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Nach dem Prompt „Inlandtaipan“ der Gruppe „Crikey!“
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Neugierig blinzelte Jilbia in das schmerzende Helle. Ihre Augen wollten ihr kaum gehorchen. Die Farben stachen sie und ein unangenehmer Druck bildete sich in ihrem Kopf, während ihre Augen tränten.
"Lass die Augen noch zu", sagte ihre Mutter sanft.
"Ich will es aber sehen!" Seit sie denken konnte, fieberte Jilbia diesem Tag entgegen. Sie hatte all die Geschichten von der Welt der Farben aufgesogen und sich vorgenommen, nicht 'geblendet' zu sein, sondern die Welt direkt von Anfang an zu erblicken.
Nun tat es aber so weh, dass sie schließlich aufgab und sich an der Hand ihrer Mutter führen ließ. Ihre Füße stolperten über Erde, die warm war wie sonst nur ganz unten in der Tiefe. Sie spürte ein Streicheln am ganzen Körper und hörte neue Geräusche: Rascheln und Kreischen und Zwitschern und Trällern ... Ganz langsam blinzelte sie und sah zunächst auf den Boden, wie es ihnen vor dem ersten Aufstieg immer geraten wurde.
Und was für ein herrlicher Boden das war! Sie stellte fest, dass ihre Füße ganz anders aussahen. Und der Boden auch. Überall waren so viele Farben!
"Du bist gelb", erklärte ihre Mutter ihr grinsend. "Und der Boden ist braun. Und sieh mal, die Bäume sind grün."
"Grün", wiederholte Jilbia. Sie mochte die Farbe. Aber noch mehr mochte sie das darüber. "Ist das auch grün?"
"Nein, Schatz, das ist blau. Das ist der Himmel."
Mit großen Augen sah Jilbia hinauf. Sie hätte nie gedacht, dass Farben so wunderschön wären. So unterschiedlich. So vielfältig!
"Warum leben wir nicht immer hier?", platzte es aus ihr heraus.
Ihre Mutter seufzte traurig. "Das geht nicht, mein Schatz. Wir Wongarra sind giftig. Die Womarry fürchten uns."
"Aber wir tun ihnen doch gar nichts!" Jilbia ließ den Blick weiterhin über die vielen Farben und Formen gleiten. Das war so viel schöner als unten in den Höhlen, wo es nur manchmal weiße Leuchtflechten oder graue Teiche gab, und sonst nur Schwärze! Sie wollte in dieser warmen Welt hier bleiben.
Ihre Mutter drückte ihre Hand. "Jetzt haben wir ein paar Wochen an der Oberfläche, bevor die Womarry mit der Regenzeit zurückkehren. Lass dir deine erste Farbenzeit nicht von solch düsteren Gedanken verderben. Komm, ich zeige dir die Steppen und die Wasserlöcher und all die Tiere - aber denk an die Regeln!"
"Wir lassen keine Spuren zurück", sagte Jilbia und nickte ernst. "Wir nehmen nur das an Nahrung, was sich auch ein Tier nehmen könnte. Und wir gehen rechtzeitig wieder unter die Erde, damit der Regen unsere Spuren verwischt."
"Und, ganz wichtig, mein Kind: Du darfst nichts und niemanden beißen. Du bist jetzt alt genug, dass dein Gift zu wirken beginnt. Lass den Mund also immer geschlossen, wenn du in der Nähe anderer Lebewesen bist."
Dann nahm Jilbias Mutter wieder ihre Hand und ging mit ihr sehr langsam in den Wald hinein, während das kleine Mädchen sich all die Farben und Pflanzen und Tiere neugierig ansah. Sie sahen andere Wongarra, die an anderen Stellen aus der Erde gekommen waren. Die meisten waren olivgrün bis gelb mit schwarzen Punktstreifen wie Jilbia und ihre Mutter, andere hatten die bräunlichen Erdfarben noch nicht völlig abgelegt. Selbst die Erwachsenen blinzelten, als sähen sie die Oberfläche zum ersten Mal.
Wenn sie das Kind bemerkten, trat ein liebevolles, wehmütiges Lächeln auf ihre Lippen, denn wie wussten, dass das kleine, gelbschwarze Schuppenkind die Wunder der Farbenzeit ganz neu entdeckte. Und womöglich erinnerten sie sich an ihren eigenen ersten Ausflug, an all die Fragen und Traurigkeit, weil ihnen diese Schönheit nur für einige wenige Wochen geschenkt war, wenn das Land so heiß wurde, dass die Womarry es verließen. Ein ganzes Volk verbarg sich unter der Erde, doch ihnen blieb keine andere Wahl. Wenn sie überleben wollten, mussten die Wongarra zu Legenden der Womarry werden.