CN: Trauer, Verlust
Ahnmaé
Nayri & Rove
Die Ellenbogen über das breite Steingeländer gestützt, blickte Rove ins Tal hinab. Viel gab es von diesem Balkon aus nicht zu sehen. Grauschwarzer Fels, von meterhohem Schnee bedeckt, der sich an einigen Stellen in Lawinen gelöst hatte und die raue Struktur des Gesteins zum Vorschein brachte. Hier senkten sich die umstehenden Berge in wilden Schluchten dem Boden entgegen. Hinunterzublicken brachte ein schwindelerregendes Gefühl mit sich. So weit oben, inzwischen der Wolken, die sich in einiger Entfernung um die Gipfel bewegten. Atemberaubend.
Wie sehr sie diesen Ort vermisst hatte. Mit seiner wilden Schönheit. Und der tiefen Stille.
Ein tiefes Seufzen drang aus ihrer Kehle. Unwillkürlich, es überraschte sie selbst ein bisschen.
“Es ist lange her”, vernahm sie Nayris Stimme hinter sich. Sie wandte sich nicht zu ihm um, wollte weder den Blick von diesem wunderbaren Ort nehmen, noch selbst die Stille durchbrechen. Wollte wenigstens einen Moment länger alles in sich aufnehmen, was er ihr bot. Erst als er neben sie trat, senkte sie langsam den Blick, erst zu ihren Händen und über das Geländer, auf dem sich im ganz am Rand, bevor dahinter der Berg abfiel, frischer Schnee gesammelt hatte. Hinter einer feinen, unsichtbaren Grenze. Hier endete der Zauber, der Ahnmaé umgab und die Stadt aus dem Fels in Unsichtbarkeit und Wärme hüllte.
“Fast fünf Jahre”, antwortete sie und sah schließlich zu ihm auf. In sein Gesicht, das fast so kühl und edel wie das Gebirge um sie wirkte. Und die klaren, hellen Augen, die ihn noch strenger wirken ließen, wie ein eisiger Windhauch. Normalerweise. Aber jetzt? Jetzt wirkten sie ungewöhnlich weich.
Ein kurzes beinahe-Lächeln hob seine Mundwinkel. Dann zogen sich seine Brauen wieder tief über der Nasenwurzel zusammen.”Warum bist du nie gekommen?”
Da war sie, die Frage. Sie hatte gewünscht, er würde sie nicht stellen. Gleichzeitig hätte sie ihn verflucht, hätte er es nicht getan.
Rove zuckte die Schultern, den Blick wieder auf die dunklen Schluchten gesenkt. “Ich weiß auch nicht….” Nein. Das war eine Lüge. “Ich konnte nicht”, korrigierte sie, mit einem tiefen Atemzug. Die Luft hier oben war so klar.
“Ich verstehe”, meinte Nayri nur. Ein bisschen überraschte es sie schon, dass er sich mit Verständnis zeigte. Mit einem kurzen, prüfenden Blick glaubte sie auch Ehrlichkeit in seinem Blick zu erkennen.
“Willst du… ihn besuchen gehen?”, fragte er schließlich. “Ich begleite dich, wenn du willst.”
Der Stein, der sich auf ihre Brust gesetzt hatte, als er sie gefragt hatte, warum sie nie nie gekommen war, gewann rasant an Gewicht.
“Ich…”
“Du musst nicht. Nur wenn du es möchtest.”
Seit wann war Nayri so mitfühlend? So kannte sie ihn gar nicht. Als sie den Blick wieder zu ihm wandte und in seine Augen sah, um nach der gewohnten Kälte in ihm zu suchen, wirkten seine eisigen Augen so unwirklich warm. Schmerzvoll. Und sie erinnerte sich. Nicht nur sie hatte einen besonderen Menschen aus ihrem Leben verloren. Amon war ihr Bruder, und Nayris bester Freund.
Sie nickte, langsam und so zaghaft, dass sie für einen Moment fürchtete, er hätte es nicht bemerkt. Doch er sah sie an und nickte ebenfalls.
“Nur noch einen Moment”, bat Rove und sah wieder hinaus auf die Berge. Nur noch einen Moment, bis sie genug Kraft hatte, das Grab zu besuchen. Beinahe fünf Jahre hatte ihr Bruder gewartet. Ein paar Minuten mehr… Sie hoffte, er würde es ihr nicht übel nehmen.
Ein Schatten huschte um die Felsen. Weit in der Ferne, doch je näher er kam, desto besser erkannte Rove die breiten Schwingen der riesigen Geschöpfe, die in breiten Bahnen um die Gipfel glitten.
“Adler?”
“Eines von vier Paaren, die wir in unseren Bergen behausen”, bestätigte Nayri. “Eines davon brütet gerade.”
“Mitten im Winter?”
“Hier ist es immer warm”, meinte Nayri und deutete auf die stille Stadt hinter ihnen. “Und wir tun gern unser Möglichstes, ihre Art zu erhalten.”
“Das ist… schön”, kommentierte Rove etwas unbeholfen und sah den beiden Tieren hinterher, die wieder hinter demselben Felsen verschwanden, hinter dem sie aufgetaucht waren.
“Wollen wir?”