Den Samstag verbrachte er in seiner Wohnung. Mit diesem Gesicht wollte er einfach nicht vor die Tür, und die Probe mit der Band würde wieder jede Menge dummer Sprüche hervorbringen, auf die er liebend gerne verzichtet hätte. Aber was soll’s, wenn er seinen Bass in die Hardrock-Rhythmen spielte, war er zufrieden. Für sich selbst mochte er noch viel mehr, holte seine Gitarre hervor und zupfte ein wenig von allem, was ihm einfiel, summte dazu oder sang auch mal die ein oder andere Liedzeile. Doch niemals hätte er sich getraut, das auch auf einer Bühne zu tun. Da versteckte er sich lieber hinter den tiefen Tönen seines E-Basses.
Doch irgendwann war es soweit, dass er die sichere Umgebung seiner Wohnung verlassen musste. Zum Glück war es draußen schon dunkel und ihm begegnete niemand im Haus. Bis er wieder zurück wäre, würden wohl die meisten schon im Bett liegen. Es war der Vorteil, zwischen all den Rentnern zu leben.
Die Musik dröhnte schon aus dem Proberaum, den seine Band im Industriegebiet angemietet hatte, wobei wahrscheinlich nur der Lead-Gitarrist spielte. George war eine Rampensau erster Güte; spätestens nach dem dritten Lied zog er sich unter den bewundernden Schreien vieler Mädchen sein T-Shirt aus, auf dem meist irgendwelche japanischen Zeichen standen. Kai war sich nie sicher, ob sich T-Shirt-Verkäufer nicht einen Scherz erlaubten, und das Zeichen für „Idiot“ vielleicht total hübsch aussah. Und alles nur, weil George, eigentlich Georg, ein Fan von einem gewissen Masao war, ein japanischer Sänger aus England. Der war wirklich cool, Kai hatte mal ein Video von ihm gesehen. Er hatte auch eine tolle Figur, denn auch der zeigte auch mal Haut auf der Bühne. George dagegen war einfach nur ein schlaksiges Hemd dagegen, da konnte er auch noch so viel trainieren, wie er wollte.
„Hey, wir können endlich loslegen, unser Bassist hat es auch hierher geschafft.“ Nette Begrüßung. Er packte einfach aus, setzte sich an seinen Platz, zog seinen Hörschutz an, während George noch über ein Abenteuer mit irgendeinem Fangirl prahlte.
Sie spielten die Liste ab, die sie am nächsten Samstag bei einem Gig im Kulturkeller zum Besten geben wollten, und es lief richtig gut, bis er etwas zu tief in die Musik eingetaucht war und sich komplett verspielte. George, bereits ohne Shirt, drehte sich genervt herum. „Ey, Kai, träumst du oder was?“, schrie er ihn so laut an, als würden sie noch alle spielen. „Ach nee, was hast du denn da im Gesicht?“ Da schauten auch die anderen auf ihn und fingen an zu lachen. Doch für George war das noch nicht genug: „Hast wohl einen Kerl angebaggert, der nicht schwul ist?“, und der Schlagzeuger, sonst eigentlich ein stiller Genosse, setzte nach: „Oder einer, der schwul ist“, und mimte ein Kratzen, das tuckiger hätte nicht aussehen können.
Das Gegröle war jedenfalls groß und Kai seufzte vor sich hin: „Ja, ja, wer den Schaden hat, braucht für Spott nicht zu sorgen.“ Das „Sorry“ vom Drummer hörte er im Lachen der anderen nicht mehr. „Na los, spielen wir weiter.“ Ein kläglicher Versuch, sich wieder auf das zu konzentrieren, wofür er hier war: die Musik. Sie war alles, was hier zählte, und er war sich sicher, dass er nach dem nächsten Konzert diesen Typen hier den Rücken kehren würde.
Sie übten noch bis spät in die Nacht und er war beruhigt, dass sein Gesicht nicht mehr zum Thema wurde. Wie froh er war, als er endlich seine Wohnungstür hinter sich schließen konnte und im Bett lag. Ob er wieder träumen würde? Die Müdigkeit übermannte ihn und schneller, als er wollte, bekam auch schon die Antwort.
Wieder war er in diesem Wald, streifte umher. In der Nähe raschelte etwas im Gebüsch und er versuchte zu erkennen, was es war. Eine kleine Maus nagte an etwas. Lief ihm etwa das Wasser im Munde zusammen? Langsam pirschte er sich heran. Er hatte sie nicht kommen sehen, weder die schwarze Katze, die sich die Maus krallte, noch deren Freunde, die sich direkt über ihn hermachten. Gleich gegen mehrere Katzen versuchte er sich zu wehren, meist vergebens, mehrere Hiebe bekam er ab, und herausgerissenes Katzenfell, das meiste von ihm, flog umher. Schließlich gelang ihm die Flucht. Vollkommen außer Atem sah er den anderen zu, wie sie sich verzogen, und leckte seine Wunden. Er war heftig vermöbelt worden und versuchte, irgendwie aufzuwachen, um dem Wald zu entfliehen. Doch es gelang ihm nicht. In der Ferne nahm er wieder eine Bewegung wahr. Beobachtete ihn jemand oder hatte er sich getäuscht? Dann sah er das rote Fell der Katze, die auch gestern schon alleine unterwegs war. Sie bewegte sich auf ihn zu, Schritt für Schritt, ganz vorsichtig, als hätte sie auch ein wenig Angst zu gehen. Er ließ sie kommen, denn sie blickte ihn, anders als die anderen, liebevoll an. Endlich stand sie vor ihm und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er verstand es nicht. Sie miaute nur, aber sein Kopf konnte das nicht übersetzen. Es machte ihn wütend, dass er womöglich Hilfe bekam, sie aber nicht verstand. Der Ärger in ihm wuchs und zerrte ihn schließlich aus dem Traum heraus, bis er wieder das Licht am Bett einschaltete, beruhigt, wieder seine Hand zu sehen. Sein ganzer Körper tat ihm weh und er benötigte ein paar Minuten, um aufzustehen und nachzuschauen, wie es um ihn stand. Sein Spiegelbild erschreckte ihn: Im Gesicht waren zwei weitere Kratzer hinzugekommen, doch viel schlimmer waren die blauen Flecken auf seinen Rippen und weitere Kratzer am ganzen Körper. So konnte es doch nicht weitergehen, er war ja schier in Lebensgefahr, wenn er einschlief.
Zum Glück wurde es draußen schon hell. Er versorgte also seine Wunden und würde, da er großen Hunger hatte, erst einmal beim Bäcker Sonntagsbrötchen kaufen gehen. Also machte er sich fertig und ging zur Tür hinaus. „Mist“, dachte er, denn er hatte nicht gehorcht, ob vielleicht doch jemand im Haus unterwegs war. Natürlich kam ihm gerade jemand im Treppenhaus entgegen. „Guten Morgen Frau Werther“, begrüßte er seine Nachbarin.
„Guten Mo..., wie sehen sie denn aus? Sind sie von einem Tiger überfallen worden?“ Wenn sie gewusst hätte, wie nah sie an der Wahrheit war.
„Beim Fahrradfahren, war dunkel und ich habe die Äste von einem Baum nicht gesehen.“
„Ach herrje. Das tut mir leid. Soll ich ihnen eine Salbe...?“
„Nein, nein!“, antwortete er hastig, denn er ahnte, dass sie nur neugierig in seine Wohnung schauen wollte. „Ich habe schon etwas draufgemacht.“
„Sieht ja schlimm aus. Und passen Sie draußen auf, es ist heute höllisch glatt!“
„Danke, werde ich.“ Er lächelte sie an und ging weiter. Von unten hörte er noch ihren Gedanken, den sie laut aussprach: „Also diese jungen Leute heutzutage...“. Er war sich unsicher, ob er das belächeln oder sich ärgern sollte, als er direkt vor der Haustür auch schon ausrutschte und unsanft landete.
Gerade ging eine Frau an ihm vorbei, mit einem schreienden Kind im Kinderwagen und einem kleinen Jungen an der Hand, der ihn ansah, mit einem Finger auf ihn zeigte und lachte. Die Mutter dazu war jedoch so genervt, dass sie ihn überhaupt nicht bemerkt hatte, und zog den Rotzlöffel mit sich, um an ihr Ziel zu kommen.
Da ihm immer noch alles weh tat, wusste er nicht, wie er am besten aufstehen sollte. Wieder kam jemand vorbei und blieb neben ihm stehen. Er schaute auf ein paar äußerst pfleglich geputzter schwarzer Schuhe und ein paar dunkelblaue Jeans. Warum beugte der sich nicht herunter? Er schaut hinauf und sah einen jungen Mann in einem äußerst adretten Mantel, der dessen schmalen Hüfte betonte. Sehr chic, aber warum die Sonnenbrille bei diesem Wetter? Erst da sah er den weißen Stab, der Mann war blind! „Hallo?“
„Ah, hier ist doch jemand. Sind Sie hingefallen?“
„Ja, und irgendwie, könnten sie mir vielleicht helfen?“
„Natürlich.“ Er wechselte den Stab in seine linke Hand und reichte die rechte nach unten. „Sie klingen aber nicht sehr alt.“
„Nach der Nacht, bin ich mir da aber nicht so sicher.“
Der Fremde ließ das unkommentiert und lächelte nur. „Sie müssen meine Hand schon greifen.“
„Achso.“ Kurz später stand er wieder auf seinen Füßen und blickte auf einen Mann mit roten Haaren, die etwas verwegen länger waren und in leichten Locken endeten. Das Gesicht war kantig geschnitten, doch das Lächeln sanft.
„Ähm“, unterbrach ihn sein Retter.
„Achso, ja, vielen Dank.“
„Gerne. Ist alles in Ordnung? Sie sind so zögerlich.“
Am liebsten hätte er geantwortet, dass er schon lange nicht mehr einen so hübschen Mann gesehen hatte. „Ich, ähm, also, ich bin dabei mich zu sortieren.“ Tatsächlich tat ihm alles weh.
„Geht es?“
Es ging nichts. Als hätte er vergessen, wie man sich korrekt bewegt.
„Soll ich Ihnen helfen?“
„Ja, bitte. Ich glaube, ich lasse die Brötchen weg für heute.“
„Ich hätte welche dabei.“
„Einmal fünfte Etage, bitte.“
„Na, dann zeigen Sie mir doch einfach mal den weg.“
„Achso, ja.“ Der andere lächelte. „Was ist so lustig?“
„Ihr ‚achso‘. Es ist bereits das Dritte. Offensichtlich schenke ich Ihnen gerade viel Erkenntnis.“
„Oh, glauben Sie mir, ich hätte da noch ein paar Fragen übrig, wo das gut wäre. Hier geht’s entlang, Achtung Stufe.“
Sie gingen Hand in Hand die Treppe hoch, doch wer wen führte, war nicht wirklich zu erkennen. Endlich kamen sie in der Wohnung an. „So, hier geht’s hinein.“ Der Blinde ließ Kais Hand los und legte seine Rechte auf dessen Schulter. „Achso, Sie sehen ja nichts.“ Sie lachten beide. „Noch eine Erkenntnis.“
„Ich sehe ja den Altersunterschied nicht, aber wollen wir uns einfach duzen? Ich bin Felix.“
„Gerne. Kai. Willst du Kaffee?“
„Kaffee klingt gut. In meinem Rucksack sind zwei Brötchen und ein Croissant.“ Er packte aus und hielt ihm die Ware hin. Kai führte ihn zu einem Stuhl, nahm seinem Gast noch die Jacke ab, und bereitete das, so schnell es sein lädierter Körper zuließ, das Frühstück zu.
Sie unterhielten sich über dies und das, die Zufälle, von denen Felix meinte, dass es sie nicht gäbe, Kai aber der Überzeugung war, dass es Zufall war, dass sein Retter gerade in dem Moment vorbeikam, als er ihn brauchte. Beide genossen das Frühstück und vereinbarten, dass sie das gerne wiederholen würden.
„Ach, es ist schön, einen so angenehmen Menschen ‚zufällig‘“, er betonte das Wort, „kennenzulernen. Aber eine Frage, dürfte ich dich denn noch auf meine Weise sehen?“
„Du meinst das Gesicht betasten?“
„Ja genau. Es hilft mir, eine bessere Vorstellung von meinem Gegenüber zu bekommen.“
„Klar, gerne.“ Er rückte näher mit seinem Stuhl, nahm die Hände, die Felix schon ausstreckte, und führte sie zu seinem Gesicht. Schon die erste Berührung wirkte elektrisch und ließ ihn schier erschaudern. Was war das für ein Mann, der das in ihm auslöste? Felix Finger wanderten über sein Gesicht, nahmen die Kais Konturen auf, hielten am Ende den Kopf in beiden Händen und seine Daumen streichelten seine Wangen. Das war ganz sicher kein Erkunden mehr.
„Du hast da Kratzer im Gesicht, oder?“
„Ja, ich bin von ein paar Katzen vermöbelt worden.“ Obwohl es die Wahrheit war, sollte es wie ein Scherz klingen, doch Felix Gesicht blieb ernst.
„Nur im Gesicht?“
„Nein, heute Nacht habe ich richtig viel abbekommen.“
„Lass mal sehen.“
„Äh, ich denke, das mit dem sehen geht nicht bei dir?“
Felix nahm seine Sonnenbrille ab. Seine grünen Augen konnten jedoch nichts fixieren, sie flackerten, als würden sie irgendeinen Punkt zum Festhalten suchen. „Ich schaue mir das hiermit“, er hob seine Hände in die Luft, „an. Und ich ziehe gerne auch meine Sonnenbrille wieder an. Die meisten Menschen sind von meinen Augenbewegungen irritiert.“
„Achso. Ja, dann folge mir einmal ins Schlafzimmer bitte.“ Er bot seine Schulter an und Felix folgte ihm, nachdem er noch etwas aus seiner Tasche gekramt hatte. Da der andere ihn ja nicht sehen konnte, zog er sich einfach ganz aus. Er stellte sich mit dem Rücken zu dem Rothaarigen. „An der rechten Schulter geht wohl was hinten runter.“
Felix suchte nur kurz mit seiner Hand und fand die Wunde. Quer über den ganzen Rücken bis über die linke Pobacke war eine lange Verletzung, die er abtastete. Mit seiner linken Hand hielt er Kai an der Hüfte fest, um einen Bezugspunkt zu behalten. „Tut es arg weh?“, denn er hörte, dass Kai kurz die Nase hochzog und leicht zitterte.
„Nein, nicht der Kratzer. Es ist nur“, er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. Wie sehr hatte er sich in seinem Leben danach gesehnt, dass ihn jemand genau so berührte. Es war so ehrlich, es galt ihm und nicht ausschließlich einer Lust des anderen. „Die blauen Flecken sind schmerzhafter.“
„Ich mach dir da was drauf, ok? Dann heilt es schneller.“
„Ok.“
Felix schraubte das kleine Fläschchen auf und verteilte etwas davon auf seiner Hand. „Achtung, das ist jetzt vielleicht etwas kühl.“ Kai zuckte zusammen. Es war nicht kühl, es war quasi eiskalt. „Wird aber gleich warm. Keine Sorge, graue Katze.“
Kai wirbelte herum, wieder froh, dass der andere nicht sehen konnte, dass die Berührungen das Blut in seine Lenden hatten fließen lassen. „Hast du mich gerade graue Katze genannt?“ Felix lief rot an. „Los, sag schon, kannst du mir etwas sagen?“
Doch er schüttelte den Kopf. Hatte er Tränen in den Augen? „Ich glaube, ich muss jetzt gehen. Zu viel steht auf dem Spiel.“ Er drehte sich um und ging durch den Flur zurück in die Küche, fuhr mit der Hand an der Wand entlang, bis er seine Jacke erspürte. Sein Orientierungssinn war ausgezeichnet. Leise fluchte er vor sich hin. „Ich habe es doch gewusst, als ich ihn da wahrnahm. Das darf nicht passieren, das darf nicht passieren!“
„Was darf nicht passieren?“
„Ich muss jetzt gehen. Danke für deine Gastfreundschaft.“ Er hatte seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt und den Rucksack schon auf dem Rücken. „Behalte die Wundcreme hier, vielleicht brauchen wir sie noch.“
„Wir? Warum jetzt wir? Ich verstehe gar nichts mehr!“
Felix stand schon im Treppenhaus: „Bist du wirklich nur eine graue Katze?“ Damit drehte er sich um und ging die Treppe runter.
Kai sprintete ihm hinterher: „Was meinst du damit? Bist du die rote Katze? Hilf mir doch!“ Doch er bekam keine Antwort.
Natürlich öffnete sich in diesem Moment die Tür seiner Nachbarin. „Guten Morgen, Herr..., ach ich sehe, Ihnen muss man keinen schönen Sonntag mehr wünschen, Sie haben ihn ja schon“, und lief grinsend an ihm vorbei die Treppe herunter. Erst da erkannte er, dass er noch nackt und mit immer noch leichter Erektion im Flur stand. Na super. Schnell witschte er zurück in seine Wohnung und schloss die Tür. Was, zum Teufel, meinte er, ob er wirklich eine graue Katze sei? Ihm fiel der Löwe ein, den er in Karolines Tarotspiel gezogen hatte. Steckte noch mehr in ihm?