Stichwort: Päckchen, vom 03.08.2021
Es klingelte. Wer mochte das so spät noch sein? Leicht genervt legte ich die Zahnbürste zur Seite, hatte ich mich doch gerade bettfertig machen wollen. Bereits im Schlafanzug stolperte ich müde zur Tür. Mit einem halb gegähnten „Guten Abend“ öffnete ich. Verwundert sah ich die Gestalt vor meiner Wohnungstür an. Was bitte machte um diese Zeit ein Postbote im Dienst? Zumal dieses recht klein geratene Exemplar, das mir gerade einmal bis zur Hüfte ging, eine ziemlich altmodische Uniform trug, die ich so noch nie an einem anderen sich gegenwärtig im Dienst befindlichen Briefträger gesehen hatte. Einen tiefblauen Uniformrock mit Messingknöpfen und dazu passender Schirmmütze hatte er an. „Entschuldigung, wohnt hier eine Schrad, Evelina?“, fragte er mich mit knarzender Stimme. „Nein, hier ist Gintenreiter, Florian“, erwiderte ich. Den Namen Evelina Schrad hatte ich noch nie gehört, aber da ich die Namen aller Nachbarn im Haus nicht auswendig kannte, dachte ich mir nichts dabei. „Seltsam, dabei hätte ich gemeint, ihre Wohnung wäre genau hier. Wären Sie so gut, dass Paket für Ihre Nachbarin anzunehmen und mir die weitere Suche zu ersparen?“, bat er mich. Da ich nicht unfreundlich sein wollte, nahm ich das Päckchen also an. Morgen würde ich diese Evelina Schrad schon finden und ihr das Päckchen übergeben. Der Postbote bedankte sich mit einer Verbeugung bei mir, wobei sein bleiches, runzliges Gesicht erleichtert lächelte. Kurz meinte ich seine Augen rot aufleuchten zu sehen. Verwirrt schüttelte ich meinen Kopf. Danach wirkte alles wieder normal. Mir fiel auf, dass er sich deutlich langsam und auf seltsam mechanisch wirkende, unrunde Art bewegte. Wahrscheinlich hatte bei dem armen Mann kurz vor der Pensionierung die Arthrose zugeschlagen. Nachdem er sich verabschiedet hatte, stieg er auf bizarre Weise die Treppe hinunter, die an eine Mischung aus watschelnder Ente und schlecht programmierten Roboter erinnerte. Erst zog er das Knie vorne auf Hüfthöhe nach oben und drehte das Bein seitlich nach außen. Aus dieser Position heraus suchte er mit dem sich in der Luft befindlichen Fuß nach der nächsten Stufe. Es grenzte an ein Wunder, dass er so nicht die Treppe hinunter fiel, wobei es ihm jedoch komischerweise kaum Probleme bereitete das Gleichgewicht zu halten. Hinter sich hinterließ er eine tropfnasse Spur, dabei hatte es doch seit Tagen nicht geregnet. Zudem war der Postbote doch vorher trocken gewesen, meinte ich.
Die Müdigkeit ließ sich mich wohl schon phantasieren. Zeit, dass ich ins Bett kam. Morgen hatte ich wieder Frühdienst, den siebten am Stück um genau zu sein, weshalb ich um fünf Uhr schon wieder aufstehen musste. Noch dreimal, dann hatte ich endlich vier Tage frei. Da ich der jüngste Krankenpfleger auf unserer Station war, teilte die Pflegedienstleitung bevorzugt mich für solche anstrengenden Abfolgen von Diensten ein. Nachdem ich noch irgendwie an ausreichend Schlaf kommen wollte, stellte ich das ungefähr zehn mal zehn Zentimeter große Päckchen für Evelina Schrad auf dem Wohnzimmertisch ab um mich hastig zurück ins Bad zu begeben. Die Zahnpasta hatte ich ja noch auf der Zahnbürste, bloß den Akku hatte ich anscheinend einmal wieder vergessen aufzuladen. Daher drapierte ich die Zahnpasta von der Elektrischen auf die Handzahnbürste und putzte eben von Hand. Anscheinend mochte die Elektrizität an sich mich an diesem Abend nicht besonders gerne, denn nun begann auch noch die Badlampe zu flackern. Gut, den Wackelkontakt hätte ich schon wirklich länger reparieren sollen. Gedankenverloren schrubbte ich mit der Zahnbürste meine drei Minuten vor mich hin. Anscheinend hatte ich ein bisschen zu fest aufgedrückt, denn beim Ausspucken hatte sich die Zahnpasta ganz rot verfärbt. Außerdem brauchte ich wohl eine neue Handzahnbürste, denn meine Aktuelle war in keinem guten Zustand mehr. Nachdem ich kräftig ausgespült hatte, ging ich durchs Wohnzimmer in Richtung meines wohlverdienten Bettes. Kurz stutzte ich. Irgendwie kam es mir vor, als sei das Päckchen geringfügig größer geworden. Nein, ich musste mich täuschen, das konnte nun wirklich nicht sein.
Endlich legte ich mich hin. Obwohl mich der Krimi, an dem ich seit einer Woche las, anlachte, machte ich sofort das Licht aus. Übermüdet auf Station anzukommen durfte ich mir bei meiner Verantwortung für meine Patienten nicht leisten. Ich rollte mich in die Decke ein und wartete darauf, dass meine Müdigkeit in Schlaf überging. Daran war jedoch vorläufig nicht zu denken, da es von der Wohnung über mir aus pochte und rumpelte. Welche Phantasien meine Nachbarn gerade auch auslebten, musste das ausgerechnet jetzt sein, wenn ich einschlafen wollte? Kurz überlegte ich aufzustehen um bei ihnen um Ruhe zu bitten, stellte aber fest überhaupt keine Lust zu haben das Bett zu verlassen. Ein paar Minuten später legte sich der Lärm ohnehin von selbst. Ich schlief also ein.
Um Mitternacht erwachte ich wieder. Dies Mal brachte lautes Glockengeläut mich um meine Nachtruhe. Mir wurde ein bisschen mulmig, denn sonst hatte war von meiner Wohnung aus noch nie das Mitternachtsläuten zu hören gewesen. Eine größere Kirche war auch keine in der Nähe. Dadurch spukte mir noch zusätzlich die Melodie von „For whom the bell tolls“ im Kopf herum. Durch diesen Ohrwurm wurde ich wieder hellwach. Daher beschloss ich mir ein Glas Wasser aus der Küche zu holen um wieder herunter zu kommen. Zu faul das Licht einzuschalten tapste ich durch die Dunkelheit. Der Boden kam mir dabei seltsam glitschig vor, als hätte jemand, im Zweifel ich, eine größere Menge Flüssigkeit verschüttet. Schemenhaft erkannte ich die Umrisse des Pakets, das nun ohne Zweifel auf das Doppelte seiner ursprünglichen Größe gewachsen war. Ich musste wohl träumen, so etwas ging definitiv nicht. Allerdings veränderte sich das Päckchen dadurch nicht weiter, dass ich mir selbst in die Wange kniff. Nun deutlich beunruhigt begab ich mich in die Küche. Ein Glas darunter haltend drehte ich den Wasserhahn auf. Dabei meinte ich eine Frauenstimme leise flüstern zu hören: „Evelina, Evelina, wo bist du?“ Bei uns im Haus hatten wir alte Rohre, die hin und wieder komische Geräusche von sich gaben, allerdings ganze Worte waren mir dabei noch nicht untergekommen. Sobald ich den Wasserhahn zudrehte, verstummte die Stimme. Um zu überprüfen, ob es wirklich am Wasserhahn lag, ließ ich nochmals Wasser in die Spüle laufen „Evelina, Evelina, wo bist du?“, erklang das Flüstern wieder. Ich stellte das Wasser wieder aus.
Da ich es mittlerweile mit der Angst zu tun bekam, suchte ich an der Wand nach dem Lichtschalter. Nach kurzem Tasten fand ich den auch. In der Küche schien soweit alles in Ordnung. Erleichtert trank ich einen Schluck aus meinem Glas, der jedoch seltsam metallisch schmeckte. Ich warf einen Blick auf den Inhalt. Der imponierte blutrot. Erschrocken schüttete ich alles in der Spüle weg. Sobald ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, sah ich mir das Wasser aus dem Wasserhahn bei Licht an. Es war genauso blutrot wie das, was sich kurz vorher in meinem Glas befunden hatte. Leicht panisch schaute ich um mich. Aber zumindest dieses Phänomen meinte mein Gehirn mir logisch erklären zu können: Bei alten Rohren passierte es manchmal, dass Rost abgespült wurde, wodurch sich das Wasser verfärbte. Das musste es sein. Morgen jedenfalls würde ich mich bei meiner Vermieterin beschweren.
Vor dem Durchqueren des Wohnzimmers schaltete ich das Licht ein, denn im Dunkeln fürchtete ich mich gerade zu sehr. Der Boden war mittlerweile ekelhaft nass. Vom darüber Laufen bekam ich feuchte Socken. Es half nichts, darum musste ich mich kümmern, sonst war das schöne Parkett im Eimer. Aus der Speisekammer holte ich Lappen, Schrubber und Eimer. Ich hoffte bloß, dass die Pflegedienstleitung und meine Kollegen bei einem Rohrbruch in der Nacht Verständnis für verspätetes Erscheinen hatten. Einen Ort, wovon aus das Wasser ins Wohnzimmer sickerte, konnte ich beim besten Willen nicht ausmachen, aber ich war ja auch kein Experte. Den Notdienst durfte auch gleich rufen, sobald ich die gröbsten Schäden verhindert hatte. Mein verzweifelter Kampf mit Putzlumpen und Schrubber erwies sich allerdings als ziemlich aussichtslos. Mehrmals leerte ich den vollen Eimer aus, doch kaum zurück im Wohnzimmer war der Boden genauso nass wie zuvor. Das Päckchen für Evelina Schrad auf dem Tisch beachtete zunächst nicht, da mein Rettungsversuch für das Parkett mich zu sehr beschäftigte. Nach über einer Stunde des Zusammenwischens und Eimer Ausleerens ließ ich erschöpft den Schrubber sinken. Ich beschloss erst einmal den Notdienst zu verständigen, danach konnte ich mich weiter dem Wasser widmen. Also holte ich mein Handy aus dem Schlafzimmer. Mehrere Nummern versuchte ich abzutelefonieren, doch es war wie verhext. Immer war entweder besetzt, ich landete in gefühlt endlos langen Warteschleifen oder es existierte kein Anschluss unter dieser Nummer. Mittlerweile reichte das Wasser mir bis zu den Knöcheln. Genervt seufzte ich auf. In diesem Moment schaute ich zum Wohnzimmertisch hinüber. Das Paket hatte beängstigende Ausmaße angenommen. Auf etwa einen Meter schätzte ich die Länge seiner Kanten. Was zur Hölle passierte hier gerade? Am liebsten hätte ich direkt bei den Ghostbusters angerufen, nur leider war mir da keine Hotline bekannt. Währenddessen rann eine rote Flüssigkeit über die mir zugewandte Seite des Pakets. Das Herz raste mir bei diesem Anblick. Aus der Flüssigkeit formte sich vor meinen Augen ein roter Handabdruck.
Mir reichte es endgültig. In meiner Verzweiflung wählte ich die 112. Als ich das Freizeichen hörte, glaubte ich mich einem Ende dieses Albtraums nahe. Doch, falsch gedacht. Zutiefst erschrocken warf ich das Handy von mir, denn ein spitzes Schreien drang aus dem Lautsprecher. Sobald ich mich dem Handy wieder näherte, verebbte das Geschrei. Ein Wimmern und Weinen wurde daraus. Immer wieder hörte ich zwischen dem Heulen und Schluchzen den Namen Evelina heraus. Immer deutlicher war die Stimme zu vernehmen: „Evelina, was tust du mir an? Dafür wirst du bezahlen.“ Um zumindest davor ruhe zu haben, legte ich auf. Nachdem ich auch nicht mehr recht weiter wusste, suchte ich im Internet nach einer Evelina Schrad. Tatsächlich wurde ich schnell fündig in Form von mehreren ein paar Jahre alten Schlagzeilen der Lokalzeitung: „Stalking-Opfer tot aufgefunden – Warum haben die Behörden nicht eingegriffen?“ „Das Martyrium der Evelina S. – Der Paket-Stalker sie wieder gefunden“ „Wieso hilft mir niemand? – Evelina S. fühlt sich von der Polizei im Stich gelassen“ „Jeden Tag sind mehrere Pakete zu meiner Wohnung geschickt worden – Ein Stalking-Opfer bricht ihr Schweigen – Evelina S. fürchtet tagtäglich um ihr Leben“ Wer immer die grausamen Scherze mit mir trieb, glaubte wohl Evelina Schrad damit zu treffen, schloss ich daraus. Es gab für alles eine ganz natürliche Erklärung, mit diesem Gedanken versuchte ich mich zu beruhigen. Was da versuchte mich anstelle von Evelina Schrad in den Wahnsinn zu treiben, befand sich höchstwahrscheinlich in dem Paket, das schon wieder größer geworden war. Ich musste es bloß finden und ausschalten. Sobald ich mich darum gekümmert hatte, würde ich direkt zur Polizei fahren um Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Das Wasser im Wohnzimmer stand mit nun bis zu den Knien. Ich watete einmal hindurch, bewaffnete mich in der Küche mit dem größten Messer, das ich finden konnte. Dort war der Boden, obwohl die Tür vom Wohnzimmer in die Küche offen war, völlig trocken. Das Messer fest umklammernd stieg ich auf den Tisch. Mit ein paar beherzten Schnitten schlitzte ich das Klebeband auf. Danach atmete ich einmal tief durch. Vorsichtig klappte ich den Karton auf. Darin blickte ich trotz des hellen Lichts im Wohnzimmer in bodenlose Schwärze. Verwundert beugte ich mich darüber. Mit einer Hand griff ich hinein. Das Messer legte ich dabei aus der Hand. Ich erwartete irgendetwas zu tasten, daher suchte ich so das ganze Paket ab. Dabei verlor ich das Gleichgewicht, sodass ich nach vorne in das Paket hineinfiel.
Dunkelheit umfing mich. Sofort wollte ich wieder aufstehen, aber dabei stieß ich mir den Kopf an Pappe, die sich auch nicht wegklappen ließ. Egal wie ich es versuchte, ich schaffte es nicht den Karton von innen zu öffnen. Mit meinen Fäusten schlug ich gegen die Wände des Pakets in der Hoffnung ein Loch hinein zu reißen –ohne Erfolg. Der Pappkarton fühlte sich an wie eine steinerne Mauer. Wild ruderte ich mit Armen und Beinen, was natürlich nichts brachte. Das Paket gab einfach nicht nach. Ich hoffte bloß irgendwie bis zum nächsten Morgen ausharren zu können, denn wenn ich auf Station fehlte, würden meine Kollegen Nachforschungen anstellen, wo ich abgeblieben war. Falls ich längere Zeit nicht ans Telefon ging, würden sie vielleicht sogar sehr bald die Polizei rufen. Ich musste nur halbwegs ruhig durchhalten, denn wenn mir der Sauerstoff ausging und ich bewusstlos wurde, war das mein Tod. Meine eigenen Unterschenkel umgreifend kauerte ich mich zusammen. „Alles wird gut, sprach ich mir mantraartig selbst vor. Sobald sie mich freigeschnitten hatten, würde mir bis an mein Lebensende eine lustige Geschichte anhaften, über die ich in ein paar Jahren selbst herzlich lachen würde. „Flo, erinnerst du dich, wie wir dich aus der Kiste, in die du da hinein gestürzt bist, befreien mussten?“, klang es bereits in meinen Ohren auf der nächsten Weihnachtsfeier. Sogar der Gedanke an die Weihnachtsfeier mit unserer jedes Jahr viel zu betrunkenen Pflegedienstleitung, vor der mir sonst graute, erschien mir gerade zutiefst angenehm. Daher dachte eben konzentriert an die Weihnachtsfeier um mich irgendwie abzulenken. Dennoch fiel mir allmählich auf, dass die Wände des Kartons näher kamen. Hatte ich zuvor noch bequem Platz mit meinen Füßen gehabt, stieß ich jetzt mit meinen Zehen an. Mein Rücken wurde immer mehr nach vorne gedrückt. Auch den Kopf konnte ich nicht mehr heben, weil ich sonst an der Decke anschlug. Das Paket wurde langsam kleiner. Jetzt hielt ich es nicht mehr, ich wurde erst richtig panisch. So sehr es ging fuchtelte ich mit meinen Extremitäten in alle Richtungen, was mich angesichts des schrumpfenden Würfels in immer unbequemere Positionen brachte. So sehr ich mich dagegen spreizte, ich richtete nichts aus. Ob mit drücken, schlagen, dagegen anschreien, ich war immer völlig machtlos. Zusätzlich spürte ich, wie mein Gefängnis sich zu bewegen begann. Anscheinend schwamm es nur auf dem Wasser im Wohnzimmer. Meine Befreiungsversuche versetzten es in Drehung, wovon mir relativ bald schlecht wurde. Trotzdem kämpfte ich weiter, solange mein Körper die Kraft dazu hatte. Lange schaffte ich es nicht mehr, bevor ich vor Erschöpfung zusammenbrach.
Gute zwei Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden des Vormieters dieser Wohnung, klingelte der klein gewachsene, altmodisch gekleidete Postbote spät nach der Abenddämmerung an ihrer Wohnungstür. Sie öffnete ihm. Leicht verwirrt schaute sie den verhutzelten, alten Mann an, der ihr ein ungefähr zehn mal zehn Zentimeter großes Päckchen entgegen hielt, an. „Entschuldigung, wohnt hier eine Schrad, Evelina?“, fragte er sie mir knarzender Stimme.