Stichwort: Stift, vom 10.08.2021
„Einen Menschen lernt man erst richtig kennen, wenn man ihn zeichnet“, so hatte sie einmal die Frage beantwortet, wo sich denn am stärksten äußerte, wie ein Mensch wirklich war. Mit einer guten Freundin hatte sie an jenem Abend bei einem Glas Wein über dieses und jenes, die Liebe und das Leben philosophiert. „Aber kennst du mich dann überhaupt, denn du hast mich ja noch nie gezeichnet?“, hatte die Freundin sie daraufhin gefragt, „Würdest du mich zeichnen? Ich wäre sehr gespannt darauf, ob du mich danach anders siehst.“
Sie zögerte ein wenig. Obwohl sie Christine schon seit der Schulzeit kannte, wusste diese nicht welcher Natur ihre Kunstwerke waren. In vielerlei Hinsicht waren sie nach dem Abitur getrennte Wege gegangen, dennoch verstanden sie sich weiterhin sehr gut. Christine hatte nach einem freiwilligen sozialen Jahr begonnen soziale Arbeit zu studieren, dabei ihren jetzigen Ehemann kennen gelernt, ihren Master gemacht, eine Weile gearbeitet, im Abstand von den pädagogisch wertvollen drei Jahren zwei Kinder bekommen und plante gerade ihren beruflichen Wiedereinstieg. Sie hingegen hatte zunächst nicht wirklich gewusst, wo sie hinwollte. Diverse Praktika, ein Jahr Work and Travel und das Erlernen von Yoga in mehreren indischen Tempeln hatten bei Livia nicht zur gewünschten Erleuchtung geführt. Mehr zum Spaß hatte sie sich an der Kunsthochschule beworben, denn gezeichnet hatte sie schon immer gerne. Ihre Kunstlehrer hatten ihr zwar eine gewisse Begabung attestiert, aber von diesem Weg angesichts der Konkurrenz eher abgeraten. Die Wahrscheinlichkeit angenommen zu werden wäre trotz ihres überragenden Gespürs für ansprechende Bildkomposition doch ziemlich gering. Ein Lehrer hatte es einmal so ausgedrückt, dass die Bilder ihrer Mitschüler zumeist dem Klang des hiesigen Schulorchesters entsprächen, das beileibe kein schlechtes Niveau hatte und bereits mehrfach Preise gewonnen hatte, während die ihren mit einem ausgebildeten Philharmonieorchester vergleichbar wären. Doch selbst innerhalb der Musiker, die befähigt waren in einem solchen Orchester zu spielen, war den Konkurrenzkampf weiterhin so groß, dass es nur Wenige an die Spitze schafften. Auch ein gewisser Trotz ihren alten Lehrern gegenüber hatte Livia dazu bewogen es zu versuchen. Tatsächlich wurde sie ohne warten zu müssen angenommen. Die auswählenden Professoren sollten sich bezüglich ihrer Eignung nicht täuschen, denn im Studium blühte sie erst richtig auf. Anfangs beinahe monatlich verbesserte sich ihr Zeichenstil, so viel übte sie. Nach einem Abschluss als Beste ihres Semesters arbeitete sie nun als freischaffende Künstlerin, die solange sie sich nicht allzu oft anspruchsvollere Wünsche erfüllen wollte, bequem davon leben konnte. In einer kleinen Nebengasse in der Altstadt hatte sie ihr Atelier, im Stock darüber ihre Wohnung. Christine hatte sie natürlich auch dort schon mehrmals besucht, aber von Berufs wegen angefertigte Zeichnungen hatte sie bisher nie gezeigt bekommen. Sie kannte nicht einmal das Pseudonym unter dem die Livia arbeitete. Danach hatte sie auch nie gefragt, warum auch, wenn sie den echten Namen wusste. In ihren jeweils eigenen Leben hatte sich viel verändert, allerdings wann immer sie sich trafen, kam es ihnen vor, als hätten sie gestern erst Abitur gemacht.
Das liebe Mädchen von damals kümmerte sich rührend um sozial benachteiligte Menschen und die eigenen Familie. Ihr Charakter hatte sich nicht verändert, bloß neue Ausdrucksformen gefunden. In Livia sah sie weiterhin die stille, vor seltsamen Ideen, die sie nur mit ihr teilte, überquellende Schulfreundin, die bloß beim Zeichnen wirklich glücklich war. Gemeinsam hatten sie viel Verrücktes erlebt, denn auf der Suche nach Inspiration für neue Bilder waren der jugendlichen Künstlerin sämtliche Grenzen so ziemlich egal gewesen. In einer intensiveren Steampunk-Phase waren sie gemeinsam nachts in eine stillgelegte Fabrik eingestiegen. Ein gewisser Jemand wollte nämlich die alten Maschinen für ihr aktuelles Projekt studieren. Eine Weile lang hatte Livia mit LSD experimentiert, die künftige Sozialarbeiterin war nüchtern daneben gesessen, damit der Künstlerin nichts passierte. Sogar bei einem fehlgeschlagenen Versuch einen Lehrer davon zu überzeugen für einen Akt zu posieren, hatte die sonst kreuzbrave Christine mitgeholfen. Ein klein wenig verrückt war Livia schon immer gewesen. Christine ging nicht davon aus, dass sich da viel geändert hatte. Über die Eskapaden der Vergangenheit lächelte sie in ihrem bürgerlichen, geordneten Leben bestenfalls nur noch. In einem solchen Umfeld war sie mit dem Namen „Lejoninna“, unter dem Livia momentan künstlerisch agierte natürlich nicht in Berührung gekommen.
Lejoninna hatte nämlich eine Nische der etwas verruchteren Art gefunden, in der sie mittlerweile sehr erfolgreich war. Sie ahnte an jenem Abend nicht, wen sie gerade um eine Zeichnung gebeten hatte. „Lass mich dir durch zuerst ein paar meiner Werke zeigen, damit du verstehst, was genau ich meine“, schlug die Künstlerin ihrer Freundin vor, „Ich hoffe, sie erschrecken dich nicht.“ „Was bitte sollte mich bei dir erschrecken?“, erwiderte Christine ihr, „Wir sind doch Freundinnen seit ewigen Zeiten.“ „Wenn dem so ist, lade ich dich herzlich ein, das Atelier von Lejoninna zu besuchen“, bot die Künstlerin ihr an, „Wir können gleich runter gehen, ich trinke noch kurz mein Glas aus.“ „Wer oder was ist denn Lejoninna?“, stellte Christine ihr daraufhin die unvermeidliche Frage. Die wurde ihr sogleich folgendermaßen beantwortet: „Ich bin Lejoninna, zumindest in der Szene, wo ich mich künstlerisch bewege. Mich wundert nur, dass ich dir das nie erzählt habe.“ „So wie du klingst, haben wir uns Einiges nicht erzählt, aber nutzen wir doch die Gelegenheit das nachzuholen. Ich bin jedenfalls einmal gespannt“, sie lächelte voller Neugier. Dabei fühlte Christine wieder ihre alte Faszination für Livia und ihre Ideen. Nachdem sie beide ihre Gläser beiseite gestellt hatten, führte Lejoninna Christine nach unten in ihr kleines Reich. Den Raum zur Straße hin, in dem Lejoninna ihre Kundschaft empfing, kannte Christine bereits. Nur ein paar stilvolle, mit Bleistift und Papier angefertigte männliche sowie weibliche Aktzeichnungen im Schaufenster deuteten auf Livias künstlerische Tätigkeit hin. Eine gewisse Diskretion war ihren Auftraggebern zumeist wichtig, daher befanden sich ihre Ausstellungsstücke im Zimmer dahinter, wo Lejoninna sämtliche geschäftlichen Gespräche führte. Die Einrichtung dort entsprach auch eher dem Geschmack, den Christine von Livia kannte. Nach Herzenslust mischte Livia völlig wild Möbelstücke sämtlicher Jahrzehnte, woraus sich zu Christines Verwunderung stets ein stimmiges Gesamtbild ergab.
Zu den Zeichnungen an den Wänden des Besprechungszimmers wusste Christine nicht recht, was sie sagen sollte. Livia hatte schon immer gerne auch erotisch gezeichnet, aber mit solchen Werken hatte Christine nicht gerechnet. Sie musste sich erst einmal hinsetzen. „Das ist doch perverse Gewaltpornographie, Livia, was machst du nur?“, stammelte Christine. Livia seufzte auf. Mit einer solchen Reaktion ihrer Freundin hatte sie fast schon gerechnet. „Wenn du jetzt gehen willst, geh. Ansonsten nehme ich dich gerne mit auf eine kleine Reise durch mein aktuelles künstlerisches Schaffen. Ich bitte dich nur mich nicht zu verurteilen, bevor du alles gesehen und gehört hast“, Livia war sich durchaus im Klaren darüber, was sie gerade alles aufs Spiel setzte. Möglicherweise war dies der letzte Abend, an dem sie sich in Freundschaft begegneten. Allerdings fragte sich Livia, ob es nicht ohnehin bloß eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis Christine diese Werke durch irgendeinen Zufall gesehen hätte. Ängstlich und verwirrt saß Christine ihrer Freundin gegenüber. Hatte Livia sie die ganze Zeit über ihre wahre Natur getäuscht? „Hast du das all diesen Menschen wirklich angetan um sie so zu zeichnen? Die müssen fürchterliche Schmerzen gelitten haben“, Christine schüttelte entsetzt den Kopf, „Trotzdem sind all diese Bilder schön, so sehr, dass es mich schockiert. Muss ich mir Sorgen machen, wenn ich sie sogar anziehend finde? Ich sollte dann wohl besser zum Psychiater.“ „Mit dir ist definitiv alles in bester Ordnung, Christine. Du bist die liebste Freundin, die ich habe, eine Mutter, wie sie sich jedes Kind bloß wünschen kann und für viele Menschen ein rettender Engel in der Not. Bei Keinem meiner Bilder ist Gewalt in irgendeiner Weise bei der Entstehung im Spiel gewesen. Funktionierende Kommunikation mit meinen Modellen ist bei meiner Arbeit das Allerwichtigste, egal ob ich meine Auftraggeber porträtiere oder Ausstellungswerke für Galerien anfertige. Außerdem kann ich dir versichern, dass bisher niemand bei mir größeren Schaden als ein paar kleine Kratzer und blaue Flecken genommen hat“, erklärte sie ihrer Freundin, „Es mag teilweise brutal aussehen, jedoch besteht unter gewissen Sicherheitsvorkehrungen kaum Gefahr für die Gesundheit der Beteiligten. Ich würde sogar zu behaupten wagen, nahezu jede Sportart ist riskanter. Aber von Anfang, wenn du erlaubst.“ „Nun gut“, lenkte Christine ein, „Ich will zumindest versuchen deine Sichtweise zu verstehen.“
Lejoninna nahm einen Ordner mit diversen Bleistiftskizzen darin zur Hand um Christine die verschiedenen Schritte ihrer Arbeit zu zeigen. „Die meisten meiner Auftraggeber kommen bereits mit konkreten Wünschen zu mir“, erläuterte sie, „Sowohl was die Technik als auch die abgebildeten Kinks angeht, haben sie sich oft schon im Vorfeld sehr ausführlich Gedanken gemacht. Allerdings gibt es auch immer wieder Menschen, die möchten, dass ich ihre Rolle, dominant, submissiv oder Switch in ein Bild fasse. Dann gilt es für mich zunächst herauszufinden, was Dominanz, Unterwerfung oder zu Switchen für sie bedeutet. Manchmal bringen sie mir bestimmte Gegenstände, wie Seile, die persönliche Lieblingspeitsche oder ein Halsband mit, die ich auf jeden Fall mit einbeziehen soll. Ich zeichne nicht nur einzelne Personen, sondern auch Paare oder polyamor lebende Menschen, deren Dynamik untereinander ich darstelle. Vor allem Letzteres ist für mich eine Herausforderung, die ich aber sehr gerne mag, denn solche Beziehungsgeflechte in einen Zeichnung unterzubringen, das begeistert mich jedes Mal aufs Neue. Dabei lerne ich sehr viel über die Menschen, wie sie miteinander und ihren alltäglichen Konflikten umgehen. Die Zeichnung ist letztendlich nur das Ergebnis eines langen Prozesses der Vorbereitung. Nach mehreren Vorgesprächen erstelle ich die ersten Skizzen, wie das Bild einmal aufgebaut sein soll. Sobald wir basierend darauf einen Plan erstellt haben, stehen mir meine Kunden tatsächlich Modell, entweder hier nebenan im Atelier oder bei sich zuhause. Bitten sie mich in ihre Schlafzimmer, ist das immer eine große Ehre für mich. Gezeichnet zu werden ist ein viel intimerer Prozess als photographiert zu werden, denn nicht eine Kamera, sondern ich erstelle das Bild mit Auge, Hand und Bleistift. Dafür muss ich eine jede Linie des Körpers, die vorkommen soll nachspüren. Wie viel meine Auftraggeber mir zeigen wollen entscheiden sie selbst. Außerdem kann ich mir gewisse künstlerische Freiheiten erlauben, wenn das vonseiten der Auftraggeber gewünscht ist. Zuvor bringe ich sie in die mit ihnen besprochene Position. Nicht wenige wollen gefesselt gezeichnet werden. Das Fesseln übernehme ich entweder selbst oder die dominante Person in der Beziehung. Das erfordert immer sorgfältige Absprachen, den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu mir und natürliche die Vereinbarung eines Safewords, falls aus jedwedem Grund abgebrochen werden soll. Ich selbst beherrsche mittlerweile zahlreiche Bondage-Techniken, lerne aber auch jeden Tag dazu, denn es gibt kaum Anfragen, die ich nicht bekomme. Vieles habe ich mir von erfahrenen Bondage-Riggern zeigen lassen, manches haben Auftraggeber selbst mir beigebracht, deren Partner in der jeweiligen Lieblings-Position abgebildet werden wollte. Einige Fesselungen werden auf Dauer unangenehm oder sogar gefährlich, sodass ich je nach Komplexität mehrere Zeichen-Sessions brauche. Oft fessele ich auch Teile von ihnen, die leichter zu ertragen sind, nacheinander, wodurch ich Zeit habe sie in allen Details zu erfassen. Aus den dadurch entstandenen Skizzen fertige ich danach in Ruhe meine Ausarbeitung an. Dabei lasse ich dann die weiteren Wünsche meiner Kundschaft zum Beispiel nach bestimmten Zeichenstilen, verschiedenen Arten der Kolorierung und besonderen Materialien mit einfließen. Ich habe schon zahlreiche Comicstile imitiert, vor allem Mangas und Animés sind weiterhin sehr gefragt, habe schon mit Kohlestiften auf Holz gemalt und Aquarelle, Ölgemälde oder sogar ein paar Kupferstiche habe ich auch schon angefertigt. Ich warte ja immer noch auf das erste Deckenfresko, das ich ins Schlafzimmer malen darf. Sollte da jemand in deinem Bekanntenkreis Interesse haben, darfst du mich gerne weiterempfehlen. Ansonsten, es gibt in jeder Hinsicht, wenig das nicht gibt. Ich für meinen Teil bin ein sehr neugieriger Mensch, der sich auf Vieles einlässt. Dennoch gibt es einige, wenige Sachen, die ich ablehne, zumeist, weil ich Sicherheitsbedenken habe. Niemand darf physisch wie psychisch ernsthaft zu Schaden kommen, das ist mein oberstes Gebot. Vor allem beim Kontakt mit Körperflüssigkeiten bin ich sehr vorsichtig, denn es gibt mehr als genug Krankheiten, mit denen ich mich nicht anstecken will. Desinfektionsmittel, sterile Abdeckungen, Handschuhe, sterile wie unsterile, und natürlich Verbandsmaterial und Erste-Hilfe-Equipment habe ich immer da. Mit Nadeln die Haut zu durchstechen, Schnitte mit Messern setzen oder mit Blut zu spielen, das alles muss unter gewissen Vorkehrungen durchgeführt werden, an die sich alle Beteiligten halten müssen, sonst wird es zu gefährlich. Habe ich nicht den Eindruck, dass meine Kundschaft diese ernst nimmt, lehne ich den Auftrag ab. Manche Leute erlauben mir auch ihnen bei ihren Sessions oder beim Sex zuzusehen, woraus ich dann ein Kunstwerk konzipieren soll. Dafür rückversichere ich mich im Vorfeld, dass von allen Seiten Konsens bezüglich dem, was passiert, besteht. Habe ich Zweifel diesbezüglich, spreche ich zunächst mit meinen Auftraggebern darüber. Sollte es sich bloß um ein Missverständnis meinerseits handeln, lässt sich das meist schnell und eindeutig lösen. Besteht jedoch ein Problem auf diesem Gebiet, empfehle ich dringend Hilfe in Anspruch zu nehmen und gegebenenfalls die Beziehung zu beenden. Karten mit den Telefonnummern von Beratungsstellen, die bei sexueller Gewalt helfen, habe ich stets in der Tasche, denn sexuelle Gewalt passiert leider in viel zu vielen Beziehungen, auch wenn ich mich fast traue zu behaupten, dass bei Vanillas, die nicht gelernt haben über die Bedürfnisse und Wünsche zu sprechen, das Problem häufiger vorkommt. Es ist nicht der Fremde, der nachts hinter dem Busch hervorspringt, sondern der eigene Freund oder Ex-Freund, der am häufigsten zum Vergewaltiger wird. Wenn ich die Gelegenheit habe zu helfen, darf ich sie nicht verpassen. Ohne Safe, Sane, Consensual, geht gar nichts, nicht in meiner Kunst und auch sonst nicht.“
Christine sah Lejoninna fasziniert an, während sie ihr zuhörte. Die Welt, die sich da vor ihr auftat, verlor so langsam an Schrecken. Sie hatte sich nie wirklich getraut von den Pfaden ihrer bürgerlich-geordneten Ehe abzuschweifen, wenngleich sie manchmal, wenn sie alleine war, in Tagträumen schwelgte, über sie niemals sprach. Für eine verantwortungsbewusste, fürsorgliche Mutter gehörte sich das nicht, hatte sie immer gemeint. Obwohl sie sich ihrer schämte, verschwanden die Phantasien nicht so einfach. „Die Bilder, die du in Galerien ausstellst, wie entstehen die?“, wollte Christine mehr über Lejoninnas Arbeit wissen, „Sind das Kunden, die dem zugestimmt haben?“ „Sehr selten“, antwortete Lejoninna ihrer Freundin, „Dafür habe meine eigenen Modelle. Teils arbeite ich mit professionellen Bondage-Models, teils bin ich auf einschlägigen Partys unterwegs, wo ich Leute, die mir sympathisch und interessant erscheinen, direkt darauf anspreche, ob sie von mir gezeichnet werden möchten. Mittlerweile habe ich mir der Szene einen gewissen Namen gemacht, daher wissen die Meisten, worum es geht, wenn ich sie frage. Manche erklären sich bereit, andere eben nicht. Hier ist die Vorarbeit noch aufwendiger als bei meinen Kunden, die ich für private Zwecke abbilde. Dabei ist es auch wichtig zu klären, wie stark ich die Person zum Schutz ihrer Identität mit welcher Methode verfremde. Manche möchten nicht, dass ein Gesicht zu sehen ist, bei anderen zeichne ich ein Gesicht mit Attributen ihrer Wahl, das eindeutig nicht zu ihnen gehört. Manche stehen mir bloß für bestimmte Teile ihres Körpers Modell. Ich habe schon Figuren gezeichnet, die Beine, Vulva oder Penis, Hintern, Schultern, Brust, Rücken, Hände, Augen, Nase und Mund von jeweils verschiedenen Menschen hatten. Ich habe sie alle auf ganz eigene Art kennen gelernt. Außerdem müssen die Vorstellungen meiner Modelle in das Konzept meiner aktuellen Projekte für die Ausstellungen passen. Je nach Themengebiet ist die Suche nicht immer ganz einfach. Am liebsten zeichne ich Fesselungen, die ich mir dafür alle selbst zusammen bastele. Mit einigen Models, die ihre Körper gut kennen, kann ich sogar aufwendige Suspension-Bondages mit dem Bleistift aufs Papier bringen. Allerdings ist das nicht einfach, denn ich muss sowohl schnell fesseln, mit höchster Geschwindigkeit zeichnen, weil Suspension-Bondages nur einige Minuten ausgehalten werden können, und meine Modells wieder sicher zu Boden bringen. Meistens fessele ich die gleiche Suspension mehrmals im Abstand von ein paar Stunden oder Tagen, je nach zeitlichen und körperlichen Möglichkeiten meines Modells, bevor ich sie vollständig abgebildet habe. Jeder Körper und jede Fesselung ist eine interessante neue Studie, bei der es viel zu entdecken gibt. Aber auch verschiedene Rollen, Dynamiken und Praktiken aus fast allen Bereichen des BDSM reizen mich künstlerisch immer wieder. Derzeit arbeite ich an einer Ausstellung, die sich mit mit der Anziehungskraft von Militäruniformen, militärischer Dominanz, Unterwerfung von Rekruten und Gefangenen befasst. Die große Bleistiftzeichnung, die du da an der Wand hängen siehst, eine Frau in Offiziersjacke mit nacktem Oberkörper darunter, Schirmmütze auf dem Kopf und Reitgerte in der Hand wird Teil dieser Serie werden. Bei diesem sensiblen Themenkomplex, der einige Menschen sehr erschreckt, arbeite ich nur mit Modellen, die allesamt schon seit ein paar Jahren kenne. Zu einigen von ihnen, Frauen wie Männern habe ich auch private, sexuelle Beziehungen, in der wir unsere Kinks rein zu unserem Vergnügen ausleben, je nach dem, was sich aus der Zusammenarbeit ergeben hat. Das kommt darauf an, wie und wofür es zwischen uns passt. Dieses intensive polyamore Liebesgeflecht hat seine Tücken und ist manchmal sehr anstrengend, aber ich will nichts anderes mehr.“ „Bloß, wie wird das dann sein, wenn du Kinder willst?“, warf Christine ein, „Wie sollen Kinder sich denn in einem solchen Umfeld entwickeln?“ „Interessant, dass du voraussetzt, dass ich Kinder will“, erwiderte Livia ihr, „Aber ja, mit der Frage habe ich mich schon beschäftigt. Ich denke, Kinder brauchen vor allem liebende Personen, die sich gut um sie kümmern. Solange das sorgfältig abgesprochen ist, braucht es die Institution monogame Beziehung nicht. Mit einigen meiner Partner diskutiere ich aktuell verschiedene Modelle, noch haben wir das Beste nicht gefunden. Der Weg mag etwas aufwendiger sein, doch ich denke, letztlich wird er alle glücklicher machen als der gesellschaftliche Standard. Einfach ist Kinder Großzuziehen nie, egal ob auf dem Klassischen oder einem eigenen Weg. Solange Vertrauen zueinander, der Wille Verantwortung zu übernehmen und die Bereitschaft Absprachen einzuhalten von allen Seiten bestehen, werden wir es schaffen können, solange wir an diesen drei Sachen immer wieder aufs Neue untereinander arbeiten.“
„Das alles muss ich erst einmal verarbeiten. Ich glaube, ich sollte dich künftig häufiger besuchen, denn es gibt so viel, über das ich mehr erfahren will. Irgendwie macht es mich fast ein wenig traurig, das über das alles so wenig nachgedacht habe. Kenne ich mich überhaupt selbst? Livia, du stürzt mich in Zweifel, was schön und schrecklich zugleich ist. Blümchensex, den ich immer etwas langweilig gefunden habe, einmal die Woche, wenn Zeit dafür ist, schweigend hinzunehmen, was mir nicht wirklich gefallen hat, irgendwie habe ich das nie hinterfragt. Das war halt einfach so. Ich liebe meinen Mann doch“, Christine blickte verwirrt drein. Durch ihre schonungslose Ehrlichkeit war es Lejoninna gelungen, einige sicher geglaubte Gewissheiten ins Wanken zu bringen. „Christine, du bist ein Mensch, der Sehnsüchte und Wünsche hat, das ist ganz normal. Nimm dir Zeit. Wenn du jetzt mit deinem Mann über ein paar Sachen reden willst, bereite dich erst einmal darauf vor, indem du dir selbst darüber klar wirst, welches Ziel du dabei verfolgst. Horche in dich selbst hinein, lasse zu, dass deine chaotischen Gedanken sich von ganz alleine ordnen. Solltest du dabei Hilfe brauchen, als deine Freundin bin ich immer für dich da. Du kannst mich alles fragen, ich stehe dir zur Seite so gut ich kann“, Livia legte Christine die Hand auf die Schulter, lächelte sie aufmunternd an. Darüber fasste Christine sich ein wenig: „Sobald ich mich ein wenig sortiert habe, kann ich dich dann darum bitten mich zu zeichnen? Ich hoffe, so mehr über mich herauszufinden. Allerdings weiß ich nicht, wie lange es dauern wird, bis ich bereit bin.“ „Heute, nach ein paar Gläsern Wein bin ich eh nicht mehr der Lage zu sinnvoller Vorbereitung oder Ausführung. Ansonsten, du weißt ja, wo du mich findest. Ich würde mich über die Ehre dich zu zeichnen sehr freuen. Außerdem bin ich wie immer neugierig. Nur gebe ich zu bedenken, ich betrachte bloß mit dem Bleistift in der Hand, was ich vor mir habe und dokumentiere mithilfe meines künstlerischen Blickes“, meinte Lejoninna daraufhin, „Für dich hat sich eben eine Tür geöffnet. Ob und welchen Weg, der dahinter liegt, du gehen möchtest, musst du selbst entscheiden. Daher schlage ich vor, gehen wir zurück nach oben in die Küche und trinken noch ein Gläschen auf deinen ersten Schritt einer Reise, die dir hoffentlich viel Freude bringen wird.“ Dagegen hatte Christine selbstverständlich nichts einzuwenden.