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Nach dem Prompt „Tannenzapfenechse“ der Gruppe „Crikey!“
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Die Zeit des Navirats überstand er gut. Vielleicht, weil das Leben in dieser trockenen Wüste trotz der kurzen Tage nur wenig Ähnlichkeit mit dem Lichterfest in Erwins Heimat zu tun hatte. Doch dann, eine Woche später, als daheim das neue Jahr beginnen sollte, traf das Heimweh ihn mit der Wucht eines durchgehenden Pferdes.
Der Tag begann wie jeder andere. Kein Wunder, die merkwürdigen Echsenmenschen, die ihn nach dem Schiffbruch aufgenommen hatten, kannten ganz andere Feiertage. Sie hatten noch nie von Thyrmal gehört. Erwin war zwar nicht besonders gläubig - der frühe Tod seiner Eltern hatte ihm alle anerzogene Gläubigkeit genommen - doch nun begann er, die vertrauten Rituale zu vermissen. Er war darauf vorbereitet gewesen, dass dieses leere Winterfest ihm zusetzen würde. Doch dann war es vorbeigezogen, ohne dass viel passiert war.
Jedenfalls bis zum Neujahrsfest, das hier auch nicht existierte. Es war ein Tag wie immer. Die Sonne stand glühend heiß über einer roten Wüste, wo sich kaum Pflanzen halten konnten. Dies war der Winter in Alactora. Die Sommer sollten noch heißer sein, wenn er die umständliche Kommunikation mit den Einheimischen richtig gedeutet hatte.
Sie sprachen seine Sprache nicht. Er sprach die ihre nicht. Über die Monate hatte er einige wenige Begriffe gelernt, doch Erwin war längst zu alt, um eine neue Sprache zu lernen. Es fiel ihm schwer. Er hatte sein Leben auf See verbracht und nichts neues mehr gelernt, seitdem er als Schiffsjunge angeheuert hatte.
Und jetzt war das Schiff gesunken. Erwin hatte seine Gefährten beerdigt und saß seitdem hier fest. Langsam fragte er sich, wenn er wieder einmal mit juckenden Augen den Horizont beobachtete, warum er noch keine Segel gesehen hatte. Es mussten doch auch andere Schiffe diesen Weg wählen. Keine Handelsschiffe, nein, doch Abenteurer. Wieso kam einfach niemand?
Wenn er nicht auf Rettung hoffte, half er im Dorf aus. Er flocht Weidenkörbe, nahm die Beute aus, lernte sogar halbherzig, mit dem Wurfstock der Jäger umzugehen. Ein Bumerang, der auf geradezu magische Weise zu seinen Werfern heimkehrte. Nur nicht zu ihm. Erwin hatte kein Talent, seine Handgelenke waren zu steif.
Da sein Lehrer den Unterricht zunehmend aufgab, trug Erwin danach die getrockneten Beeren herum, sodass jeder etwas zu Essen hatte - auch jene, die ihre Hütten nicht verlassen konnten. Einer davon war eine alte Frau, vor deren Hütte immer eine der merkwürdigen Echsen lag, deren braune, gekeilte Schuppen so gar nicht wie die Schuppen von Eidechsen wirkten.
Erwin stolperte mitten im Schritt, als er schlagartig begriff, woran ihn diese Schuppen erinnerten. Die Echse entblößte fauchend die blaue Zunge, weil er sie anstarrte, bequemte sich allerdings nicht aus der Sonne. Vor Erwins Blick verschwamm sie in Tränen und sah noch mehr wie ein Tannenzapfen aus. Gerade der kurze, verdickte Schwanz: Erwin sah noch gut das Kiefernmännchen vor sich, das er als kleiner Bub gebastelt hatte, um es zu den Tannenzweigen und getrockneten Apfelringen zu legen, die nach dem Winterfest die Fensterläden bevölkerten und sanften, aromatischen Duft verströmten. Er konnte diesen Duft seiner Kindheit plötzlich riechen, als wäre hier, in diesem Land des Sandes, die Vergangenheit lebendig geworden.
Wie lange er so auf der Erde kauerte, wusste er nicht. Irgendwann bemerkte er, dass jemand ihn umarmt hielt und sanft wiegte. Erwin schreckte auf und sah in das Gesicht einer der Kriegerinnen. Ein schuppiges, flaches Gesicht mit einem breiten, lippenlosen Mund. Fremd, entsetzlich, gerade nach den Bildern der Vergangenheit. Dann jedoch sah er den Ausdruck in ihren gelben Augen, die warm strahlten wie die Fenster der Kirche an einem verschneiten Wintertag, und der kurze Schrecken verflog.
Sein Atem hatte sich beruhigt. Die Kriegerin, Bunbarrah, stellte eine leise Frage, die Stimme warm vor Mitgefühl und Sorge.
Die Worte kannte Erwin nicht, doch sie erschlossen sich ihm. Er sah zu der Echse. Diese lag noch immer platt im Sand und blinzelte ihn träge an. Eine hässliche Wahrheit, die sich nicht verziehen würde. "Heute ist ... ein besonderer Tag in meiner Heimat", sagte er leise. Und dann, in der Sprache der Leute hier, stammelte er: "Wichtig. Tag wichtig."
Bunbarrah nickte verstehend. Die Echsenmenschen mochten tierisch aussehen, doch sie waren unfassbar klug. Ihre trockenen, rauen Hände strichen über seinen Arm, dann sagte sie zwei Worte, die er kannte: "Geschichte Tag?"
Erwin lächelte tapfer, keuchte, kämpfte gegen weitere Tränen. "Ja!", sagte er strahlend, weinend. "Ein Tag der Geschichten. Heute stirbt das alte Jahr. All unsere Taten werden ausgewogen. Wir versuchen, das Böse hinter uns zu lassen und das Gute festzuhalten, doch ob es gelingt ..."
Es war zweifelhaft, ob Bunbarrah seinen Redefluss begriff. Seufzend gab Erwin es auf.
Seit Monaten war er hier. Das Erntedankfest hatte er bereits verpasst. Das Winterfest. Er sah des nachts fremde Sterne am Himmel und lebte tagsüber unter fremden Sonnen. Die Monde zogen kalt und ohne jeden Zauber vorbei. Erntemond, Schobermond, Schneefall - welchen Sinn ergaben sie an einem Ort, wo kein Schnee fiel? Keine Ernte eingefahren und in Schober gefüllt wurde? Erwin hatte sich auf der See wie ein Mann ohne Wurzeln gefühlt, doch erst hier, wo das Land selbst ihn abzuweisen schien, begriff er, dass seine Wurzeln früher immer bei ihm gewesen waren. Sie lagen in den anderen Lirhajnern auf dem Schiff, in ihren Traditionen, in Sprichwörtern, geteilten Liedern.
Hier dagegen war er taub und stumm.
Als er wieder zu weinen begann, obwohl er es doch gar nicht wollte, stand Bunbarrah auf. Sie umfasste seine alten, knotigen Finger mit ihren dünnen, geschuppten Reptilienhänden, die schmal und lang und krallenbewehrt waren. Sanft zog sie ihn mit sich zu einer der Hütten.
Hier wohnte niemand. Erwin hatte das Haus abseits des Dorfes nie betreten und auch nie jemanden hinein oder heraus gehen sehen. Die Hütte lag einsam im Schatten eines der wenigen Felsen, ein rauer, roter Stein, flach und sandigglatt.
Nun schlug Bunbarrah den Vorhang aus trockenen Blättern beiseite und offenbarte, dass das Haus am Felsen in Wahrheit den Eingang zu einer Höhle verbarg. Erwin stolperte überrascht, denn ein Gang führte in die Tiefe, wo er bereits die Öffnung einer größeren Höhle erahnte. Über eine Treppe aus ausgetretenen, vom Alter schiefen Stufen folgte er Bunbarrah hinunter in eine Tiefe, die sich zu Schwärze wandelte, als der Vorhang oben wieder über den Eingang fiel.
"Steh", sagte Bunbarrah und legte beide Hände in der Dunkelheit auf seine Brust. Dann hörte er sie herumgehen und ein Klappern, das er schnell erkannte. Das waren Rasseln, die die Echsenmenschen aus den Schuppen der Tannenzapfen-Echsen herstellten, wenn diese ihre Haut abwarfen oder starben. Bunbarrah schwang offenbar solche in der Dunkelheit, deren Echo von allen Seiten zurückgeworfen wurde. Der rasselnde Lärm schwoll an, bis Erwin glaubte, die Geräusche als wellenartigen Widerschein auf den Felsen leuchten zu sehen.
Nein, er täuschte sich nicht: Die Felswände begannen zu leuchten, von innen heraus. Nach und nach wurde es heller, pulsierend, im gleichen Maße, wie die Rasseln erklangen, bis Bunbarrah die Rasseln schließlich sinken ließ. Das Licht war gleichmäßig geworden und blieb trotz der sich entfaltenden Stille. Es wurde nur etwas blasser. Dennoch erkannte Erwin einen nahezu runden Raum mit gefalteten, unebenen Wänden. Sie waren von milchigem Weiß, und vor dem Licht schimmerten bunte Kreidelinien, die Menschen, Tiere und Waffen zeigten, Linien in Blau, Rot und Grün, Violett und Braun, gepunktete Pfade und Sterne.
Langsam drehte Erwin sich im Kreis, den Kopf mit offenem Mund zur Decke gerichtet. "Was ist dieser Ort?"
Seine Stimme hallte flüsternd nach. Die Wände flackerten zur Antwort auf. Es gab nur wenige Stellen ohne Bemalung.
"Geschichten", antwortete Bunbarrah. Sie trat an eine Zeichnung, die sehr deutlich eine Tannenzapfen-Echse zeigte. Jede Schuppe war liebevoll gezeichnet und noch dazu mit Punkten bemalt. Dieses Tier schien riesig zu sein, denn die Menschen überragten nicht einmal seinen Rücken. Ratlos standen sie vor der großen Echse, die offenbar eine Stelle zwischen zwei Bergen versperrte.
Und dann begann Bunbarrah, zu erzählen. Sie sprach langsam und ruhig, nutzte einfache Worte. Es waren Worte für kleine Kinder, Worte, die Erwin trotzdem kaum verstand. Doch jedes Wort ließ die Wände aufleuchten. In diesem Licht folgte er Bunbarrahs krallenbewehrten Fingern, die über Farben und Gestein strichen. Und lernte. Tiliq, bei diesem Wort tippte sie immer auf die Echse. Das war ihr Name. Tiliq müde. Tiliq faul. Die Echsenmenschen waren darum sehr traurig, denn sie wollten auf die andere Seite der Berge. Sie waren Jäger. Mit der Beute kamen sie heim von der Jagd. Jenseits der Echse, hinter Tiliq, da wartete ihre Familie.
Tagelang warteten die Jäger, dass die Echse sich bewege. Sie flehten sie an. Drohten ihr. Stachen sie mit den Speeren, die den Panzer nicht zu durchdringen vermochten. Die Familien auf der anderen Seite hungerten, die Jäger verzweifelten. Sie boten der Echse von ihren Speisen an. Sie sammelten ihr Beeren, schenkten ihr Fleisch. Doch Tiliq rührte sich nicht.
Erwin lauschte, wie gebannt von der Erzählung. Dann sagte Bunbarrah ein Wort, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Heute.
Heute Tag Tiliq geht.
Bunbarrah legte die flache Hand auf die Zeichnung der Echse und bewegte sie dann nach oben. Mit der anderen Hand bedeutete sie, dass die Jäger endlich in das Tal kamen. Die Beute wurde geteilt, die Familien wieder vereint. Die Freude schwang in Bunbarrahs Worten mit, dann lächelte sie.
"Wichtig Tag. Klein wichtig, aber wichtig."
Erwin nickte, noch nicht fähig, zu sprechen. Die Echse bedeckte nur einen kleinen Teil der Wände. Es gab andere Zeichnungen, viel, viel größer.
Er trat an die Felswand. Jeder Schritt sandte Lichtwellen über den Boden der Höhle. Dann legte er die Hand vorsichtig auf die Tannenzapfen-Echse.
"Heute."
"Heute." Bunbarrah nickte. "Heute Tag Tiliq geht." Sie machte einen Schritt zurück und machte eine Geste, die die gesamte Zeichnung mit der Echse einfasste. "Geschichte Bunbarrah." Sie wies auf eine unbemalte Stelle am Fels. "Geschichte Erwin, ja?"
"Meine ... Geschichte?"
Bunbarrah umfasste seine Hände sanft, führte sie auf den unbeschriebenen Fels. "Geschichte hier."
Von diesem Tag an war alles anders. Erwin merkte, dass ihm die Sprache der Echsenmenschen plötzlich viel logischer, viel einfacher erschien. Seine Handgelenke waren mit einem Mal doch flexibel genug, einen Bumerang so zu werfen, dass er heimkehrte. Irgendwann, als die Männer ihn erstmals auf eine Jagd einluden, fragte er sich, wann er zuletzt am Ufer gesessen und nach Segeln auf dem Meer gesucht hatte.