Sie war wieder voller Begeisterung, wie bei allem, was ihr Neues im Leben begegnete: „Kai, das musst du unbedingt mit mir machen!“, lachte sie ins Telefon. „Nee, quatsch, natürlich umgekehrt, ich mit dir!“
Kai, am anderen Ende der Leitung, verdrehte die Augen. Seit Karoline mit ihrer Coaching-Ausbildung angefangen hatte, war er Coachee Nummer eins. Oder wie er heimlich dachte: Versuchsopfer. Immer wieder forderte seine beste Freundin ihn auf, herzuhalten, damit sie ihre neuesten Interventionen an ihm üben könnte. „Karo, meinst du wirklich, das ist eine gute Idee? Beim letzten Mal wolltest du an meinen Rückenschmerzen coachen und dann habe ich mir abends beim Kochen in den Finger geschnitten.“
„Und, hat dir der Rücken dann noch weh getan?“
Er musste beipflichten, sein Rücken war danach wirklich besser geworden. Aber er empfand es einfach nur als spooky, was sie mit ihm da anstellte. Von „Fluchtreflex“ sprach sie, weil er es einfach für besser hielt, Single zu sein, anstatt sich in irgendwelche Abenteuer zu stürzen, die nach ein paar Wochen in Liebeskummer endeten. Wie waren sie damals denn nur auf sein Single-Dasein als Thema gekommen? Er glaubte schon, dass alles, was sie machte, ihm einfach nur helfen sollte, endlich den Mann fürs Leben zu finden. Doch die Suche hatte er aufgegeben. Die letzten drei Anläufe, in denen die Vertrautheit der Beziehung vom anderen Kerl bereits nach wenigen Wochen um mindestens einen weiteren Mann erweitert wurde, natürlich ohne ihn einzubinden, hatte ihn den Entschluss fassen lassen, dass es viel besser ist, alleine zu sein.
„Hallo, bist du noch da?“, riss sie ihn aus seinen Gedanken.
„Jaja, unter einer Bedingung!“
„Ok, welche?“, freute sie sich bereits.
„Du verkuppelst mich nicht und wir reden nicht über Liebesabenteuer oder ähnliches.“
„Mmh“, es versetzte ihr wohl einen Dämpfer. „Also, was ich vorhabe, da habe ich keinen Einfluss darauf, um was es geht, oder so. Aber wenn es dein Thema nicht sein soll, dann wird es das sicherlich nicht sein.“
„In Ordnung. Heute Abend?“
„Jawohl, heute Abend. Soll ich noch was mitbringen?“
„Ähm, Moment“, er ging an den Kühlschrank. Viel war nicht drin, zwei Sorten Käse, Milch, drei Fertiggerichte. Er öffnete noch die Brotbox, in der nur noch ein Brotkanten lag. „Bringt Brot mit.“
„Du isst wieder mal nichts, oder?“ Sie kannte ihn recht gut, Essen war ihm nicht sonderlich wichtig. „Ich bringe was mit. Bis später.“
„Bis später“, wollte er noch antworten, doch sie hatte bereits aufgelegt.
Es wurde gerade dunkel, als es an der Tür klingelte. Er öffnete und hörte sie die Treppe hochgehen. Sie schnaufte schwer, was nicht verwunderlich war, denn sie hatte zwei riesen Tüten voll mit Lebensmitteln.
„Warum“, sie musste erst Luft holen, „warum müssen alle Schwulen ganz oben wohnen? Hallo Kai.“
„Hallo Karo“, er wusste nicht, ob er ihr zuerst die Taschen abnehmen sollte, oder sie umarmen. Er entschied sich für Letzteres.
„Nimm mir doch erst mal die Tüten ab, sonst kann ich dich gar nicht drücken!“
„Das war Sinn der Übung“, feixte er.
Da stellte sie die Tüten ab und drückte ihn so fest an sich, wie sie konnte.
„Autsch, mein Rücken!“
„Spinner!“, sie wusste, dass er scherzte.
„Also, komm rein. Ich bin schon sehr gespannt, was mich heute erwartet.“
„Salat und selbstgemachtes Pizzabrot.“
„Ich dachte eigentlich an dein Coaching.“
„Wir finden dein Thema.“ Sie räumte eine der beiden Taschen in der Küche aus und ohne ihn anzublicken meinte sie: „Und verdrehe nicht die Augen.“
„Manchmal machst du mir Angst.“ Doch in Wahrheit genoss er es, mit ihr eine Freundin zu haben, die ihn nicht nur sehr gut kannte, sondern auch vollkommen ungezwungen war. Nie kam ihnen beiden auch nur die Idee einer Beziehung in den Sinn, zum einen, weil Kai nichts von Frauen wissen wollte, zum anderen, weil Karoline lieber mit schwulen Freunden abhing, als sich selbst um einen Mann zu kümmern. Vielleicht war sie es, die eigentlich Hilfe brauchte? Immerhin versuchte sie es hin und wieder, doch meistens verliebte sie sich in einen, der dann plötzlich merkte, dass er es vorher lieber noch einmal schnell mit einem Mann ausprobieren wollte. „Wenigstens einer von uns beiden muss mal richtig glücklich werden“, sagte sie in solchen Momenten und meinte meist Kai damit.
Sie fing an zu kochen, wusste sie doch, dass er nur eine Mikrowelle sicher bedienen konnte. Er deckte den Tisch und richtete alles, doch der Pizza-Teig musste erst noch gehen. „Lass uns solange ins Wohnzimmer gehen“, und schritt voran, Kai folgte ihr.
„So, was machen wir denn heute?“
„Also erst einmal die Heizung noch ein wenig hochdrehen. Frierst du nicht?“
„Entschuldige, ich wollte früh ins Bett, da habe ich dann nicht...“
Sie ließ das unkommentiert und drehte die Heizung voll auf. Dann nahm sie ein Kartenspiel und ein kleines Büchlein aus ihrer Handtasche und setzte sich im Schneidersitz so aufs Sofa, dass sie ihn direkt anschauen konnte. „Also, dass hier sind Themenkarten, aber keine gewöhnlichen. Sie orientieren sich, ähnlich wie Tarot, an den Archetypen menschlichen Daseins, allerdings geht es weniger um Charaktereigenschaften als um das, was das Leben ausmacht und wie man das erreichen kann. Und weil es um das Unterbewusste geht, heißt es auch Träume-Tarot.“
Kai ahnte Schlimmes. „Also zweiundfünfzig Stück Hokuspokus für Mitternacht?“
„Nenne es Hokuspokus, ich nenne es Fügung des Universums. Denn das weiß, was du brauchst.“
„Und ich dachte, ich bestelle mir beim Universum, was ich will. So hattest du mir es doch das letzte Mal erklärt, oder?“
„Schon, aber das große Ganze ist gegeben.“
„Aha. Wer auch immer es gegeben hat, wahrscheinlich du selbst, wenn du gleich Karten gibst.“
Sie schien tatsächlich zu überlegen, wieder einzupacken. Doch dann lächelte sie und dieser Gedanke, den sie nicht aussprach, ließ sie offensichtlich weitermachen. Vorsichtig, als wäre es ein besonderer Schatz, legte sie den Kartenstapel vor ihm hin. „Mische die Karten drei Mal.“ Ihre Stimme war plötzlich ernst und sanft. Der Wechsel war so stark, dass sich Kai davon in den Bann ziehen ließ, die Karten aufnahm und sie wie gewünscht in der Reihenfolge mischte. Sie nahm den Stapel wieder an sich und breitete die Karten mit dem Rücken nach oben auf dem Sofa aus. „Ich bitte dich gleich, verschiedene Karten mit deiner linken Hand zu ziehen, dann kommt es von Herzen. Folge einfach der Intuition. Schaue nicht auf die Karte, sondern gib sie dann einfach mir.“ Er nickte. „Zuerst wähle die Karte für deinen größten Wunsch.“ Er bewegte seine Linke über die Karten und fühlte sich tatsächlich zu einer hingezogen, die er ihr hinschob. Vorsichtig legte sie diese auf die Mitte des Couchtischs. „Wähle eine Karte für das größte Hindernis.“ Wieder wählte er. „Wähle eine Karte für die Lösung.“ Das Gefühl, die richtige Karte gewählt zu haben, war sofort da. „Und jetzt drehe alle Karten um und wähle eine Karte für die Hilfe.“
„Ganz bewusst wählen?“ Sie nickte und er schaute sich alle Karten an. Merkwürdige Zeichnungen waren darauf abgebildet, schwer erkennbar durch die vielen Schnörkel, gleichzeitig sahen sie aus, als hätte sie jemand aus einem alten Buch herausgerissen. Er fand eine, die ihm gefiel und gab sie an Karoline.
„Dann wollen wir mal schauen.“ Sie nahm das Büchlein zur Hand.
„Was, du musst das ablesen? Also als Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt wirst du so nicht arbeiten können.“
Doch sie war so konzentriert, dass sie nicht darauf reagierte, drehte die erste Karte um und lächelte. „Dein größter Wunsch ist das hier“, und hielt ihm die Karte unter die Nase.
Kai konnte es nicht fassen. Es waren zwei Wesen abgebildet, die durch die vielen Verzierungen aussahen wie Engel. Um sie legte sich ein Band. Eindeutig ein Liebespaar, und so dargestellt, wie er sich eine Liebesbeziehung vorstellte. Bewegte sich das Band? Nein, das konnte ja nicht sein.
„Dein Unterbewusstsein hat ganz offensichtlich etwas anderes vor als du.“
„Ich kann dir auch noch vorlesen, was in dem Buch dazu steht.“ Sie wartete gar nicht auf sein Okay. „Also: Nur ein Glück auf dieser Welt kann so viel größer werden, wenn es geteilt wird: das der wahren Liebe. Es muss der Reinheit entspringen und nicht das Äußere soll ziehen, sondern der gemeinsame Herzschlag, das intuitive Wissen, im Anderen oder in der Anderen aufgehoben zu sein, wie sonst nirgendwo.“
Der Text berührte ihn, es war auf den Punkt das, was er sich immer gewünscht hatte. Aber mussten nicht zwei genau das suchen? Er konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen, denn Karoline hatte schon die nächste Karte in der Hand.
„Kommen wir zu deinem Hindernis.“ Sie musste beim Blick auf die Karte laut lachen. „Ich wusste gar nicht, dass du ein kleiner Narziss bist!“
Er grapschte ihr die Karte aus der Hand. Es war eine Figur, die in einen Spiegel schaute. Doch das Gesicht, das im Spiegel zurückblickte, sah nicht glücklich aus. Ein Narziss war das sicher nicht, eher jemand, der sich selbst im Weg stand. Er verzichtete, sie zu korrigieren, stattdessen sagte er: „Das Kartenspiel ist unverschämt!“
„Soll ich...“, sie blätterte schon in dem kleinen Büchlein nach dem Text zum Vorlesen.
„Nee, lass. Ist ja eindeutig.“ Er wollte nicht hören, dass er selbst für seinen traurigen Zustand verantwortlich ist.
„Na gut. Dann kommen wir zur Lösung.“ Sie schaute auch hier zuerst alleine auf die Karte. „Ho-hooo!“ Sie hob die Augenbrauen und drehte ihm die Karte zu. Ein brüllender Löwe schaute ihn an und er meinte, dass die symbolhaften Flammen, die der Karte als Zierde dienten, loderten. „Habe ich es dir nicht schon oft genug gesagt? Ran an den Speck!“, rief sie. Dann korrigierte sie sich: „Also ran an den Mann, natürlich“, und stupste ihn an, als müsste man ihm nur den richtigen Schwung geben. „Und zu guter Letzt: Was hast du gewählt, was dir hilft?“ Sie schauten gemeinsam auf die vierte Karte. Sie war wirr, als wäre sie nicht wirklich möglich, wie ein Irrgarten ohne Ausgang, aber mit Abkürzungen, wie ein Chaos, das einer Ordnung glich. „Mmh, die hatte ich jetzt auch noch nicht, da muss ich lesen.“ Sie blätterte, bis sie die Stelle in ihrem Buch fand, und zitierte: „Der, der steckenbleibt, braucht etwas anderes. Der, dem keine Idee gegeben, braucht das Licht aus etwas anderem. Der, der denkt, zu wissen, sieht nicht alles. Nur, wer sich den Raum mit Möglichkeiten füllt, findet den eigenen Weg. Wie sehr hilft das Unmögliche, was vielleicht nur im Traum erscheint?“ Sie starrte auf das Buch, dann auf die Karte. „Das sagt mir nichts, dir?“
„Ein Traum?“
„Träumst du denn?“
„Schon, aber meistens irgendwelche Dinge, die mich vom Tag noch beschäftigen.“ Er überlegte, fand jedoch keine Lösung. „Und jetzt?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn es dir nichts sagt, dann, äh, weiß ich jetzt auch nicht. Im Seminar wusste jeder sofort weiter.“
„Ob wohl der Pizzateig schon bereit ist?“
Wieder schubste sie ihn. „Lass mal, ich danke dir, ist vielleicht nicht meine Intervention. Unser Trainer wusste so viel mehr über die Karten.“
„Hast du den Trainer auf einem Jahrmarkt gefunden?“, höhnte er jetzt.
Sie streckte ihm nur die Zunge raus und verschwand in die Küche, betrübt, dass etwas nicht geklappt hat, wie sie wollte.