Es war ein Tag des Wunders und des Wunderns. Beide jungen Männer konnten es immer noch nicht glauben, dass sie nicht nur einen riesigen Sprung in ihrem Leben hinter sich hatten beziehungsweise Heilung erfuhren, am Nachmittag wunderten sie sich auch noch, dass die Geschäfte auf hatten und in der Stadt so viel los war. Doch ihre Annahme, es sei verkaufsoffener Sonntag, wurde jäh vernichtet, als Kai die Werbung „heute im Montagskino“ auf der Leuchtreklame des hiesigen Lichtspielhauses las. Beide hatten ihre Arbeit vergessen und nicht den Kollegen Bescheid gegeben. Darüber hinaus wunderten sie sich, dass sie offensichtlich doch keine Verletzungen von den letzten Nächten davon trugen. Weder war Felix vom Kampf mit dem Löwen verletzt, noch zeigte Kais Haut irgendwelche Kratzspuren.
Sie aßen noch etwas im ‚Le Chat noir‘, ein Restaurant, das vor allem wegen des Jugendstil-Interieurs bekannt war und darüber hinaus das beste Steak der Stadt servierte. Dabei sprachen sie wie zwei alte Freunde, die sich seit Urzeiten nicht mehr gesehen hatten. So entdeckten sie viele Gemeinsamkeiten, die ihrer Beziehung sicherlich förderlich wären, aber auch ein paar Unterschiede. Einer davon war ihr Musikgeschmack. Während Kai bei Hardrock in den Flow kam, waren es die eher ruhigen Töne, die Felix gefielen. Für ihn bestand durch seine Blindheit die Welt viel intensiver aus Tönen, sodass er sich mehr über die Ruhe freute. Doch er versprach zum Konzert zu kommen. Mit diesem Versprechen brachte Kai Felix nach Hause. Ein langer intensiver Kuss war für den Rest der Woche der letzte direkte Kontakt, auch wenn sie jeden Tag lange miteinander telefonierten.
* * *
„Hey, Kai Kratzbaum, du bist ein bisschen spät!“ Kai stellte seinen Bass und die Tasche auf der Bühne ab. Es war Zeit, George die Grenzen zu zeigen. Er ging auf ihn zu, stellte sich so dicht vor ihn, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, und ganz leise, kaum hörbar für die anderen, sagte er nur: „Fresse, Georg.“ Es kam so überraschend und Kais Haltung ließ auch keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Worte, dass George sich tatsächlich entschuldigte. Auch die anderen sahen dem Schauspiel verwundert zu, nur Sam, der zweite Gitarrist, bekam nichts mit. Oder lächelte er sogar?
Die Stimmung blieb gereizt, was wohl zu einem Großteil auch das aufkommende Lampenfieber vor dem Gig war, denn es fühlte sich an wie immer. Alle Musiker waren mit sich beschäftigt und jeder hatte seine Art, mit der Nervosität umzugehen. Schließlich kamen die ersten Zuschauer und so verzogen sie sich in den Nebenraum, um dort bis zum Konzertbeginn zu verharren.
„Was redet ihr denn?“, wollte George von Sam wissen.
„Ruhig, Brauner. Hab nur geklärt, wie ich nach dem Schlagzeugsolo bei Metallicas ‚Enter Sandman‘ den richtigen Einsatz nehme. Ist ja nicht ganz typisch sein Solo dort.“
„Aha.“ George glaubte es zwar nicht, hatte aber nach Kais Ansage auf der Bühne keine Lust mehr auf Konfrontation.
„Ihr könnt loslegen“, meldete sich der Organisator schließlich. Ein Satz, der die Spannung zu lösen schien. Sie gingen auf die Bühne, begleitet von dem erwartungsvollen Applaus ihres Publikums. Kai blickte umher, ob er irgendwo den roten Haarschopf seines Freundes sehen konnte, doch er sah ihn nicht. Zu sehr waren die Scheinwerfer auf die Bühne gerichtet, mehr als die ersten Reihen waren kaum erkennbar. Aber wahrscheinlich würde Felix sowieso eher hinten stehen, da war es dann nicht ganz so laut. Zwei Lieder später dachte er aber nicht mehr an ihn, stattdessen war er im Flow mit der Musik, dem Rhythmus, den Schlägen des Drummers, den Gitarren und eben seinem eigenen Bass, der ihn die Musik nicht nur hören, sondern auch spüren ließ. Noch ein Lied später zog George sein T-Shirt mit einem japanischen Zeichen unter dem frenetischen Gekreische weiblicher Zuschauer aus. Immerhin, es feuerte die Stimmung an, in der inzwischen alle Musiker badeten. Es war eines der besten Konzerte, die sie jemals gaben.
Zweieinhalb Stunden später standen Sie klatschnass verschwitzt und Arm in Arm am vorderen Bühnenrand und verneigten sich nach ihrer Zugabe. Der Applaus verebbte langsam und George wunderte sich, dass nur er von der Bühne ging. Als er sich umdrehte und sah, dass Kai ans Mikrofon ging, stieg in ihm die Wut wieder hoch. Kais herablassender Blick beeindruckte ihn, aber stoppte ihn nicht. Da hielt ihn der Schlagzeuger fest, drehte ihn und schob ihn von der Bühne.
Der Hall des Mikrofons war ein wenig zu stark eingestellt, sodass Kai etwas stockte: „Leute, äh, also, ich habe noch ein Lied für euch. Genau genommen für eine Person, die womöglich die wichtigste meines Lebens ist.“ Eine Frau aus den hinteren Rängen krisch kurz auf, was zu einigen Lachern im Publikum führte. Kai musste den kleinen Löwenanhänger, den er seit ein paar Tagen als Erinnerung an seinen Mut bei sich trug. „Ist vielleicht ein wenig ruhig, aber ich bin so glücklich, dass es mir einfach wichtig ist, es heute zu singen.“ Er nickte dem zweiten Gitarristen zu, der offensichtlich eingeweiht war, und der begann zu spielen. Ruhige Töne, versöhnlich, zart. „My love, I’ll never find the words, my love...“ Ein Liebeslied von Simply Red – und die Zuschauer hielten Feuerzeuge und Handylampen in die Höhe, so gefühlvoll sang er. In dem letzten Refrain „You make me feel brand new“ drängelte sich von hinten eine kleine Person durchs Publikum. Er sah die Bewegung im Publikum und wunderte sich schon, und als sie vorne war, sah er sie und sprach ins Mikrofon: „Karo? Was machst du denn hier?“
Während der arme Kai lediglich nicht mit ihr gerechnet hatte, hielten die Zuschauer seine Verwunderung für den Liebesbeweis eines Fremdgehers. Die Leute johlten und schubsten Karoline auf die Bühne. Kai nahm sie natürlich in den Arm und begrüßte sie, auch wenn sie wirklich nicht erfreut über diese Begrüßung war. Da klopfte ihm jemand auf die Schulter und er ließ sie los. Es war der Gitarrist, der ihn begleitet hatte, und zeigte auf Felix, der chic im schwarzen Hemd und mit Sonnenbrille am Rand der Bühne stand. Kai ging auf ihn zu, nahm seine Hände und zog ihn zur Bühnenmitte. Das Publikum war tatsächlich sprachlos und so erklärte er: „Das ist die Freundin meines Lebens, ohne die ich wohl niemals die Liebe meines Lebens kennengelernt hätte.“ Ein Kuss ließ schließlich alle wissen, was hier los war. „Ich liebe dich, schön, dass du hier bist!“
„Du singst wundervoll, ich liebe dich auch.“
Karoline schnappte sich das Mikrofon: „Ok, Leute, die Show ist damit dann wirklich beendet, kommt gut nach Hause!“, flötete sie zum Publikum, und setzte sich beleidigt auf die Bühne, um zu warten, bis ihr ‚bester Freund‘ endlich wieder Aufmerksamkeit für sie hatte. „Da bemühe ich mich Monate, ach was, Jahre, um dich mit irgendwem zu verkuppeln, und dann bin ich mal eine Woche weg, und du angelst dir so einen..., so einen...“, sie überlegte angestrengt, „so einen superhübschen, roten Kater?“
„Ja!“ Er verschwieg ihr, wie nah sie an der Wahrheit lag mit ihrer Beschreibung. „Felix, das ist Karoline, Karo, das ist Felix.“
Sie ergriff seine Hand erst theatralisch und mit großem Abstand, zog ihn dann aber zu sich und nahm ihn in den Arm, drückte ihn wie ein verloren geglaubtes Kind. Dabei flüsterte sie ihm ins Ohr: „Und wenn du Kai unglücklich machst, bringe ich dich um!“
„Bestimmt nicht, da mache dir mal keine Sorgen“, beschwichtigte er.
George mischte sich ein: „Ey Kratzbaum, was war das denn für eine Scheiße mit der Zugabe?“
Die drei Freunde erstarrten. Felix fand zuerst wieder Worte: „Für jemanden, der ein T-Shirt mit dem japanischen Zeichen für ‚Pussy‘ trägt, riskierst du ja ganz schön Lippe!“
„Lass“, meinte Kai ganz ruhig. „Das war mein letztes Konzert. Ich habe es nur der anderen zuliebe gespielt, die wollte ich nicht hängen lassen.“
„Nee, so einfach ist es nicht“, meinte Sam. „George geht. Soll er halt seine Pussys“, er meinte wohl seine weiblichen Fans, „mitnehmen. Wir wollen einfach nur geilen Rock spielen. Und vielleicht wird’s Zeit, auch ein paar ruhigere Sachen ins Programm zu nehmen. Wir haben jetzt nur ein Problem.“
„Welches?“, fragte Kai.
„Wir brauchen einen neuen Bassisten, der alte wird jetzt singen.“
„Schweine, das alles ist doch nur wegen mir!“ George war in Rage.
„Wir haben uns viel zu lange von dir auf der Nase tanzen lassen. Dass ausgerechnet Kai dir die Stirn bietet, tut mir ehrlich gesagt leid. Das hätten wir viel früher schon machen sollen.“
„Deppen!“, schrie er, drehte sich aber um und ging.
„Kai, tut mir echt leid. Hättest mal früher was sagen sollen, wir dachten echt, es hätte dich gar nicht so gekümmert, was George immer sagte.“
„Ich wollte halt immer nur Musik machen. Mehr nicht.“
„Wo ist dein Löwe?“, flüsterte Felix seinem Freund ins Ohr.
Und mit fester Stimme zu den anderen beiden Musikern: „Und nächsten Samstag wieder Probe.“
„In Ordnung!“
„Aber pünktlich, ja?“
„Jetzt übertreib nicht“, lachte Sam und folgte dem Drummer, um das Equipment abzubauen.
„Und was machen wir jetzt?“, wollte Karoline wissen.
„Also: Wir bauen hier noch ab. Ihr beiden könnt euch ja mal kennenlernen. Ab sofort teile ich mein Leben mit zwei superwichtigen Menschen. Und“, er gab Felix einen Kuss, „mit einem davon auch mein Bett.“