Faust?
Der einsame Professor
Eines Abends, Heinrich Handlos ging deutlich auf die Sechzig zu, kam er nicht von den Gedanken los, wie er seinen Geburtstag begehen wollte. Sicher, im Institut würde er eine Einladung geben und sie würden ihn würdigen und ehren, das gehörte sich so. Schließlich war er Professor für mittelalterliche Geschichte und in seinen Kreisen hoch angesehen. Aber sonst? Ein schönes Abendessen mit seinen Freunden, drei, mehr waren es nicht. Seine Schwester würde kommen, mit Familie, aus dem Rheinland, da kam er her. Und was hatten andere für 60er zu feiern?! Heinrich geriet immer mehr ins Grübeln, über sich, über sein Leben. Frauen? Ja, da hatte er einmal was. Das war wohl fast dreißig Jahre her. Die akademische Karriere? Er forschte an einem Thema, von dem er glaubte, dass man die Geschichte des frühen Mittelalters Mittel- und Westeuropas umschreiben müsste, wenn er die Studien abgeschlossen hätte. Er hatte schon einige Bücher zu seinen Studien veröffentlicht, in dem er seine bahnbrechenden, ja revolutionären Thesen zusammenfasste. Das Letzte davon, ein brillantes Meisterwerk mit großem, sehr anerkennendem Echo in der Wissenschaft, hatte eine Auflage von 3.500 Exemplaren, davon fast die Hälfte verkauft! Sollte das nun die Bilanz seines Lebens sein? Soll das alles gewesen sein? Die Jahre der Studien, der Vertiefung. Das Lernen verschiedener alter Sprachen, die Einarbeitung in Spezialgebiete wie der Numismatik, der Heraldik, der Theologie, der Philosophie dieser Epoche, der verschiedenen archäologischen Disziplinen, das Aufspüren und Auswerten Hunderter Quellen in ganz Europa, und, und, und, … wofür? Für 3500 Bücher? Für nicht mal 2000 Leser? Für ein Alter in Einsamkeit?
Es gab in Europa wohl kaum einen zweiten Professor, der es mit ihm an Gelehrsamkeit, an Weitblick, an philosophischer Schärfe und Tiefgründigkeit aufnehmen konnte – und kaum ein halbes Dutzend Menschen, die mit ihm feiern wollten? Er ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab, versuchte sich zu beruhigen. Ließ seinen Ärger an wertvollen Büchern und archäologischen Kostbarkeiten ab, wobei er freilich sorgsam darauf achtete, dass kein echter Schaden entstand. Schließlich trommelte er mit seinen Fäusten verzweifelt auf den Türrahmen ein und schrie: „Was zum Teufel habe ich denn falsch gemacht, was habe ich nur verbrochen, dass …?“, als er eine Stimme vernahm. „Heinrich? Heinrich! Was ist mit dir?“. Er erschrak, denn er wähnte sich alleine, so wie jeden Tag. „Heinrich, erschreck` dich nicht!“, ein Mann von eigentümlich eleganter Erscheinung, stand im Raum und lächelte ihn an. Er hatte ein etwas bleiches Gesicht mit hohen, schmalen Augenbrauen, einen Spitzbart und trug eine altertümlich wirkende Kappe mit einer langen Feder. „Wer sind sie? Was wollen sie? Wie kommen sie überhaupt hier herein?“ stammelte der Professor in einer Mischung aus Überraschung, Empörung und Angst. „Heinrich - Herr Professor, sie haben mich doch gerufen! Ich bin nur gekommen um ihnen zu helfen“ sagte der Fremde mit unpassend freundlicher Stimme. „Ich habe niemanden gerufen! Wer sind sie und was wollen sie?!“ „Mein lieber Herr Professor, sie sind ein gebildeter Mann, haben sie ihren Goethe nicht gelesen?“ Der Teufel?! Sollte das etwa der Teufel sein? Der Professor war ein rationaler Mensch und hielt diese Erscheinung für offensichtlich nicht real, soweit war es also schon mit ihm gekommen. Er ging einen Schritt auf den Fremden zu, streckte seine Hand nach ihm aus aber – tatsächlich, da war jemand, kein Trugbild, kein Hirngespinst, eine physische Gestalt. Der Professor war durcheinander, fassungslos und schrie: „Ich habe nicht nach ihnen gerufen, ich will nicht, dass sie mir helfen, ich will dass sie sofort verschwinden. Was wollen sie von mir? Meine Seele?“. Der Fremde verzog den Mund und antwortete in einem unpassend wohlwollendem, fast schleimigen Ton: „Heinrich, mein lieber Herr Professor, was glauben sie von mir zu Wissen? Haben sie irgendeine Ahnung, wer ich bin? Haben sie irgendeine Ahnung was meine Motivation ist? Ihre Seele? Was denken sie denn? Ich, habe sie reden hören, habe sie klagen hören, ich spüre ihre Unzufriedenheit in jeder Faser – das ist es doch, was ihre Seele gefangen hält. Was soll ich denn mit ihrer `Seele` - sie haben keine Ahnung von meiner wirklichen Natur. Ich kann ihnen helfen und ich meine das völlig ernst! Lassen sie uns setzen, lassen sie uns reden“. Der Professor war sprachlos und so setzte er sich und der Fremde setzte sich zu ihm. „Herr Professor, damit wir besser miteinander reden können: Nennen sie mich nicht den `Teufel`. Das bin ich nicht, das klingt auch so negativ. Wenn sie wollen, sagen sie `Mephisto` zu mir, schließlich sind sie hochgebildet. Das ist zwar nicht mein richtiger Namen, aber das klingt viel angenehmer. Meinen sie nicht, dass ich nicht auch eine verletzliche Seele habe?“ und er lächelte. Der Professor schenkte sich einen Rotwein ein und Mephisto sagte: „Ich mag selbst ein Geist sein, doch dem Geist des Weines bin ich nicht abgeneigt“. Der Professor schenkte ihm ebenfalls ein Glas ein und sie begannen ein Gespräch. Nie hatte der alte Professor ein verständnisvolleres, empathischeres Gegenüber erlebt und so begann er, Vertrauen zu fassen und sich zu öffnen. Und klagte über den Mangel an öffentlicher Anerkennung für seine Leistung, darüber, dass sich nur so wenige Studenten in seine Vorlesungen verirrten und darüber, dass er so einsam wäre, obwohl er doch so viel zu erzählen hätte – ja und über seinen mangelnden Erfolg beim anderen Geschlecht. Und was hatte er nicht alles gehört über die Weibergeschichten von manchen Kollegen. Kollegen, die ihm intellektuell auch nicht annähernd das Wasser reichen könnten. Ja, und unter seinen wenigen Studenten, seien noch weniger Studentinnen zu finden. Und noch weniger dieser Studentinnen fände er attraktiv, mit einer Ausnahme: In seinem Seminar befände sich dieses Semester eine junge Frau, die hätte es ihm angetan, die würde ihm gefallen – sie hieße wohl `Margarete` - aber das Interesse wäre wohl sehr einseitig und außerdem würde es seinem Berufsethos widersprechen. Mephisto hörte sich seine Geschichten lange an, signalisierte ihm aber immer wieder seine Sympathie und sein Mitgefühl. Schließlich sprach er: „Heinrich, ich muss jetzt gehen. Ich werde dir helfen, glaube mir. Du hast morgen am Nachmittag Vorlesung, ich werde danach auf dich warten.“ Und – `plopp`- so wie er aufgetaucht war, so war er verschwunden. Heinrich wusste nicht recht, was er denken sollte. Der `Teufel`? Welch ein Unsinn, den Teufel gab es nicht. Und wenn schon, Mephisto hatte ja recht, auf seiner Seele lag ein Schatten und was hätte er verlieren können außer seine Unzufriedenheit?