlich, warum hatte er das nicht selbst realisiert? Es gab nur ein Mittel, mit dem ein Mann einem anderen Mann die Frau effektiv wegnehmen konnte. Doch irgendetwas passte noch immer nicht ins Bild. Fragend drehte er sich zu Nott um. „Warum hält Tom noch zu ihr? Ihre Ehre ist beschmutzt. Diese Vergeltung macht jetzt noch weniger Sinn als zuvor. Tom kann unmöglich vorhaben, eine gefallene Frau zu heiraten.“
Erneut seufzte Nott auf. „Du bist entweder wirklich noch zu jung, Orion, oder du bist blind. Ich weiß nicht, welches von beidem schlimmer ist.“
Er spürte, wie seine Ohren heiß wurden, doch Orion war zu stolz, um das auf sich sitzen zu lassen. Mit vor der Brust verschränkten Armen schaute er zu Nott auf. „Ich bin weder zu jung, noch bin ich blind. Ich verstehe nur nicht, was ein Mann mit einer Frau will, die besudelt ist. Auch wenn Tom aus keiner der namhaften reinblütigen Familien stammt, so ist er ein begehrter Mann. Er wird doch problemlos ein anderes Mädchen für sich finden.“
„Denkst du wirklich, dass Eheschließung der Plan von Tom für seine Zukunft ist?“ Herausfordernd hob Peter eine Augenbraue. „Denkst du wirklich, dass die Beziehung zwischen Tom und Miss Dumbledore auf eine Hochzeit zusteuert?“
„Keine anständige Frau würde in offener Schande mit einem Mann leben!“
„Das ist korrekt.“ Nott schien beinahe zu grinsen. „Aber Miss Dumbledore ist nicht wie andere junge Damen. Sie ist weder anständig, noch legt sie Wert auf soziale Konventionen. Sie ist Toms Partnerin, Orion Black. Sie mag ein Bett mit ihm teilen, aber sie ist so viel mehr als nur ein hübsches Mädchen an seinem Arm. Ich war selbst naiv genug zu glauben, dass ihre Schande dazu führen wird, dass Tom sie fallen lässt. Dass er das nicht tut, kann nur eines bedeuten. Er sieht in ihr eine Partnerin, wie nur Männer Partner sein können.“
Orion bemerkte, dass sein Mund dümmlich offenstand und klappte ihn schnell zu. Vorne war es inzwischen nach drei Versuchen Rosier gelungen, den Cruciatus zu sprechen, doch er war zu abgelenkt, um sich länger um Rufus zu sorgen. Er hatte das Gefühl, der Raum um ihn herum drehte sich.
Sah Tom wirklich eine Partnerin in Hermine Dumbledore? Wie konnte eine Frau jemals eine Position einnehmen, die nur Zauberer innehaben konnten? Scherte Tom sich nicht darum, dass mit ihrer Schande auch sein Ruf befleckt war? Was Rufus getan hatte, war eine Demütigung für Tom, wenn er Dumbledore nicht fallen ließ.
„Orion“, riss Nott seine Aufmerksamkeit wieder an sich. „Tom Riddle hat seine Vision einer neuen Welt mit uns geteilt. Glaube niemals, dass du weißt, wie er über herrschende Normen denkt. Tom ist anders als wir. So grundsätzlich anders, dass wir niemals wissen können, was er wirklich denkt. Je eher du das lernst, umso eher kannst du vermeiden, einen ähnlichen Fehler wie Rufus zu begehen.“
Er schluckte. Tom hatte ihnen allen klar gesagt, dass sie niemals annehmen sollten, dass sie wussten, was sein Wille war. Bis jetzt hatte er nicht verstanden, wie ernst Tom das meinte. Verzweifelt fuhr Orion sich mit beiden Händen durchs Haar. Er hatte Rufus geholfen. Er hatte sich nichts dabei gedacht, weil ihm nicht im Traum eingefallen wäre, dass irgendetwas daran Tom missfallen könnte. War er selbst jetzt in Gefahr? War das Vergehen von Rufus zu groß, dass auch er bestraft werden würde?
Zitternd richtete er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Tom machte ihm Angst, doch jetzt war es zu spät. Er stand hier, er hatte gewählt. Es gab kein Zurück mehr.