CN: angedeutet, dass nach dem Kuss etwas mehr passieren könnte
Ahnmaé
Nayri & Rove
„Du verabschiedest dich schon?“, fragte Rove und hob eine Braue, neigte ihren Kopf zur Seite. „Nachdem du dir den ganzen Weg, bis hierher, gemacht hast? Damit du mich wieder heimlich beobachten kannst?“
Was soll denn das?, schalt sie sich selbst in Gedanken. Ist dir der Alkohol zu Kopf gestiegen? Was soll das bezwecken?
Nayri, der sich schon halb abgewendet hatte, hielt in der Bewegung inne. Und wandte sich zu ihr zurück. Langsam, wie es nur jemand tat, der ertappt worden war.
Damit war Roves Verdacht bestätigt. Ein triumphierendes Lächeln legte sich über ihre Lippen. Schmal, aber erkennbar. Er durfte es ruhig sehen.
Er musterte sie durch verengte Augen, die Kiefer dicht übereinander gepresst, die feinen Lippen nicht mehr als zwei schmale Striche.
„Und ich dachte, dass du diesmal bleiben willst. Mir aus meiner Kleidung helfen…“
Hör einfach auf zu reden. Das bist doch nicht du! Aber… warum eigentlich nicht?
Ein Zwinkern wäre vielleicht zu viel gewesen. An seinem Gesicht war deutlich abzusehen, dass ihre Worte Provokation genug waren. Übertreiben wollte sie es nicht. Ihn ein wenig aufziehen, ja. Die Brauen zu heben und das Kinn vorzuschieben, ließ sich dann doch nicht unterdrücken.
Einer seiner Mundwinkel zuckte für einen Moment nach oben, während seine kühlen Augen unverändert auf ihren lagen. Seine Kiefer malmten beim Überlegen kaum merklich übereinander. Und schließlich trat er wieder näher. Zu nah für eine freundschaftliche Begegnung. Wollte er den Spieß nun umdrehen und sie provozieren?
Auch sie wandte den Blick nicht von seinen Augen. Hielt dem eisigen Blau stand. Ein Duell, das sie schon zu Kinderzeiten nur zu oft geführt hatten. Doch diesmal war es anders. Da war keine kindliche Unschuld mehr in ihren Blicken. Keine übermütige Rivalität.
Diesmal verlor sie das Duell nur allzu schnell. Die plötzliche Nähe lenkte sie ab. Und ihren Blick über seine Wangen hinunter auf seine Lippen.
Vielleicht war das der letzte Reiz, der noch gefehlt hatte. Denn keinen Augenblick später fanden sie sich auf ihren wieder. Sanft und unerwartet, wie ein kalter Hauch. Die Berührung fühlte sich an wie eine stumme Frage. Und sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
In ihrer Brust begann es so heftig zu flattern, als wollte ihr Inneres heraus bersten.
Dieser Kuss, so unschuldig er auch war, löste so viel in ihr aus. Mit einem Mal spürte sie all ihre Wünsche nach Zuneigung, Nähe, Wärme, Liebe und nach Geborgenheit, wenigstens für nur einen Moment, mit Wucht an die Oberfläche schießen.
Gleichzeitig jagten ihr tausend Fragen durch den Kopf.
Was bedeutete dieser Kuss für ihre Freundschaft? Hatten sie eine unüberschreitbare Grenze überschritten? Hatte sie ihn mit ihren Provokationen doch mehr eingeladen, als gereizt? War es eigentlich das gewesen, was sie damit erreichen wollte? Wollte sie das? Ihn? Wie dachte er darüber? War der Kuss schon Antwort genug? Was genau bedeutete es? Was wollte er? Empfand er genauso wie sie? Teilte er nur ihre Sehnsucht nach Nähe und ergriff die Chance? Oder wollte er mehr? Wollte sie mehr? Was wurde aus ihrer Rivalität? Wie sollten sie fortan miteinander umgehen? …Was würde Araz denken?
Die letzte Frage donnerte besonders laut durch ihren Schädel. Wie würde er reagieren, wüsste er, was hier passierte? Was passieren könnte?
Wieso war ihr das wichtig?
Er wollte sie nicht. Zumindest nicht auf eine Art, in der es sie aneinander band.
Es verging zu viel Zeit. Die sich überschlagenden Gefühle und Fragen drohten sie zu brechen.
Sie fühlte, wie die Berührung auf ihren Lippen schwächer wurde. Und lehnte sich ihm entgegen. Sie spürte sein sanftes Seufzen über ihrem Mund. Seine Fingerspitzen, wie sie vorsichtig den ersten Knopf der Bluse lösten.
„So?“, fragte er leise und löste sich gerade so weit von ihr, dass sie sein Flüstern über ihre Lippen kitzeln fühlen konnte.
Ihr Herz tat einen aufgeregten Satz und begann noch heftiger zu schlagen, als zuvor. Anspannung machte sich in ihr breit, zog sich fest durch ihre Glieder. Anspannung und Aufregung, die gelöst werden wollte.
Jetzt noch umzukehren erschien ihr unmöglich. Es fühlte sich zu gut an. Dieser Funken von all dem, was sie so vermisste. Wieder lehnte sie sich tiefer in ihn hinein, drückte ihre Lippen fester auf seine, merkte dabei kaum, wie sich ihre Hand unter seinem seidenglatten schwarzen Haar in seinen Nacken schob. Sie fühlte seine zweite Hand an ihrer Wange und ihr Herz flatterte für einen Moment auf. Sie wanderte etwas tiefer, zu ihrem Hals hinunter, der Daumen strich sanft über ihre Kehle.
Ihr Kuss gewann an Intensität und sie verloren den restlichen Abstand zueinander. Mit jeder Berührung, jeder Bewegung ihrer Lippen, verschwand ein Bild aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Sie waren keine Kinder mehr. Und jede Berührung machte dies unmissverständlich klar. Der Kuss raubte ihr Angst und letzte Zweifel – und ebenso ihre Vernunft. Ehe sie sich versah, war ihr Hemd verschwunden. Kalte Fingerspitzen strichen langsam über ihr Schlüsselbein hinunter. Eine Gänsehaut überzog sie, überall begann es aufgeregt zu kribbeln. Alles war so plötzlich und trotz der eigenen Provokation so unerwartet, aber es fühlte sich gut an.