Mitras war eine Stadt voller Prunk und Reichtum. Jedes Gebäude und jeder Pflasterstein schien vollkommen zu sein - weder Risse noch Dreck waren irgendwo erkennbar. "Die Stadt der Elite womöglich" ,dachte ich mir, als die Kutsche zum Stehen kam und ich mit einem Nicken von Levi dazu aufgefordert wurde, aufzustehen.
"Wir haben noch etwas Zeit. Der Prozess beginnt in drei Stunden. Du kannst dich etwas umschauen. Sei jedoch pünktlich wieder hier! Erwin will dich beim Prozess dabei haben." erklärte Levi.
"Jawohl." sagte ich und sah zu dem Kommandanten, der als nächstes ausstieg. Unsere Blicke trafen sich. Mir wurde beim Anblick dieser Augen kalt. Ich drehte mich weg und ging willkürlich in eine beliebige Richtung, um Abstand zur Kutsche zu gewinnen. "Drei Stunden....." dachte ich und sah mich um. Vielleicht wäre nun der richtige Zeitpunkt, mir die Unterwelt anzuschauen. Ich ging durch die Straßen der Stadt und suchte nach einem Anhaltspunkt. In einer Gasse hockend entdeckte ich zwei Soldaten. Sie schienen bereits jetzt stark betrunken zu sein. Eine bessere Alternative würde sich sicherlich nicht so schnell bieten.
"Hey.... Könnt ihr mir vielleicht weiterhelfen?" fragte ich die Beiden überfreundlich. Ich strich mir durchs Haar und kam auf den größeren Typen der Zwei zu. Dieser grinste.
"Was gibt es denn, Süße?" Er hatte bereits angebissen. Alkohol war eben doch der beste Freund der Betrüger und Schwindler.
"Ich suche einen Weg in die Unterwelt. Man hat mir etwas gestohlen und ich will es unbedingt zurückholen." erklärte ich und sah den Soldaten mitleidserregend an.
"Ohha, die Unterwelt? Mädel, das solltest du ganz schnell vergessen!" ,mischte sich nun der andere Mann ein. Er war etwas älter als sein Kamerad, hatte bereits ein wenig lichtes Haar und schien wenig Interesse an mir zu haben. Seufzend setzte er die Flasche an und trank einen großen Schluck Weinbrand.
"Aber es ist mir so wichtig" sagte ich zu meinem auserkorenen Opfer. Es reichte, wenn er mir half. "Kannst du mir nicht wenigstens den Weg zeigen? Das würde mir unglaublich helfen." Ich fasste ihn am Arm und drückte mich gegen ihn. Mein Blick starr auf seine Augen fixiert erkannte ich es. Er würde es tun.
"Oh, okay. Ich kann dir den Eingang zeigen." Ich bedankte mich und schob ihn voran. Den älteren Soldaten, welcher nun seine Meinung aufgeregt mitteilte, ignorierten wir. Unsicher aber dennoch zielstrebig führte mich der Fremde durch die Stadt. An einer Art Unterführung zeigte er mir einen Eingang. "Da muss man hinunter!" Ich blickte erstaunt zu der Treppe, welche von mehreren Soldaten bewacht wurde. Hier sollte niemand unbefugt hinaufkommen, so viel stand fest.
"Vielen Dank." sagte ich und ging los. Nach einigen Diskussionen konnte ich auch die Wachen des Eingangs davon überzeugen, mich durchzulassen. Das angebliche Amulett meiner Mutter, was von bösen Dieben gestohlen wurde, war wohl ein überzeugendes Argument. Ich ging die Treppe hinunter. Ein leichter Wind wehte mir entgegen. Er war kalt und feucht, so wie ich es aus Höhlen kannte. Langsam begann ich den Geruch von Modrigem wahrzunehmen. Ich sah ein Licht am Ende der Treppe. Da musste es sein. Ich beschleunigte meinen Schritt und sah voller Neugierde um die Ecke. Mir offenbarte sich das genaue Gegenteil von Mitras: Eine Stadt, welche aus Ruinen und alten Schuppen bestand, gebaut in einer Höhle, um Menschen aufzubewahren. Hier war kein Prunk und Reichtum zu sehen. Hier gab es nur Leid, Trauer und Hass. Ich ging die Straße hinunter. Immer wieder sah ich kranke Menschen, die in Gassen lagen. Teilweise trugen sie schlammige Gewänder oder zerrissene Hosen. "Hier leben die Vergessenen." dachte ich mir und kam auf eine Art Marktplatz. Einige Händler, welche zumindest vernünftig gekleidet waren, verkaufen etwas Brot und Gemüse. Sie schienen die Ware von Oberhalb zu beziehen. Etwas zupfte an meinem Cape.
"Habt ihr etwas zu essen?" fragte mich ein kleines Mädchen. Sie hatte fettiges, rotes Haar und war sehr dürr. Ich sah sie bestürzt an.
"Hier, nehmt dies." Vorsichtig drückte ich ihr eine Silbermünze in die Hand. Sie nahm sie, schaute mich kurz an und rannte dann die Straße hinunter. Einige Blicke folgten ihr. An diesem Ort war das Leben ein ganz anderes. Hier ging es ums Überleben. Jeder, der etwas hatte, konnte im nächsten Moment das Opfer eines Überfalls werden. Jeder der leben wollte, musste sich durchsetzen - egal wie. Wie sollte an einem solchen Ort ein Kind erwachsen werden können? Wie konnten die Menschen in Mitras dieses Leid der Kranken und Schwachen ignorieren? Warum tat niemand etwas dagegen? Wutentbrannt ging ich zurück zur Treppe und machte mich auf den Weg zum Treffpunkt. Dieses Leid würde ich nicht so einfach vergessen.
Immer noch gereizt entdeckte ich Hanji und Levi vor dem großen Gebäude. Es war das Gericht Mitras, welches heute über Eren entscheiden sollte. Ich stellte mich zu ihnen und verschränkte meine Arme, wobei ich mit meinen Händen mich fest zu umklammern versuchte.
"Was ist los?" fragte Levi und sah mich fragend an. Meine Laune war mir wohl ins Gesicht geschrieben.
"Nichts Wichtiges." sagte ich abblockend. Auch Hanji schaute mich etwas verwirrt an. Doch bevor sie etwas äußern konnte, öffnete sich die Tür des Gerichts. Erwin stand bereits in der Eingangshalle und wartete auf uns. Gemeinsam mit ihm betraten wir den Gerichtssaal, in welchem der Titanenwandler bereits festgebunden vor dem Pult des Richters platziert war. Ich folgte den anderen auf die linke Seite des Saales und stellte mich zwischen Levi und Hanji.
"Das ist Darius Zackly. Er ist unser General." flüsterte mir Hanji ins Ohr. Ich sah hinüber zu dem alten Mann, der nun am Pult Platz nahm.
"Ruhe im Saal." rief er und der Saal verstummte. "Gut. Wir sind heute hier, um über das Schicksal dieses Jungen, Eren Jäger, zu entscheiden. Da es sich hier um eine militärische Angelegenheit handelt, wird auch das Militärrecht angewendet. Somit ist auch die Todesstrafe eine Option, die in diesem Verfahren gewählt werden kann. Ich möchte nun die Kommandanten der Militärpolizei sowie des Aufklärungstrupps um Stellungnahme bitten!"
Nile Dawk, welcher die Militärpolizei anführte, ergriff das Wort. Er nannte die Gefahren, welche von Eren ausgingen und schlug die Erforschung seines Körpers sowie die Hinrichtung des Jungen vor. Eine verständliche Meinung - betrachtete man die Ahnungslosigkeit dieser Menschen. Dann erläuterte Smith seinen Plan: Die Eroberung der Mauer Maria und den Kampf gegen die Titanen. Er nannte die Chancen, die Eren für uns darstellen konnte. Ohne meine Informationen einfließen zu lassen, versuchte er immer wieder darauf zu drängen, dass dieser Titanenwandler als eine Art Waffe zu sehen sei. Es war ein überzeugendes Statement.
Zackley nickte kurz und wandte sich nun an Eren. Er fragte ihn, ob er bereit wäre, für den Aufklärungstrupp zu kämpfen und dieser bejahte es. Trotzdem blickte der General unsicher um sich und überlegte. Die Informationen waren vorhanden, doch die Entscheidung noch nicht getroffen. Im Saal begann eine Unruhe - einige flüsterten, andere räusperten sich nervös. Plötzlich ging Levi in die Saalmitte. Ich sah erschrocken zu Erwin, doch dieser reagierte nicht. Levi trat den Angeklagten. Einmal, zweimal und auch ein drittes Mal - Erens Gesicht schwoll an. Einige Wunden platzten auf. Er wehrte sich nicht. Dem Gefreiten schien dies egal. Er trat weiter zu und ich entspannte mich. Wenn er es für Richtig hielt, dann musste es einen Grund geben. Vertrauen - das war nun wohl das Einzige, was ich tun konnte. Ich sah an ihm herunter - seine Sihouette war so unglaublich schmal. Jeder Tritt, den er platzierte war präzise gesetzt. Die Bewegungen einstudiert. Wie oft hatte er mit diesem Körper schon Menschen so zugerichtet? Ich seufzte und dachte an das kleine Mädchen. Hatte er das auch durchmachen müssen?
"Dann wird Eren für den Aufklärungstrupp arbeiten. Aber er muss in der nächsten Mission seinen Wert beweisen." erklärte nun Zackly und riss mich damit aus meine Gedanken heraus.
Hanji sah mich staunend von der Seite an. "Aaah." gab sie von sich und tippte mir mit einem Finger in die Seite. Ich blickte sie erschrocken an. Sie grinste nun. Das war kein gutes Zeichen.
"Ähm ich war in Gedanken." faselte ich vor mir hin. "Das habe ich gesehen. Lass uns später drüber reden!" flüsterte sie mir ins Ohr und zwinkerte mir zu.
Gemeinsam mit Hanji und Levi gingen wir in einen Besprechungsraum, in welchem ein Sofa stand. Eren saß dort zusammengekauert. Ihm schien es nicht wirklich gut zu gehen.
"Sag Eren, hasst du mich jetzt?" fragte Levi und setzte sich neben den Jungen.
"Nein, es war wohl notwendig....." sagte Eren leise.
Levi nickte. "Besser als seziert zu werden." Er schaute zu mir. Ich zuckte mit meinen Schultern. Hanji platzierte sich nun vor Eren und untersuchte ihn.
"Wow, das heilt unglaublich schnell. Selbst der Zahn von ihm wächst nach." Sie war außer sich vor Staunen, während Levi dies mit einem "Ist ja ecklig." kommentierte. Plötzlich betraten auch Nile Dawk und Mike Zakarius den Raum. Der Vizekommandant stellte sich neben mich.
"Ah, das Lavendelmädchen." sagte er lächelnd.
Ich ignorierte ihn und erklärte: "Das mit dem Nachwachsen ist normal. Alle Titanenwandler haben eine enorme Heilkraft. Selbst häufig abgetrennte Arme wachsen immer wieder nach. Wichtig ist eigentlich nur der Kopf und ein gewisser Teil des Torsos." Ich hockte mich nun neben Hanji vor Eren. Meine Hand berührte sein Knie. Er sah mich an. Sein Kampfgeist spiegelte sich in seinen Augen wieder. Er war ein starker, junger Mann. "Hast du irgendwelche Erinnerungen, die dir komisch vorkommen?" fragte ich nun.
Der Jugendliche schüttelte den Kopf.
"Warum fragst du das?" harkte Levi nach. Ich seufzte und meinte unsicher:
"Ich habe mal gehört, dass selbst Erinnerungen von einem Titanenwandler zum Anderen weitergegeben werden können. Ob das immer passiert und wie das funktioniert, weiß ich nicht. Ich kann noch nicht mal sagen, ob diese Informationen stimmen. Es war mehr ein Gerücht."
"Das wäre ja unglaublich!" rief Hanji aus. Ihre Begeisterung steigerte sich von Moment zu Moment. Levi seufzte.
"Beruhig dich, Vierauge!"
"Nun, was habt ihr jetzt vor?" fragte uns Dawk. Er schien immer noch nicht überzeugt von der Idee zu sein, Eren am Leben zu lassen.
"Erwin wird das entscheiden." antwortete der Gefreite, "Wir werden uns besprechen und dann seine geplante Mission durchführen." Levi stand auf. Sein Blick wanderte von mir zu dem Vizekommandanten. Dieser grinste und meinte:
"Keine Sorge, Levi. Ich werde mich nicht einmischen - zumindest noch nicht."
"Wie du meinst." sagte Levi trocken. Die beiden Männer sahen einander an. Die Stimmung im Raum wirkte plötzlich gereizt, fast schon unheimlich.
"Lasst uns gehen! Erwin wartet sicher." unterbrach Hanji die Situation. Gemeinsam mit ihr verließen Eren, Levi und ich das Zimmer. Der Vizekommandant sah mir bedauernd nach. Ich seufzte. Dieser Typ war mir immer noch nicht geheuer.
Wir schritten schweigend durch den Ausgang des Gerichtes. Jeder schien in seinen eigenen Gedanken die Situation einzuordnen. Ich fasste mir an meine Stirn. Der gesamte Tag hatte mich komplett geschafft. Die Kutschfahrt, die Unterwelt, das Gerichtsverfahren - alles war einfach zu viel gewesen. Zudem lag mir die Erschöpfung des gestrigen Kampfes noch in den Knochen. Wie sollte das alles bloß weitergehen? Ich sah zu Levi und entdeckte seinen besorgten Blick. Er sah ihn mir an - meinen Kummer. Plötzlich kam ein junger Soldat auf uns zu. Er führte ein schneeweißes Pferd mit sich.
"Gefreiter Levi. Ich bringe die Stute, die ihr gefordert habt. Sie stammt, wie von euch befohlen, aus der schnellsten und wendigsten Linie unseres Stahles. Ihr Name ist Wolke." Levi ging auf den Schimmel zu und streichelte ihn. Die Stute schien sich zu freuen und schnaubte zufrieden.
"Gut. Ich werde sie an mich nehmen. Dankt eurem Kommandanten."
"Jawohl." antwortete der fremde Soldat und ging. "Nun, wollt ihr sie nicht begrüßen, -dN-? Sie ist eure neue Gefährtin." wandte sich Levi nun an mich. Mir huschte ein leichtes Lächeln über das Gesicht. Da war es also: Mein Pferd. Ich dachte an Sturm. An sein lautes, schmerzerfülltes Wiehern. Ich würde ihn nicht vergessen. Niemals. Doch nun in diesem Moment wollte ich meine neue Begleiterin begrüßte. Auch zu mir war sie offen und herzlich.
"Ein gutes Tier." dachte ich und streichelte sie. "Hallo Wolke." sagte ich lächelnd und nahm sie an ihre Zügel.
Die Gruppe ging an das Ende der Hauptstraße. Dort an der rechten Seite befand sich die Militärpolizei. Es war ein großes Gebäude, umringt von einem hohen Zaun. Schon von Weitem erkannte man die Wichtigkeit dieses Ortes. Hanji und Levi gingen hinein, um mit Erwin einige Dinge zu besprechen. Sie nickten mir zu und ließen mich mit Eren zurück. Ich sollte ihn überwachen.
"Na wunderbar." stöhnte ich und band Wolke an einem Pfahl fest. "Und Eren, wie fühlt man sich als Titanenwandler?" fragte ich ihn und setzte mich auf eine Bank vor dem Gebäude. Ich klopfte mit meiner Hand auf den Platz neben mir, sodass sich der Junge ebenfalls setzte.
"Ich weiß nicht...." sagte er und sah zum Boden. Mit seinem Fuß spielte er mit einem Stein. Er war mit Allem noch unsicher, so viel stand fest. Ich klopfte ihm auf die Schulter.
"Ich kann mir nur denken, dass es eine große Bürde für dich ist, aber du kannst stolz auf dich sein. Was du in Trost geleistet hast, war unglaublich. Der Attackierende Titan kann für dich eine Chance sein. Er kann sogar die eine Chance für dein gesamtes Volk sein" Er nickte.
"Ich werde alle Titanen besiegen." meinte er und ballte seine Fäuste. Diese Willenskraft - vielleicht war sie genau das, was es für den Attackierenden Titan brauchte. Vielleicht war genau er der Richtige, der diesem Volk neue Hoffnung bringen konnte. Vielleicht.....
"Wir gehen zur Taverne und treffen unseren Trupp dort." Levi unterbrach meine Gedankengänge und stand mit verschränkten Armen vor uns. Er sah mich skeptisch an.
"Jawohl." antwortete ich leise und nahm Wolke zu mir, um ihm und Eren zu folgen.