„Hast du dich verlaufen, Kleines?“, freundlich lächelnd sah der alte Mann hinter der Theke mich an. Er legte sein Werkzeug zur Seite. „Kleines? Ich bitte Sie, ich bin eine erwachsene Frau, auch wenn ich körperlich nicht unbedingt die Größte bin“, leicht verärgert verschränkte ich meine Arme. Dieser Tag war bisher ohnehin schon nicht gerade zu meiner Zufriedenheit verlaufen.
Obwohl es in Strömen regnete war ich auf die geniale Idee gekommen, heute an meinem freien Nachmittag nach diesem einen besonderen Laden in der Stadt zu suchen, von dem ich bisher nur gehört hatte. Bessere Bondage-Seile gab es angeblich nirgends. Dazu führte dieses Geschäft anscheinend von Halsbändern in allen Farben und Formen über verschiedenste Korsetts bis hin zu Fesselmanschetten und Peitschen, sämtliches Spielzeug aus Leder, das ich mir nur vorstellen konnte. Einige Leute aus meinem Freundeskreis waren hellauf begeistert, also beschloss ich mir selbst ein Bild zu machen, hatte ich doch meine Sammlung schon länger nicht mehr erweitert. Da ich in diesem Viertel der Stadt allerdings kaum unterwegs war, hatte ich nicht unbedingt eine Idee, wo genau dieser Laden jetzt sein sollte. Die Karten aus dem Internet halfen ebenfalls nicht wirklich. Ich verirrte mich stattdessen noch mehr in einem schieren Labyrinth aus kleinen Gassen. Zu allem Überfluss war der Handyempfang hier sehr schlecht, sodass ich nicht mal mehr mit Sicherheit sagen konnte, wo ich mich denn eigentlich befand. Während ich mein Fahrrad vor mir herschob, verzweifelte ich daran, dass nun auch dem Kompass einfiel, dass er jetzt kalibriert werden wollte. Dass mittlerweile Display und meine Hände klitschnass waren, erleichterte das Unterfangen keineswegs. Die Haare trieften mir und die Hose klebte fest an meiner Haut. Ich hoffte, dass sich mein Ausflug in dieses Sauwetter sich zumindest am Ende lohnen würde. Irgendwo hier in der Nähe musste es sein.
Da es mich mittlerweile ziemlich fror, verschoben sich meine Prioritäten dahingehend zumindest irgendein Geschäft zu finden, in dem ich mich ein wenig aufwärmen konnte. Vielleicht gab es in der Nähe ja ein Café. Eine Tasse heiße Schokolade, genau das brauchte ich jetzt für meine angekratzte Laune. Allerdings zerschlug sich dieser Traum recht schnell, denn die einzige Möglichkeit schnell nach Drinnen zu kommen war ein kleines, schummeriges, verwinkeltes Geschäft in einem Hinterhof etwas abseits von der Straße mit der Aufschrift „Lucene Coppola – Glasaugenmacher“ auf der Tür. Wäre mir nicht so dermaßen kalt gewesen, wäre ich nicht hinein gegangen. Glasaugenmacher, das klang schon irgendwie gruselig. Aber vielleicht war der Besitzer ganz freundlich und erlaubte einer durchnässten jungen Frau sich bei ihm im Laden aufzuwärmen bis sich das Wetter gebessert hatte. So stolperte ich also dem alten Mann vor die Theke. Mehrere Zangen in verschiedenen Größen, ein Bunsenbrenner, Kästen mit Glaskugeln in den verschiedensten Farben und Formen waren kreuz und quer darauf verteilt. „Aber verlaufen hast du dich?“, fragte er mich wieder. Er drehte den Bunsenbrenner ab und schob seine Schutzbrille auf die Stirn. „Ja, Signore Coppola, ich komme nicht aus diesem Stadtviertel und habe mich komplett verirrt“, erwiderte ich ihm. Ich scheute mich davor ihm zu sagen, weshalb genau es mich hierher verschlagen hatte. Irgendwie war mir das ein wenig unangenehm. Außerdem wusste ich ja nicht, wie er reagieren würde.
Daraufhin begann er von einem Ohr zum anderen zu grinsen: „Den Spiegelaugenmacher findet immer, wer ihn nicht gesucht hat, aber ihn braucht.“ „Signore Coppola, ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen. Meine beiden Augen sind soweit gesund und ich kenne auch niemanden, der gerade ein Glasauge benötigt“, etwas verwirrt schaute ich ihn an. „Signorina, nicht alles, was du siehst, ist Wahrheit“, kicherte er. Dieser Mann war definitiv verrückt. Ich wollte mich schon wieder zum Gehen wenden, denn mir war das alles nicht geheuer. Bevor ich nur zu einem Schritt Richtung Tür kam, sprang er mit einem Satz auf den Tisch. Es grenzte an ein Wunder, dass dabei nichts herunterfiel. Ich erschrak darüber so sehr, dass ich vergaß, wo ich eigentlich hinwollte. Seine hagere Gestalt mit wirren, weißen Haaren und langem Kittel baute sich über mir auf. „Nicht so schnell, Signorina“, plötzlich stand er hinter mir und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich stieß ihn weg von mir, was ihn dazu veranlasste an mir vorbei wild, wie von der Tarantel gestochen durch den Laden zu laufen. „Eine Begabte, zweifelsohne“, murmelte er dabei vor sich hin, „Mächtig, ja, sehr sogar, nur kann sie ihre Fähigkeiten nicht kontrollieren. Was hilft ihr grade wohl am meisten?“ Kopfschüttelnd beobachtete ich das Schauspiel. Nachdem er wieder zum Stehen gekommen war, hielt er mir ein violettes Glasauge hin. Ich nahm es in die Hand, obwohl ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte. „So viel Schmerz, den diese da Seele da trägt. Aber auch Mut und Kampfeswillen sehe ich da und noch viel, viel mehr Interessantes“, was er mit damit sagen wollte, begriff ich nicht, „Da braucht es vor allem etwas Beschützendes, das Gefahren erkennt und den sicheren Weg weist.“ Je länger ich in seiner Nähe verweilte, desto mehr verwirrte er mich.
„Signore Coppola, bitte klären Sie mich endlich auf, was Sie damit überhaupt meinen. Ich komme nicht ganz mit“, einen letzten Versuch etwas Vernünftiges aus ihm herauszubekommen wollte ich dennoch wagen. Sein breites Grinsen ließ mich allerdings befürchten, dass es nicht besser werden würde. „Dieses Auge ist ein Spiegel zur Seele. Es ermöglicht dir, die wahre Natur eines jeden Menschen zu erkennen. Du bist begabt, also kannst du lernen seine Bilder zu deuten. Nimm es, probiere es aus“, forderte er mich auf, „Schau hindurch, in meine Seele.“ Unschlüssig bewegte ich das Glasauge zwischen meinen Fingern, denn ich wusste nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte. Pulsierend leuchtete es dabei in meiner Hand auf. „Es hat dich bereits als seine Besitzerin erkannt. Nur Mut, du wirst bei mir nichts Schlimmes sehen. Die Wunden meiner Seele sind bereits größtenteils verheilt“, ermunterte er mich. Als ich ihm daraufhin in die Augen sah, verstand ich endlich. Ein wildes Feuerwerk aus fremdartigen Blumen in den seltsamsten Formen, regenbogenfarbenen Splittern und Schmetterlingen aus Asche tat sich vor mir auf. Dieses Chaos begann vor mir zu tanzen, drehte Pirouetten und sprang in allen Richtungen herum. Kurze Zeit später formte sich eine Art Kettenkarussell daraus, das aussah als wäre es einem Jahrmarkt von anno dazumal entsprungen. Silberne, beinahe lebensgroße Hirschen verzierten seine Decke. Elfenartige Geschöpfe flogen mit den Bewegungen des Karussells mit, hüpften von einem Sitz zum nächsten. „Komm, steig ein!“, riefen sie mir zu, „Spiel mit uns!“. Unwillkürlich kam ich näher. Eine unsichtbare Macht zog mich zu ihnen. Zwischen mir und dem Karussell lag nun ein goldenes Tor, durch das hindurch ich auf einen altmodischen Rummelplatz blickte. Ein Riesenrad baute sich vor mir auf. In seiner Mitte war ein ebenfalls silberner Kopf eines Hirschen angebracht. Allerdings wirkte das Riesenrad auf mich deutlich düsterer. Im Vergleich mit dem Karussell wirkte es gespenstisch verlassen. Die Gondeln, in einem ziemlich desolaten Zustand waren, sahen nicht gerade einladend aus. Ich fragte mich sogar, ob sie mich überhaupt tragen konnten. Obwohl das Riesenrad mich erschreckte, näherte ich mich dem Tor. Die verschiedensten Buden lagen direkt dahinter. Berge der wunderlichsten Süßigkeiten stapelten sich in ihnen. Lebendige Kuscheltiere bereiteten beeindruckende Kreationen aus gebrannten Mandeln, Zuckerwatte, Schokolade, Gummibärchen und Bonbons in allen Farben zu. Ganze Landschaften inklusive mehrerer Märchenschlösser mit tausend kleinen Türmchen entstanden daraus. Wunderschöne Prinzen und Prinzessinnen in prächtigen Kleidern aus Zucker flanierten durch die Parks ihrer Schlösser. Am Himmel flog ein furchterregender Drache mit Schuppen aus Schokolade, der Feuer aus Gummibärchen spie. Eine Kriegerin in glänzender Karamell-Rüstung ritt auf ihm. Diese ganzen Wunder wollte ich mir endlich aus der Nähe anschauen, vielleicht sogar von ihnen kosten.
Meinen Fuß hatte ich schon kurz vor das Tor gesetzt, da hörte ich Signore Coppolas Stimme von Fern: „Stopp, keinen Schritt weiter! Lass dich nicht zu tief hinein ziehen!“ Er stieß mich weg. Mit einem Mal war der gesamte Rummel wieder verschwunden. Das Geschäft kam mir nach all den farbigen Eindrücken ganz grau vor. „Nur anschauen, niemals hineingehen, versprich mir das, Signorina“, ermahnte er mich, „Von solchen Reisen in die Seelen Anderer sind schon viele nicht zurückgekehrt. Selbst meine, die trotz meines langen Lebens fröhlich geblieben ist, kann dir gefährlich werden.“ „Ist das alles gerade wirklich passiert?“, ich schüttelte mich am ganzen Körper, „Was bedeuten diese Bilder?“ „Sie zeigen dir die Seele eines jeden Menschen in deiner Sprache. Ihre konkrete Bedeutung wirst du mit der Zeit genau kennenlernen. Wir könnten uns den gleichen Menschen anschauen und dabei völlig unterschiedliches sehen, deshalb musst du selbst den Spiegel zur Seele langsam entschlüsseln“, erklärte Coppola mir, „Aber gib Acht, du wirst auch viel Schreckliches sehen. Ein Spiegel zur Seele ist ein Geschenk, das sehr viel Macht verleiht, denn Wissen ist Macht ist Magie. Gebrauche deine Magie klug, junge Begabte. Dieser Blick ist eine große Bürde, doch du wirst lernen ihn zu schätzen zu wissen.“ Daraufhin fragte ich ihn, was ihm damit schon alles widerfahren war.
„Schmerzhafte Wahrheiten hat der Spiegel zur Seele mir vor Augen geführt, aber mindestens genauso oft hat er mich beschützt. Außerdem liefert er viel nützliches Wissen. Er mir genauso oft geholfen gute Menschen in meine Leben zu bringen, so oft wie er mir vor Augen geführt hat, dass ein Mensch, für den ich viel empfinde, mir nicht gut tun kann. In tiefe Abgründe habe ich geblickt, so sehr, dass ich mich gefragt habe, ob nicht ich der Abgrund bin, der tiefe Schwärze anzieht. Ich bin einst wie du gewesen, Signorina, junge Begabte. Mein erstes Geschenk ist ein Herzstein gewesen, durch den ich die Gefühle anderer Menschen erspüren haben können. Die Spiegelaugen habe ich erst viel später selbst erfunden, wobei ich auch nur die Kristallkugeln meiner Lehrmeisterin weiter entwickelt habe. Für die gewöhnlichen Menschen stelle ich Glasaugen her, den Begabten schenke ich Spiegelaugen, damit sie lernen zu sehen. Irgendwann wirst du den Spiegel zur Seele kaum noch brauchen, weil deine Sinne so sehr geschult sind, dass du die Seelen der Menschen von selbst erkennst. Im Laufe der Zeit wirst du lernen dein Wissen anzuwenden, einzugreifen, zu verändern. Anfangs wirst du das völlig unwillkürlich tun. Dir wird es vorkommen, als würde eine höhere Macht dich führen und beschützen, dabei bist du es selbst. Im nächsten Schritt wirst du erkennen, wozu du im Stande bist. Intuition und Kontrolle werden Hand in Hand gehen“, so langsam glaubte ich zu verstehen, was Signore Coppola mir sagen wollte. „Ich danken Ihnen. Nur, was möchten Sie für den Spiegel zur Seele?“, wollte ich daraufhin wissen. „Magie, Signorina, kann nur verschenkt, aber niemals verkauft werden, sonst verliert sie sich. Gebrauche ihn verantwortungsvoll, das ist alles“, freundlich lächelte er mich an, „Vergiss nur nicht, den Spiegelaugenmacher findet nicht, wer ihn gesucht hat, sondern wer ihn braucht. Wir beide werden uns noch oft wieder treffen, dann, wenn die Straßen dich zu mir führen.“
Draußen dämmerte es langsam. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen. Da ich schon deutlich länger unterwegs war als ich eigentlich eingeplant hatte, verabschiedete ich mich schließlich von Lucene Coppola. Kurz befürchtete ich eine ähnlich lange Odyssee wie auf dem Hinweg, doch nun erschienen mir die ganzen Gassen mit einem Mal völlig logisch angeordnet. Ich fand sogar das Geschäft, nach dem ich ursprünglich gesucht hatte. Obwohl ich recht erschöpft war, ging ich trotzdem hinein, denn ich wollte den Spiegel zur Seele ein wenig ausprobieren. Während ich mit dem Verkäufer sprach, umgriff ich das Auge in meiner Jackentasche. Er schien ein recht ruhiger, ausgeglichener Mensch zu sein, denn ihn umgab ein friedlicher, japanischer Garten mit Kirschblüten und einem Zen-Tempel. Im Inneren des Tempels sah ich jedoch Finsternis, aus der zwei glühend rote Augen hervorleuchteten. Diese näherten sich dem Eingang des Tempels. Sobald die dazu gehörige Gestalt ins Licht trat, stellte sich heraus, dass die roten Augen zu einer wunderschönen Geisha mit prächtigem brombeerfarbenen Kimono und feurig orangenem Obi gehörten. Ihr Gesicht war so bleich, dass ihre Haut beinahe durchsichtig wirkte. Ihren weißen Fächer zierten blutrote Zeichnungen verschiedenster Dämonen, deren Körper entfernte Ähnlichkeit mit Tigern, Wölfen und Löwen aufwiesen. An Coppolas Warnung zurück denkend ließ ich das Auge wieder los. Nachdem ich einen Satz Kinbaku-Seile aus Hanf gekauft hatte, machte ich mich endgültig auf den Heimweg.
Lucene Coppola sollte Recht behalten. Ich begann die Macht des Spiegels zur Seele zu lieben und zu verfluchen. Vor allem die besten und die schlechtesten Menschen blieben mir besonders im Gedächtnis. Die Seelen vieler Menschen waren nicht einmal so aufregend, auch wenn ich fast immer interessante Details fand. Aber es gab auch genug, in denen ich mich beinahe verloren hätte. Wann immer ich ihm wieder über den Weg lief, was meistens so vonstatten ging, dass ich mich erst hoffnungslos verirrte und danach bei ihm herauskam, verbesserte er das Auge. Ich berichtete ihn von meinen Erfahrungen, sodass er das Auge entsprechend schärfen konnte. So wurden die Bilder immer klarer. Nach geraumer Zeit schenkte er mir ein zweites Spiegelauge, mit dessen Hilfe ich zumindest kurz die Seelen der Menschen gefahrlos betreten konnte. Spiegel zur Wirklichkeit nannte er dieses Artefakt, denn seine Aufgabe war es mir zu helfen, den Bezug zur Realität nicht zu verlieren. Solange ich die Welt außerhalb der Seele noch sehen konnte, zeigte es mir den Weg zurück. Der Spiegel zur Seele und der Spiegel zur Wirklichkeit eröffneten mir Möglichkeiten, von denen ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte. So lernte ich einige Menschen auf einzigartige Weise kennen und veränderte sie. Ich hinterließ Spuren in ihrer Seele. Ob das insgesamt gut oder schlecht war, vermag ich zumeist nicht sagen. In den Momenten meines Eingreifens tat ich, was ich für richtig hielt, aber das volle Ausmaß der Folgen zeigte sich immer erst nach längerer Zeit. Mit Lucene Coppola sprach ich oft darüber, was ich denn schon wieder angestellt hatte. Er stand mir immer zur Seite, wenn ich ihn brauchte. Er gab mir Ratschläge, half mir meine Techniken zu verfeinern und Fehler zu beheben.
Ich selbst denke, dass ich weder Heldin noch Bösewicht bin. Vergleichen würde ich mich eher mit den indischen Gott Shiva. Was mir begegnet verändere ich. Ich heile Wunden, baue auf, verbrenne und zerstöre an anderer Stelle. Doch auch ich selbst verändere mich, durch die Menschen denen ich begegne. Ich lasse mich auf den Tanz mit ihrer Seelen ein. Mit ihren Schwingungen bewege ich mich, lasse mich ein, auf das, was sie mir bieten. Ich bewege mich zur Musik ihrer Seele. Die Bewegung meines Tanzes sorgt für gewisse Reaktionen, auf die wiederum ich mit neuen Bewegungen reagiere. So entsteht ein schöpferischer Kreislauf, der Neues aufbaut. Einst habe ich über einen Spiegel gesehen, jetzt tanze ich mit den Seelen.