Stichwort: Sternstunde vom 23.11.2021
Dieser Text ist all jenen Patient*innen gewidmet, die im Rahmen der Vorlesungsreihe Humangenetik ihre ganz persönliche Geschichte mit uns geteilt haben. Danke für diese berührenden Einblicke, die uns viel Wichtigeres als bloßes Faktenwissen gelehrt haben.
Das Marfan-Syndrom ist eine Erkrankung des Bindegewebes, die sich an verschiedenen Stellen des Körpers bemerkbar macht: Gelenken, Knochen, Augen, Aorta, Herzklappen und Lunge unter anderem. Überall führt ein fehlerhafter Aufbau des Bindegewebes zu dessen Instabilität. Wie stark die Organe betroffen sind, variiert stark. Typischerweise sind Betroffene eher groß und schlank, doch auch jeder andere Körperbau kann vorkommen. Um es mit der Worten einer Patientin auszudrücken: „Jeder hat sein eigenes Marfan“ Unter guter ärztlicher, vor allem kardiologischer Betreuung ist die Lebenserwartung nahezu normal. Zu einer vorzeitigen Sterblichkeit kommt es vor allem, wenn das Marfan-Syndrom nicht diagnostiziert und richtig behandelt worden ist. Das Marfan-Sydnrom tritt sowohl sporadisch als Neumutation als auch autosomal-dominant vererbt auf.
„Sie war ein strahlender Stern, der uns viel zu kurz erhalten geblieben ist. Heute nehmen wir Abschied von Estelle Weidenbaum“, eröffnete der Pfarrer mit bedeutungsschwerem Tonfall das Requiem, „In drei Tagen wäre sie zwanzig Jahre alt geworden.“ Bei diesen Worten liefen beiden Eltern in der ersten Reihe Tränen die Wangen hinab. Die Mutter konnte nicht anders als sich am Vater festzuhalten. Auch Estelles kleine Schwester Louise versuchte sie zu stützen, doch sie selbst vermochte kaum sich auf den Beinen zu halten. Am liebsten hätte die Mutter laut geweint, allerdings beherrschte sie sich angesichts der brechend vollen Kirche. Obwohl alles so schnell gegangen war, hatte kein noch so ferner Verwandter den weiten Weg gescheut. Nicht wenige von Estelles Freunden, Kollegen, Lehrern und anderen Wegbegleitern hatten gar keinen Sitzplatz mehr bekommen. Den Gottesdienst verfolgte der Vater wie in Trance. Nur einzelne Satzfetzen drangen überhaupt zu ihm durch. Irgendeine Bibelstelle wurde gelesen, die seine Frau ausgesucht hatte. Sie wäre irgendwie tröstlich, hatte sie gemeint, doch er verstand kein Wort. Dazwischen sang der Chor Teile der Schubert-Messe und Estelles Lieblingslieder. Ihr Musikgeschmack war sehr breit gefächert gewesen, daher hatte man sich auf zum Anlass Passendes beschränkt. Die Auswahl verfälschte ihren Charakter, fand Louise. Ein so trauriger Mensch war ihre Schwester niemals gewesen. Estelle hatte stets den Ausdruck der großen Gefühle geliebt, in jedweder Hinsicht. Je mehr Leidenschaft Musik in sich trug, desto mehr war Estelle ihr zugeneigt. Sie hörte die Musik dann nicht nur, sie verschmolz regelrecht mit ihr. Vielleicht hatte ihre überaus außergewöhnliche Begabung daher gerührt.
„Schon früh hatte Estelle große Freude am Tanzen, vor allem am klassischen Ballett. Glauben wir ihren Eltern hat sie kaum laufen können, da hat sie davon geträumt eine Ballerina zu sein. Die Verbindung zwischen der Musik und ihr war schon immer eine Besondere“, begann der Pfarrer den Lebenslauf, den die Familie geschrieben hatte, vorzulesen. Estelle hatte Noten lesen können, bevor sie ihren eigenen Namen schreiben konnte, erinnerte sich ihr Vater. Sie hatte nicht nur ein wenig an seinem Klavier herumgeklimpert, wie andere Kinder das vielleicht getan hätten, sondern das System der Harmonie völlig intuitiv begriffen. Ihr Vater hatte ihr ein wenig nur erklären müssen, bis ihre schon damals ungewöhnlich langen, schlanken Finger von ganz alleine die richtigen Tasten fanden. Die Form ihrer Hände erleichterte es ihr ungemein auch schwierige Akkorde zu greifen. Allerdings kamen ihr die Melodien immer unvollständig vor. Für sie gehörten Melodie und Bewegung untrennbar zueinander. Das Sitzen am Klavier frustrierte sie deshalb bald. Aus diesem Grund kam ihrer Mutter die Idee sie zum Kinderballett anzumelden.
Vom ersten Tag an hatte Estelle den klassischen Tanz geliebt. Während andere Kinder des Öfteren die Hobbies wechselten, blieb Estelle alleine dem Ballett treu. Sogar zuhause in ihrem Zimmer übte in nahezu jeder freien Minute auf der Suche nach der perfekten Verbindung zwischen ihrem Körper und der Musik. Während es sonst so wirkte, als schwebte sie durch eine Welt, in die sie nicht wirklich gehörte, war Estelle, wenn sie tanzte immer ganz bei sich. Mit ihrer zierlichen Statur hatte sie immer so zerbrechlich gewirkt. „Papa, schau her, ich kann fliegen“, mit diesem Worten hatte sie ihm stolz ihre neuesten Pirouetten und Sprünge präsentiert. Ihrer Ballettlehrerin blieb ihre besondere Begabung natürlich nicht verborgen: „Dieses Kind ist zum Tanzen geboren. Ihre Körperbeherrschung ist außergewöhnlich gut für ihr Alter. Zudem, Sie sehen ja selbst, wie beweglich Estelle ist. Wir können nur hoffen, dass sie ihre Proportionen behält. Dazu kommt ihr unglaublich feines Gefühl für Musik und Ästhetik. In meiner gesamten Karriere habe ich nur wenige solch talentierte Kinder gesehen. Sie sollten darüber nachdenken Estelle zur Aufnahmeprüfung der Ballettakademie anzumelden.“
Nach längerer Diskussion hatten sie sich schließlich darauf geeinigt Estelle einen Versuch zu geben. Ihre Lehrerin erklärte sich dazu bereit Estelle optimal vorzubereiten. Das viele Training dafür gefiel Estelle. Hätten ihre Eltern sie nicht abgehalten, sie hätte getanzt, bis sie vor Erschöpfung zusammen gebrochen wäre. Louise erinnerte sich nicht gerne an diese Zeit. Alles drehte sich nur um Estelle, für die ihre Eltern Himmel und Hölle in Bewegung setzten, damit sie eine realistische Chance hatte an der Ballettakademie aufgenommen zu werden. Louises Schwierigkeiten Lesen und Schreiben zu lernen rückten dabei in den Hintergrund. In ihrer Klasse wurde Louise ständig damit aufgezogen, dass es immer noch nicht schaffte die Buchstaben in die richtige Reihenfolge zu bringen. Da sie sich nicht anders zu helfen wusste, schlug sie nach ihren Mitschülern, die sie so ärgerten. Fast jede Woche brach Louise eine Schlägerei vom Zaun. Ihre Lehrer wussten das wilde Kind kaum zu bändigen und die Eltern waren mit Estelle beschäftigt. „Schicken Sie das Mädchen am besten ins Judo, da kann sie mit ihren Kräften etwas Brauchbares anfangen“, schlug Louises Sportlehrer schließlich vor. Nachdem den Eltern soweit nichts Besseres einfiel, meldeten sie Louise im nächstbesten Judoverein an. Hier hatte Louise zumindest einen Weg ihre Wut auf verträgliche Weise loszuwerden. Was Bewegungen anging, war Louise ähnlich gelehrig wie Estelle. Mit Feuereifer lernte sie um möglichst schnell die nächste Gürtelprüfung ablegen zu können, gewann bereits erste Wettkämpfe. Allerdings fiel das ihren Eltern nicht wirklich auf, denn sie waren völlig von Estelles großem Traum eingenommen. Damals verstand Louise nicht wirklich, was Estelle so am Ballett begeisterte. Sie ärgerte sich eher darüber, dass Estelle nicht zu ihr ins Judo wollte, weil das laut ihrer Ballettlehrerin zu gefährlich war.
„Wenn man sie tanzen sieht, meint man eine Sternenprinzessin zu sehen, so grazil wie sie sich bewegt. Federleicht schwebt sie über den Boden, dabei hat sie eine unglaubliche Strahlkraft. Dieses Mädchen ist nicht von dieser Welt. Mit ein wenig Glück wird sie der Kunst noch so einige Sternstunden schenken“, so lautete das begeisterte Urteil der Jury, bei der Entscheidung über die Aufnahme an der Ballettakademie. Obwohl sie sich alle freuten, dass Estelle es geschafft hatte, wurde es jetzt für die Familie erst richtig schwierig. Estelle musste ins zwei Stunden mit dem Auto entfernte Internat ziehen. Louise hätte ihre Schwester am liebsten niemals gehen lassen. So schwer den Eltern der Abschied fiel, sie wollten sich Estelle nicht in den Weg stellen. Jeden Abend telefonierte Estelle mit ihrer Familie, weinte dabei viel. Sie erzählte von strengen Lehrern, die so gar nicht waren, wie ihre geliebte Ballettlehrerin. Ständig wurde sie für die kleinsten Fehler kritisiert. Täglich wurden alle Mädchen vor der versammelten Klasse gewogen. Wer zugenommen hatte, wurde unmissverständlich dazu verdonnert weniger zu essen. Estelle hatte meistens Glück. Sie blieb nahezu mühelos dünn. Dafür zogen ihre Mitschülerinnen und Lehrer regelmäßig über ihre ungewöhnlich langen Finger her. Ihre Hände wären zu hässlich um eine gute Ballerina sein zu können, wurde ihr gesagt. „Am liebsten würde ich mir die Finger mit dem Messer kurz schneiden, damit ich endlich schöne Hände habe“, vor lauter Schluchzen war Estelle kaum zu verstehen gewesen. Verzweifelt versuchten die Eltern sie damit zu trösten, wie gut ihre Noten doch waren und dass die anderen Mädchen nur neidisch waren. Tatsächlich waren Estelles Leistungen hervorragend, trotz ihrer vorgeblich zu groß geratenen Hände. Allerdings machte sie das erst recht zur Zielscheibe ihrer Mitschülerinnen. Sobald sie gelobt wurde, musste sie alles daran setzen den anderen Mädchen zu entkommen, die versuchten sie so zu schubsen, dass sie sich verletzte. Vor allem vor dem Winter fürchtete sie sich, denn ein Unfall auf Glatteis war eine willkommen Entschuldigung für einen unglücklichen Sturz. Immer wieder fand Estelle Reisnägel und Stecknadeln in ihren Schuhen. Noch schlimmer wurde es, wenn Estelle diese Gemeinheiten eben nicht rechtzeitig bemerkte. Unter den strengen Augen der Lehrer wagte sie es nicht im Unterricht die Schuhe auszuziehen. So tanzte sie, während sich die Nadeln in ihre Füße bohrten. Im Tanz selbst spürte sie das nicht, erst wenn sie danach ihre blutigen Schuhe auszog, schmerzten ihre Füße höllisch. Ohne einen Ton von sich zu geben wusch sie sich nach der Stunde die Wunden aus und versorgte sie so gut sie es konnte mit Verband und Pflaster. Danach widmete ausgiebig ihren Strümpfen, damit sie keinen Ärger bekam, weil ihre Strümpfe schon wieder dreckig waren. Die Wäscherei sah es nämlich nicht gerne, wenn die Mädchen zu oft neue Strümpfe brauchten. Sie wäre sehr unordentlich bekam Estelle deshalb oft zu hören. Das alles erzählte sie nur ihrer Familie, denn von den Lehrern war keine Hilfe zu erwarten Trotz allem bat Estelle jedes Mal ihre Eltern inständig darum an der Schule bleiben zu dürfen, weil sie nirgendwo sonst so viel tanzen konnte.
Nachdem sie von dieser Schule nicht wegwollte, fasste Louise einen Plan um ihrer Schwester zu helfen. Der Haken an der Sache war nur, dafür musste sie es schafften Estelle einen Brief zu schreiben, dem am Telefon war die Gefahr zu groß, dass ihre Eltern sie hörten. Überhaupt nur einen Satz zu Papier zu bringen strengte Louise fürchterlich an, doch für Estelle wollte Louise es unbedingt schaffen einen kompletten Brief zustande zu bringen. Sie verwarf mehrere Versuche bis sie nach ein paar Nachmittagen Arbeit zufrieden war. Als Louise den fertig verpackten Brief ihren Eltern präsentierte, waren die so begeistert ihrer Idee, dass sie nicht weiter nach dem Inhalt fragten. Louise erinnerte sich noch genau an jedes Wort, das sie damals Estelle geschrieben hatte. „Ich lasse nicht zu, dass sie dir weiter wehtun. Sag, mir, wer es war. Um die kümmere ich mich. Du musst mir nur helfen nah genug an sie heran zu kommen“, hatte sie Estelle darin angeboten. Daraus entwickelte sich ein intensiver Briefwechsel, der bis zu Estelles Tod angedauert hatte. Kurz vor der Not-Operation, die Estelles Leben hätte retten sollen, hatte sie Louise die Schlüssel zu dem Kästchen gegeben, in dem sie Louises Briefe aufbewahrt hatte. Dadurch, dass sie ihre Schwester beschützen wollte, hatte Louise allmählich immer besser schreiben gelernt. Kurz vor der Weihnachtsaufführung hatten sie damals Louises ursprünglichen Plan umgesetzt. Estelle hatte natürlich die Rolle der Klara bekommen. Da sie ein wenig aufgeregt war, erbat sie sich von den Lehrern die Erlaubnis, dass ihre Schwester vor dem großen Auftritt in die Garderobe kommen durfte. Tatsächlich fürchtete Estelle sich vor allem vor den Mädchen, die nur Schneeflocken tanzten, sie würden ihr aus Neid etwas antun. Daher war sie sehr froh darüber Louise in ihrer Nähe zu haben. Wie eine Leibwächterin wich Louise nicht von Estelles Seite. Da Estelle ihr die Mädchen beschrieben hatte, unter denen sie besonders zu leiden, wusste Louise, wen sie besonders gut im Auge behalten musste. Eine von ihnen wagte es allerdings lautstark über Louise zu lästern: „Wer hat eigentlich diese Trampel hier eingeladen? Allein wenn ich sie anschaue wird meine Haltung schlechter. Was, das ist die Schwester von Estelle? Warum wundert mich das überhaupt nicht?“ Das hätte sie besser nicht getan. Ohne darauf zu achten, wer sie gerade alles sah, stürzte Louise auf das Mädchen zu und beförderte sie mit einem gekonnten Tai O Toshi zu Boden. Natürlich fing Louise ihren Fall ab, sodass das Mädchen mit einem gehörigen Schrecken davon kam. „Die nächste, die irgendwas gegen Estelle sagt, fliegt nicht mehr ganz so sanft“, mit verschränkten Armen stellte Louise sich neben Estelle. Danach traute sich keine mehr irgendetwas zu sagen.
Für Estelle wurde die folgende Aufführung des Nussknackers zum vollen Erfolg. Das Mädchen hingegen, das Louise zuvor geworfen hatte, war davon noch so durcheinander, dass sie sich mehrmals vertanzte. Von Estelle erfuhr Louise später, wie stark sich diese kleinen Fehler, die Louise nicht einmal aufgefallen waren, sich überhaupt ausgewirkt hatten. In den folgenden Monaten machten die Lehrer das Mädchen für das Ruinieren des Weihnachtsaufführung nieder, dass sie irgendwann überhaupt nicht mehr tanzen konnte, weil ihre Angst zu groß war. Schließlich verließ sie die Schule. Da tat es Louise leid, was sie angerichtet hatte. „Na ja, vielleicht ist es besser für sie. Sie hat eh nicht zu den Besten gehört, war aber besonders gut darin die Anderen gegen mich aufzuhetzen. Sie wollte bloß davon ablenken, wie knapp es für sie mit den Prüfungen geworden wäre. An einer normalen Schule wird es ihr ohnehin besser gehen, denn sie ist ja nicht dumm. Sie hatte nur ein bisschen zu viel Hoffnung eine große Tänzerin zu werden“, damit versuchte Estelle Louise die Schuldgefühle zu nehmen. Für Louise hatte der Vorfall jedoch auch in der Hinsicht Konsequenzen, dass ihr bis auf Weiteres verboten wurde, Estelle auf dem Gelände der Akademie zu besuchen. Der Briefwechsel blieb den Schwestern glücklicherweise erlaubt. So konnte Louise egal, was passierte, immer für Estelle da sein. Wenn Estelle an der Akademie gerade eine harte Zeit durchmachte, gaben Louises Briefe ihr die Kraft durchzuhalten. Allein das Wissen, dass Louise an sie dachte, reichte Estelle schon um stark zu bleiben, selbst wenn sie physisch nicht anwesend war. In den folgenden Jahren avancierte Estelle zum Wunderkind der Akademie, wodurch sie an der Schule noch einsamer als zuvor wurde. Je mehr sie ihre Lehrer begeisterte, desto mehr Hass schlug Estelle entgegen. Nur Louise konnte Estelle überhaupt vertrauen.
So erfuhr sie sogar vor ihren Eltern von Estelles Diagnose. Der neue Schularzt hatte in Estelles Klasse die jährliche Gesundheitsuntersuchung durchgeführt, dabei hatte er den Verdacht auf ein Marfan-Syndrom geäußert. „Er will einen Gentest mit mir machen. Dafür müssen Mama und Papa zu ihm kommen und unterschreiben, dass er das darf. Marfan oder so ähnlich heißt die Krankheit, von der meint, dass ich sie habe. Was das ist, weiß ich nicht. Ich hoffe einfach, dass ich gesund bin. Er hat mich untersucht und Punkte zusammengezählt. Dann hat er gemeint, laut den Punkten bin ich krank. Aber er muss erst mit Mama und Papa reden“, durch diesen Brief hatte Louise von Estelles Marfan-Syndrom gewusst, noch bevor der Arzt den Eltern geraten hatte Estelle humangenetisch testen zu lassen, denn so lange es ging, hatte Estelle vermieden mit den Eltern zu reden. Sie hatte große Angst aufgrund der Krankheit die Schule verlassen zu müssen. Das Ergebnis der humangenetischen Untersuchung brachte schließlich die Gewissheit, dass Estelle am Marfan-Syndrom litt. „Ihre Tochter ist ungewöhnlich dünn, sogar für eine Ballerina. Sie mag kleiner sein, als für das Marfan-Syndrom typisch, doch sonst entsprechen ihre Proportionen, dem was ich hierbei erwarten würde. Lange Extremitäten, überbewegliche Gelenke, die –verzeihen Sie mir den Ausdruck- spinnenartigen Finger, das passt alles. Hinzu kommt, dass Estelle stark kurzsichtig ist“, ihr Vater konnte sich noch genau an den Wortlaut der Diagnosestellung in der Praxis für Humangenetik erinnern, „Im EKG hat sich ein Normalbefund ergeben. Oft ist das Marfan-Syndrom mit einem Long-QT-Syndrom vergesellschaftet, was bei Estelle zumindest noch nicht der Fall zu sein scheint. Trotzdem sollte das EKG regelmäßig kontrolliert werden. Ein Ultraschall der Aorta und der großen Gefäße war ebenfalls unauffällig. Aber auch das müssen wir dringend im Auge behalten, da es beim Marfan-Syndrom zu Aussackungen oder zur Dissektion der Aorta kommen kann. Wird das zu spät bemerkt, kann es gefährlich werden. Sie haben ja erzählt, Estelle ginge auf eine Ballettakademie. Eigentlich sollen Marfan-Patienten keinen Leistungssport betreiben, aufgrund der Blutdruckspitzen, welche die großen Gefäße in Mitleidenschaft ziehen können. Allerdings, da es Estelle mit dem vielen Training soweit gut geht, kann sie unter ärztlicher Aufsicht den Besuch dieser Schule fortführen. Sollten sich allerdings negative Auswirkungen ergeben, rate ich dann dringend dazu die Ballettausbildung abzubrechen.“
Die Ballettausbildung abbrechen, das durfte auf keinen Fall passieren, auch mit der Krankheit nicht. Überhaupt konnte Estelle sich gar nicht vorstellen etwas anderes zu tun außer zu tanzen. Das Ballett war ihre Bestimmung. Wenn sie die verlor, hatte sie nichts mehr. Estelle willigte also ein sich regelmäßig untersuchen zu lassen, damit ihre Eltern ihr erlaubten die Ballettakademie weiterhin zu besuchen. An der Schule trainierte sie umso härter um allen zu beweisen, dass sie stark genug war um eine gute Tänzerin zu werden. Ihr ganzer Körper schmerzte, doch das hielt sie nicht ab. Durch ihre einzigartige Begabung zahlte sich ihr Fleiß bald schon aus. Durch die Aufführungen ihrer Schule wurden einige namhafte Choreographen auf die aufmerksam, die ihr anboten in den Ferien mit im Corps de Ballet zu tanzen um erste Bühnenerfahrung zu sammeln. Neben der Schule übte sie also noch zusätzlich für ihre Auftritte in den Ferien. Regelmäßig nahm sie ihre Fortschritte auf Video auf, damit die Choreographen beurteilen konnten, ob ihre Schritte und ihre Bewegungen soweit passten. An den Wochenenden vor den Ferien brauchte Estelle dann nur ein paar Proben um sich perfekt in den Corps den Ballet einzufügen. Zu Estelles großer Verwunderung reagierten die erwachsenen Tänzerinnen der Kompanie zumeist neidlos beeindruckt von ihrem Talent. Für Louise waren die Ferien die schönste Zeit seit Langem. Durch das viele Üben hatte Estelle es nicht einmal mehr geschafft ihr regelmäßig Briefe zu schreiben. Dafür konnte Louise sie in den Ferien zu all ihren Auftritten begleiten. Wenn Estelle doch einmal etwas nervös war, kümmerte Louise sich um sie. Das machte sie mehr als gerne, denn so konnte sie endlich wieder viel Zeit mit ihrer Schwester verbringen.
So sehr sie sich darüber freute, Louise merkte deutlich, wie sehr Estelle im Stillen litt. Sie fürchtete sich davor, wie ihr Körper sich gerade veränderte. Hinzu kam, dass niemand wusste, wie sich das Marfan-Syndrom auf ihre Entwicklung auswirkte. Es bestand die Möglichkeit, dass sie in ein paar Jahren zu groß war um von einer Ballettkompanie angenommen zu werden. Passte sie nicht mehr ins Corps de Ballet waren all ihre Möglichkeiten sich zur Primaballerina hochzuarbeiten dahin. Aus Angst zu sehr zu wachsen oder dick zu werden aß Estelle so wenig wie sie konnte. Louise erinnerte sich gut daran wie Estelle ihr erzählt hatte, dass sie seit Monaten ihre Periode nicht mehr bekam. Darüber war Estelle nicht einmal so unglücklich, denn sie hatte die Regelblutung beim Training immer sehr unpraktisch gefunden. Mit der Drohung sie sonst zu werfen bekam Louise Estelle zumindest dazu ein wenig mehr zu essen. Auf die Eltern hörte Estelle dabei schon lange nicht mehr. Da Estelle Louise absolut vertraute, gelang es Louise immer wieder Estelle mit kleinen Tricks mehr Kalorien unterzujubeln, als sie eigentlich zu sich nehmen wollte. Mal vertauschte sie die Kaffeemilch gegen Fetthaltigere aus, mischte ihr Zucker in den Joghurt, betonte Estelle gegenüber wie gesund es sei viele Nüsse zu essen. Natürlich merkte Estelle das, doch Louise verzieh sie das. Zum Arzt wegen ihres Marfan-Syndroms ging Estelle auch nur, wenn Louise ihr das sagte. Zu sehr fürchtete Estelle sich sonst davor, ihr könnte das Ballett verboten werden. Allzu bereitwillig setzte Estelle für die wenigen Sternstunden auf der Bühne ihren irdischen Körper aufs Spiel.
„ ‚Wenn sie tanzt, verwandelt sie dieses Mädchen in ein himmlisches Geschöpf. Sie ist ein Wunderkind‘, das hat einmal der Choreograph über Estelle gesagt, unter dem sie bis zu ihrem Tod getanzt hat. Mit bereits 16 Jahren war Estelle erst kurz nach ihrem Realschulabschluss Primaballerina dieses Ensembles, mit sie ihre größten Erfolge gefeiert hat“, mit diesen Worten blätterte der Pfarrer die Seiten von Estelles Lebenslauf um. Das unausweichliche Ende rückte immer näher. „Klassischen Stücken wie Giselle, La Sylphide oder La Esmeralda hat Estelle auf einzigartige Weise neues Leben eingehaucht. Internationale Bekanntheit hat Estelle in der Rolle der Sternenprinzessin erlangt, die der Choreograph ihres Ensembles eigens für sie konzipiert hat. Bei der Premiere ist Lang Lang persönlich am Klavier gesessen. Auf der ganzen Welt, in Paris, Moskau und New York um nur ein paar Beispiele zu nennen hat Estelle danach Gastspiele als Sternenprinzessin gegeben. Selten hat eine junge Tänzerin die Menschen so sehr begeistert“, der Pfarrer legte eine bedeutungsschwere Pause ein. Durch die Sternenprinzessin war Estelle über die Grenzen des üblichen Klientels für Ballett hinaus bekannt geworden. „Eine zukünftige Primaballerina assoluta“ „In natürlicher Grandezza vereint sie perfekte Technik und hervorragende Ausdrucksstärke.“ „Solche Sternstunden hat die Kunst schon lange nicht mehr erlebt“ So schrieben die Zeitungen über Estelle. Von ihren um ihre Gesundheit besorgten Eltern entfremdete Estelle sich derweil immer mehr. Das viele Reisen, dazu das harte Training und die anstrengenden Auftritte setzte Estelle sichtlich zu. Ihre Kontrolltermine beim Arzt nahm Estelle nur noch vereinzelt wahr, zumeist, weil ihr schlicht die Zeit fehlte. Allein Louise gegenüber gab sie zu, dass die Ärzte ihr dringend dazu rieten die Belastung ihres Körpers zu reduzieren, sonst drohte ihr eine Schädigung ihres ohnehin anfälligen Gefäßsystems. „Ohne zu tanzen kann und will ich nicht leben. Ich habe hart dafür gekämpft so weit zu kommen. Wenn ich durch das Ballett zugrunde gehen muss, dann ist es so“, hatte Estelle dazu nur gemeint. Louise wusste genau, dass es keinen Zweck hatte, Estelle zu widersprechen. Dennoch versuchte Louise zumindest das Schlimmste zu verhindern, denn zumindest manchmal hörte Estelle auf sie.
Estelle tanzte am Abgrund, das war ihr vollauf bewusst. Obwohl ihr schon öfter von medizinischer Seite der baldige Zusammenbruch prophezeit worden war, hielt sie sich tapfer. Fast drei Jahre lang ging alles gut. Allerdings merkte Louise, dass auch sie allmählich immer weniger zu Estelle durchdrang. „Ich soll nicht mehr tanzen, weil sie bei mir ein rasch wachsendes Aortenaneurysma gesehen habe. Stattdessen wollen sie mich operieren, wodurch ich erst einmal ausfalle. Ich gehe wirklich nie wieder zum Arzt. Ich kann doch nicht tagelang im Krankenhaus liegen, wo ich mich nicht einmal ordentlich dehnen kann“, bei diesem Anruf ahnte Louise bereits Böses. Alles gute Zureden half nichts, Estelle ließ sich nicht einmal davon überzeugen, sich eine zweite Meinung einzuholen. Ein paar Monate später kehrte Estelle zurück in die Heimatstadt ihrer Kompanie. Bei der dortigen Abschlussvorstellung ihrer Welttournee als Sternenprinzessin saßen Louise und ihre Eltern im Publikum. Für Estelle hatten sie Blumen und Geschenke dabei um sie zuhause gebührend zu begrüßen. Wirklich von Angesicht zu Angesicht hatten sie Estelle die letzten drei Jahre kaum gesehen. Sogar Louise hatte nicht oft geschafft sie zu besuchen, weil sie mittlerweile in die Oberstufe ging und dementsprechend viel lernen musste. Wie immer riss Estelle das das Publikum durch ihre Darbietung förmlich mit. Von der scheiternden Liebe der Sternenprinzessin zu einem sterblichen Menschen bis hin zu ihrem Tod aus gebrochenem Herzen litten die Zuschauer mit ihr. An jenem Abend tanzte Estelle auf unendlich traurige Art besonders schön. Louise schien es beinahe als rannen ihr Tränen die Wangen hinab. Estelle war einfach komplett in ihre Rolle versunken, meinte Louise. Nach der letzten Szene brachen die Leute in tosenden Applaus aus. Nicht wenige hatten während der Vorführung selbst geweint. Estelle lag währenddessen regungslos in der Pose der toten Sternenprinzessin auf der Bühne. Erst viel zu spät bemerkte Estelles Familie inmitten der Standing Ovations, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Sie stürzten zu ihr, versuchten ihr zu helfen. Louise rief den Krankenwagen. Tatsächlich erreichte Estelle die Klinik noch lebend. Ihr Bewusstsein kehrte sogar kurzzeitig zurück, sodass sie Louise den Schlüssel zu dem Kästchen übergeben konnte, indem sie die gesammelten Briefe ihrer Schwester aufbewahrte. Anscheinend ahnte Estelle bereits, dass sie nicht überleben würde. Sobald wie möglich wurde Estelle in den OP gefahren. Stundenlang kämpften die Herzchirurginnen um Estelle, doch ohne Erfolg.
„Ihre Tochter hat eine Aortendissektion Typ Stanford A erlitten, was einen lebensbedrohlichen Notfall darstellt. Auch bei sofortiger Operation gelingt die Rettung des Patienten nicht immer. Leider hat Estelle bedingt durch den Blutverlust einen Volumenmangelschock erlitten, der schließlich zum Tod geführt hat“, mit diesen Worten hatte die Operateurin dem Vater erklärt, was Estelle geschehen war, „Aus der Vorgeschichte ergibt sich, dass Estelle ein Marfan-Syndrom hatte, das nicht adäquat behandelt worden ist. Daher erklärt sich höchstwahrscheinlich die Dissektion in so jungem Alter.“ Zur Sicherung dieses Verdachts war an Estelle eine Autopsie durchgeführt worden, welche die Theorie der Chirurgin bestätigte. Schließlich wurde die Leiche zur Bestattung freigegeben. Louise versuchte ihre Eltern bei der Organisation der Beerdigung zu helfen so gut es ging, doch sie wusste selbst nicht, was mit ihr werden sollte, jetzt wo Estelle nicht mehr lebte. „Ich war doch immer dafür da dich zu beschützen“, flüsterte Louise leise in der Kirche vor sich hin, „Bitte vergib mir, dass ich es nicht geschafft habe.“ Ihre Mutter warf Louise einen verwirrten Blick zu. „Estelle mag von uns gegangen sein, doch die vielen Sternstunden der Kunst, die sie uns hinterlassen hat, haben sie unsterblich gemacht. Gott, der Herr, wird ihrer Seele den ewigen Frieden schenken, hier auf Erden wird uns eine zutiefst außergewöhnliche Künstlerin in Erinnerung bleiben. Sie war wie ein strahlender Stern, dessen Licht allzu kurz über uns geleuchtet hat. Ihr Lebenslicht mag verloschen sein, aber beim Herrn wird ihr das ewige Licht leuchten. Wir halten nun eine kurze Gebetsstille, in der wir Estelle gedenken, uns an sie erinnern und unsere persönlichen Anliegen zu Gott tragen. Dazu stehen wir auf“, damit beschloss der Pfarrer Estelles Lebenslauf. Die vielen Bilder von Estelles Auftritten waren um die Welt gegangen, wodurch sie in gewisser Weise weiterlebte, stellte Louise fest. Was Estelle den Menschen durch ihre einzigartige Begabung geschenkt hatte bestand auch nach ihrem Tod fort. Estelles Gedächtnis zu wahren würde nun Louises Aufgabe sein. Dieser Gedanke gab Louise Kraft, als Zeit wurde an der Seite ihrer Eltern Estelles Sarg zu folgen.