CN: Tod, Verlust, Trauer
Ahnmaé
Rove & Nayri
Amons Grabstätte
Gemeinsam schritten sie die hellen Felsgassen entlang. Wie schon damals bewunderte Rove, wie natürlich sich die Stadt in den Fels hinein schmiegte. Bis auf die fein ausgelegten, breiten Wege war kaum zu erkennen, dass hier überhaupt Zivilisation existierte. Sah man sich die Felswände an, erkannte man nur aus einigen Winkeln, dass es sich um Gebäudewände, Gänge und Terrassen handelte. Fenster und Türen verbargen sich hinter hinter beinahe unberührtem Fels und alles wirkte in sich, als wäre es schon immer so gewesen und auf natürliche Weise entstanden. Zumindest in diesem Teil der Stadt. Etwas abseits, wo die Wege zu den Gärten und Gräbern führte. Dass so weit oben auf dem Berg noch so viele Pflanzen prächtig wuchsen, war mit Sicherheit Ahnmaés umgebenden Zauber gedankt. Umrundet von Fels, in einem winzigen Tal zwischen den Gipfeln des Gebirges, wuchsen allerhand Gräser und Kräuter in einem prachtvoll angelegten Garten. Er wirkte ebenso wild und natürlich wie der Rest der Stadt. Doch er wurde gut gepflegt, war gesund und nichts wucherte, wo es nicht sollte. Schmale Pfade führten an den hohen Kräuterbüschen vorbei, einigen Bäumen und sogar einem kleinen Gemüsegarten. An dessen Ende kamen die Felswände, die den Garten hoch umgrenzten, wieder zusammen und ließen einen Spalt, fast wie ein Tor, offen und führten in den nächsten Bereich. Dahinter waren die ersten Grabsteine und noch mehr Bäume zu erkennen.
Rove hielt für einen Augenblick inne, bevor sie den Schritt durch das Tor wagte. Nayri hielt ebenfalls inne, wartete geduldig. Ihm entging das Zittern ihrer Hände nicht, dass mit jedem Schritt ein wenig zugenommen hatte und sich kaum noch verstecken ließ. Da war kein Lächeln in seinem Gesicht, kein ermutigendes Nicken, nur das Heben seiner eigenen Hand zu ihrer. Ein vorsichtiges Tasten nach ihren Fingerspitzen. So kühl. Oder nicht? Seine Hand zu ergreifen war so einfach und so plötzlich, dass Rove im ersten Moment gar nicht weiter darüber nachdachte. Und sich einfach mitziehen ließ, langsam und bedächtig zwischen den Gräbern hindurch, die ebenso sorgsam bepflanzt und gepflegt waren, wie der Garten davor. Rove war unendlich dankbar für den zusätzlichen Halt, den ausgerechnet Nayri ihr bot. Es war kaum zu glauben, dass sie als Kinder und in ihrer Jugend beinahe ausschließlich am Streiten waren. Und jetzt, hier? Da galten völlig andere Regeln. Zumindest in diesem Moment.
“Hier”, durchbrach Nayris Stimme die Stille und sie folgte dem Deuten seiner freien Hand. Ein einzelnes Grab mit einem groben Felsen als Gedenkstein, ausgeschmückt mit silbrigen Venen und feiner, dunkler Schrift an einer etwas abgeflachten Stelle. Umgeben von vier Bäumen und noch mehr Sträuchern, bewachsen mit hohen Gräsern und ein paar Blumen. Idyllisch, dachte Rove. So friedvoll.
Alles, was sie bis jetzt fast mühelos unter der Oberfläche gehalten hatte, trat mit einem Schlag nach außen. Mit einem Mal fühlte sie die Tränen in ihren Augen, das Beben ihrer Brust und ihrer Lippen, das Zittern ihrer Arme, Hände und Knie. Und sie fühlte, all den Schmerz. Mit ganzer Wucht. Alles, wofür sie in den letzten Jahren so taub geworden war, nahm sie jetzt und so vollkommen ein, dass sie es nicht einmal schaffte, auf den Beinen zu bleiben.
Hier lag ihr Bruder. Ihr Bruder.
An diesem wundervollen Ort, den sie beide so sehr geliebt hatten. Die Lunayi hatten ihm eines ihrer schönsten Grabstätten geschenkt. Weil er ihnen fast genauso viel bedeutet hatte, wie ihr. Und sie kümmerten sich darum, mit Liebe und Sorgfalt. Im Gegensatz zu ihr, die es nicht gewagt hatte, je wieder einen Fuß auch nur in die Stadt zu setzen. Sie fühlte sich nicht schlecht deswegen. Nicht, weil sie glaubte, dass Amon es ihr nicht verzeihen würde. Sie wusste, er würde verstehen. Er kannte sie am besten. Und doch… Sie war berührt von all der Fürsorge, mit der sich dieses Volk um ihren Bruder kümmerte, auch nach seinem Tod. Begraben wie der Held, der er war. Wie ein Symbol, für etwas wahrhaft Gutes. Für etwas, das verloren war und hätte sein können.
Dabei waren sie doch noch Kinder gewesen… Kinder!
Rove hatte nicht bemerkt, wann sie auf die Knie gesunken war. Wann sie ihren Kopf gen Boden gesenkt hatte und die Hände in die Gräser über Amons Grab vergraben hatte. Sie fühlte sich selbst erst wieder, als sie Nayris Hand auf ihrer Schulter spürte. Die Spannung in ihren Armen und Händen, die Büschel der Gräser gepackt hatten und verkrampft hielten, nahm nur langsam ab. Sie fühlte die Nässe in ihrem Gesicht, das Brennen ihrer Augen, das wirre Pochen ihres Herzens. Sie würde ganz sicher furchtbar aussehen. Jämmerlich und lächerlich, wie sie sich an Amos Grab klammerte und weinte wie ein kleines Kind. Aber das war nicht wichtig.