Es war März. Während in vielen Teilen Europas bereits der Frühling begann, war es in den nordischen Ländern noch tiefster Winter. Es standen die drei letzten Biathlon-Weltcups im russischen Tyumen, im finnischen Kontiolahti und schließlich das große Finale im norwegischen Oslo an.
Für die Sportler war dieser letzte Teil der Saison besonders anstrengend, vor allem weil er mit viel Reiserei verbunden war.
Ein paar Tage, bevor sie in Norwegen anreiste, bekam Nicole eine Textnachricht von Rocco:
"hi nicy ich habe beschlosen dich in oslo besuhen zu kommen ich mahe noch ein paar tage urlaub die verbringe ich in nohrwegen und werde dich abfeuern kommen ich freue mich gruß rocco kuss"
Nicole lachte laut auf, als sie das las. Furchtbare Rechtschreibung und Grammatik, wie immer, wenn Rocco ihr schrieb! Keine Großbuchstaben und keine Satzzeichen! Sie mochte das nicht, aber sie schrieb ihm zurück:
"Hi Rocco! Schön, dass du mich besuchen kommst! Hoffentlich sehen wir uns mal! Bis dahin! Gruß Nicky"
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Inzwischen waren auch Danny, Martin, Dietmar und die anderen Leute aus ihrer Heimatstadt in dem skandinavischen Land eingetroffen, diesmal per Flugzeug! Sie hatten sich in einem Hotel in der Osloer Innenstadt einquartiert, von wo aus man bequem per Bus oder Bahn zum Holmenkollen, an dessen Fuße die Wettbewerbe stattfanden, fahren konnte.
Ihr großes Banner hatten sie diesmal auch wieder dabei. Am ersten Wettkampftag hängten sie es an der Strecke auf, gleich hinter einer Kurve, von wo aus es die Athleten, vor allen Nicole, hoffentlich gut sehen konnten.
Die Jungs hatten beschlossen, diesmal die Rennen diesmal wieder von der Strecke aus zu verfolgen. Hier konnte man zwar den Schießstand nicht sehen, aber man konnte die Sportler von hier aus viel besser anfeuern! Außerdem gab es ja es gab ja eine Videoleinwand!
Was ist Beiden nicht wussten, dass sich zur gleichen Zeit auch ein gewisser Rocco Große in Norwegen aufhielt. Er war ebenfalls angereist, um Nicole anzufeuern.
Wie der Zufall es so wollte, platzierte er sich genau in der Nähe von Danny und Martin, so dass er ihr Plakat sehen konnte. Er wunderte sich sehr, dass ihm ausgerechnet hier ein Banner mit Nicoles Bild darauf begegnete.
Nicole Stadler-Fanclub Ostdeutschland? Was soll das denn für ein Scheiß sein?, fragte sich Rocco. Wer soll das denn sein? Etwa die zwei Kerle dort? Der Typ mit den langen blonden Haaren und der Kleine mit dem Scheitel? Ist ja lächerlich!
Dann dachte er aber nicht weiter darüber nach.
Die Rennen verliefen für Nicole wieder sehr erfolgreich. Im Verfolgungsrennen schaffte sie sogar einen sensationellen sechsten Platz! Es war ihr bisher bestes Einzel-Weltcup-Ergebnis!
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Es war Tradition, dass sich am letzten Tag der Saison, am Sonntagabend, nachdem alle Wettkämpfe beendet waren, die ganze Biathlon-Familie in einer örtlichen Diskothek traf und mal richtig feierte. Athleten, Trainer, Betreuer, Therapeuten, Ärzte, Journalisten und alle, die den ganzen Winter über in der Welt umher reisten, ließen einmal richtig die Sau raus, wenigstens diesen einen Tag im Jahr! Die Partys im russischen Chanty Mansijsk waren legendär gewesen, hatte Nicole sich sagen lassen. Aber seit das Saisonfinale in Oslo stattfand, wurde halt hier gefeiert. Schließlich gab es auch hier gute Diskotheken!
Nicole war gut drauf, richtig aufgekratzt. Sie hatte sich mit Rocco in der Disco verabredet.
Am späten Nachmittag fiel ihr ein, dass sie auch ihren Fanclub dabei haben wollte! Der bestand offensichtlich zwar nur aus Danny und Martin, aber immerhin! In Oberhof waren noch ein paar andere Leute am Birxsteig dabei gewesen, aber in Nove Mesto und Oslo hatte sie immer nur diese Beiden gesehen.
Sie fand es total süß, wie viel Mühe sich die Jungs gaben, dass sie ihr hinterher reisten und sie immer so lautstark anfeuerten. Sie wollte sich einfach bei ihnen für die Unterstützung bedanken, dass sie sie die ganze Saison über begleitet hatten.
Also rief Nicole Danny an:
"Hi Danny! Alles klar?"
"Hey Nicole! Das ist ja eine Überraschung! Herzlichen Glückwunsch zu deinem sechsten Platz, das war ja der absolute Hammer!!!"
"Ja, danke! Wie ihr sicherlich wisst, gehen wir heute Abend alle feiern und ich möchte gerne, dass ihr auch dabei seid!"
"Ehrlich?"
"Klar! Ich muss mich doch bei meinem Fanclub bedanken! Ich bin ja offensichtlich die einzige österreichische Newcomerin, die in Ostdeutschland einen Fanclub hat! Zumindest Einen, der mir bis Oslo hinterher reist!"
Sie war so gut gelaunt, dass sie lachen musste.
"Kommen wir da überhaupt rein?", fragte Danny.
"Warum denn nicht?"
"Na ja, kann ja sein dass man dafür eine Akkreditierung oder so etwas braucht."
"Nein, nicht dass ich wüsste. Da dürften ja die Einheimischen auch nicht rein! Nur, wenn der Laden voll ist, ist er halt voll! Aber weißt du was? Wenn es Probleme gibt, ruf mich einfach an. Ich werde dann mal sehen, ob ich dann irgendwas drehen kann, okay?"
"Ja, gut. Danke für die Einladung! Wo feiert ihr denn überhaupt?"
"Im Star-Club! Das ist irgendwo am Stadtrand! Ein richtig großer Laden!"
"Und ab wann seid ihr dort?"
"Nicht so spät. Ab 20 Uhr oder so. Du weißt doch, Sportler-Partys beginnen früh!"
"Wir kommen bestimmt etwas später.", meinte Danny. "Wir gehen vorher noch alle zusammen essen, wir haben einen Platz in einem Restaurant reserviert, das können wir nicht einfach sausen lassen!"
"Ist schon gut! Wenn Ihr da seid, seid ihr da! Bis später, ich freue mich!"
"Gut Nicole, bis später!"
Gegen 22 Uhr betraten Danny und Martin die Diskothek. Beim Einlass gab es keine Probleme, aber der Laden war rappelvoll! Es war unmöglich, jemanden ausfindig zu machen, wenn man sich nicht vorher um eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Platz verabredet hätte. Sie schauten sich um und suchten nach Nicole, konnten sie aber nirgendwo entdecken. Ab und zu sahen sie das bekannte Gesicht eines Biathlon-Profis, aber die Österreicherin entdeckten sie irgendwo.
Nach einer halben Stunde wurde es Danny zuviel und er sagte zu Martin: "Lass uns mal etwas rausgehen! Hier drin ist es so laut und so stickig, und die Musik ist auch nicht wirklich der Bringer! Draußen im Vorraum ist nicht viel los, da können wir uns hinstellen und etwas unterhalten. Was meinst du?"
"Gute Idee! Mir geht es genauso.", entgegnete Martin. "Und die ganze Sucherei bringt glaube ich nichts! Und Anrufen wird auch nix bringen, hier ist es viel zu laut! Wahrscheinlich haben wir draußen an den Toilettentüren mehr Glück, sie zu treffen, vielleicht muss sie ja mal auf's Klo!"
Also holten sie sich noch ein Bier, dann verließen sie den Club vorerst und stellten sich im geräumigen Vorraum in eine Ecke, genau hinter einen Zigarettenautomaten, und unterhielten sich.
Zur gleichen Zeit war Nicole mit Rocco auf der Tanzfläche. Dieser war stockbetrunken und wurde immer anzüglicher. Er zog sie an sich heran, drückte sie und begrapschte sie sogar manchmal.
Sie mochte das überhaupt nicht:
"Hey Rocco, nicht so eng! Du trittst mir auf die Füße!"
"Ach Nicky! Ich will doch nur etwas Spaß haben! Komm her, komm wir kuscheln ein bisschen!"
"Nein Rocco, ich möchte das nicht! Lass mich bitte los!"
Aber er ließ nicht locker, sondern zog sie immer wieder an sich heran. Ihr wurde es immer unangenehmer.
"Du sollst mich in Ruhe lassen!", meinte Nicole jetzt etwas energischer und schob ihn von sich weg.
Er griff aber sofort wieder nach ihrem Arm und sagte:
"Lass uns von hier verschwinden! Irgendwo hin, wo wir allein sind! Dann können wir ein bisschen Spaß haben! Kommst du mit? Wir könnten doch in mein Hotel..."
'Nein Rocco!", rief Nicole. "Lass mich in Ruhe!"
Ein paar Sekunden Schweigen, dann sagte sie:
"Ich muss auf die Toilette!"
Sie drehte sich schnell um und verließ die Tanzfläche. Aber Rocco folgte ihr in den Vorraum und sah, wie sie in der Damentoilette verschwand.
Er sah sich um, der Raum war fast menschenleer, nur in der Ecke hinter dem Zigarettenautomaten standen zwei junge Männer, die sich unterhielten. Er konnte sie nicht erkennen, weil sie mit dem Rücken zu ihm standen, der eine hatte lange, blonde Haare. Auf die Idee, dass es sich um die zwei Jungs handeln könnte, die er ein paar Tage zuvor mit dem Nicole Stadler-Plakat gesehen hatte, kam er nicht. Er hatte es längst vergessen.
Nach ein paar Minuten kam Nicole wieder aus der Toilette. Sofort fing Rocco sie ab und hielt sie fest:
"Komm Nicky, lass uns doch mal!"
"Nein Rocco, hör auf!"
Jetzt fasste er sie noch fester an und drückte sie gegen die Wand.
"Komm meine Süße, du willst es doch auch!"
"Nein das möchte ich nicht ! Lass mich endlich in Ruhe!"
"Hab dich doch nicht so! Du hattest doch bestimmt schon lange keinen richtigen Schwanz mehr! Wir können gerne auch gleich nochmal dort rein gehen...", hauchte ihr Rocco ins Ohr und zeigte dabei auf die Toilettentür.
"Lass mich endlich los, du Arsch!", brüllte Nicole jetzt. "Hallo, Hallo, kann mir mal bitte jemand helfen?"
Als Danny das Geschrei hörte, drehte er sich um und sah einen großen schwarzhaarigen Mann, der offenbar eine junge Frau belästigte. Er und Martin waren so im Gespräch vertieft gewesen, dass sie nicht bemerkt hatten, dass Nicole auf der Toilette war. Und von allem, was danach passiert war, hatten sie bis jetzt auch noch nichts mitbekommen.
Er sah genauer hin und erkannte - Nicole!
Das war doch Nicole!
Ohne zu überlegen stellte Danny sein Bier ab und ging hinüber. Er tippte Rocco auf die Schulter und sagte:
"Hey, lass die Frau in Ruhe!"
"Sagt mir wer?", fragte Rocco und drehte sich langsam um.
"Das ist doch scheißegal!", rief Danny. "Du sollst die Frau in Ruhe lassen! Hast du verstanden?"
Ohne Vorwarnung zimmerte ihm Rocco seine Faust ins Gesicht. Danny taumelte nach hinten, stolperte und donnert mit seinen Hinterkopf genau an die Kante des Zigarettenautomaten. Dann sank er zu Boden.
Stöhnend griff er sich an den Hinterkopf, dieser war ganz feucht. Er blutete stark!
"Verdammte Scheiße, Mann!", rief Martin. "Kann uns bitte mal jemand helfen?"
"Hilfe, Hilfe! Kann mal bitte jemand herkommen!", brüllte jetzt auch Nicole.
Aufgeschreckt von dem Geschrei, kamen einige Personen vom Clubraum herüber gelaufen, ein paar deutsche und österreichische Betreuer, sowie ein paar Einheimische, die sich zufällig in der Nähe aufhielten.
"Was ist denn hier los?", fragte jemand.
"Der hier hat mich belästigt!", antwortete Nicole und zeigt auf Rocco.
Der war sich keiner Schuld bewusst:
"Belästigt? Wir wollten doch nur ein bisschen Spaß haben! Das ist meine Freundin!"
"Was? Freundin?", brüllte Nicole ihn an. "Ich bin doch nicht deine Freundin! Lass mich endlich in Ruhe!"
"Er hat das Mädchen bedrängt und meinen Kumpel hier zusammengeschlagen.", bestätigte Martin. "Ich werde mal die Securitys holen!"
Dann verschwand er.
Mehrere Männer hielten Rocco fest und ein österreichischer Sanitäter kümmerte sich um Danny.
"Das sieht nicht gut aus.", meinte er. "Wir müssen einem Notarzt holen! Du musst in ein Krankenhaus!"
"Krankenhaus?", krächzte Danny. "Kann man da nicht einfach ein Pflaster draufkleben oder so?"
"Ein Pflaster draufkleben?", lachte er. "Du hast eine mindestens fünf Zentimeter große Platzwunde an deinem Kopf! Das muss genäht werden!"
Dann drehte sich der Helfer um und sagte zu den Umstehenden:
"Ich werde es erst einmal nur notdürftig versorgen. Wo ist der Sani-Kasten? Und kann mal bitte jemand einen Notarzt rufen?"
In der Zwischenzeit war Martin mit den Männern vom Sicherheitsdienst wieder bei ihnen angekommen. Auf Englisch erklärte er ihnen, was passiert war.
"War das wirklich so?", fragte einer der Security in gebrochenem Deutsch.
"Ja!", bestätigte Nicole, "Genauso war es!"
Und auch Danny, der immer noch auf dem Boden saß und gegen den Zigarettenautomaten lehnte, nickte.
"Es war überhaupt nicht so!", rief Rocco, "Ich wollte nur mit meiner Freundin etwas Spaß haben!", sagte er jetzt zum x-ten Mal.
"Halt jetzt endlich deine Fresse!", schrie ihn Nicole an, "Ich bin nicht deine Freundin, ich war es nie und werde es auch nie sein! Verschwinde einfach! Verschwinde aus meinem Leben!"
Sie war so wütend, dass sie am ganzen Körper zitterte.
"Wir haben hier aber drei Zeugen, die bestätigen können, dass es anders war!", sagte der Security ruhig. "Also komm!"
Zusammen mit seinem Kollegen griff er nach Rocco. Aber der wehrte sich:
"Nehmt eure Drecksgriffel von mir weg! Ihr spinnt wohl! Lasst mich los!", schrie er und fuchtelte dabei mit den Armen.
Aber es half nichts. Zum Glück waren die Sicherheitsmänner fast genauso groß und breit wie er selber, deswegen fassten sie ihn an den Armen und zerren ihn Richtung Ausgang.
"Hau ab du Arschloch!", brüllte ihm Nicole hinterher, "Ich will dich nie mehr wieder sehen!"
Dann ging sie zu Danny hinüber, hockte sich vor ihm hin und sagte:
"Danke! Danke, dass du mir geholfen hast! Wer weiß, was der mit mir angestellt hätte, wenn du nicht dazwischen gegangen wärst!"
"Ist schon gut.", antwortet dieser nur leise.
Inzwischen war ein Notarzt und mehrere norwegische Sanitäter eingetroffen.
"Wir müssen sie mit in die Notaufnahme nehmen.", sagte der Arzt zu Danny. Der nickte bloß.
"Ich geb deinem Vater Bescheid.", sagte Martin, "Wir holen dich dann in der Klinik ab!"
Also wurde Danny in ein Osloer Krankenhaus gebracht. Es war das unschöne Ende einer eigentlich sehr schönen Weltcup-Saison...
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In der Notaufnahme wurde die Platzwunde an Danny's Hinterkopf genäht und er bekam einen Verband angelegt. Außerdem bekam er ein Schmerzmittel und etwas zum Kühlen für sein Hämatom am Auge. Er fühlte sich furchtbar! Sein Schädel brummte, das Auge war blau und seine Nase war etwas angeschwollen.
Trotzdem hatte sich dagegen entschieden, im Krankenhaus zu bleiben, er wollte sich lieber in seinem Hotelzimmer ausruhen.
Als er in den Wartebereich der Notaufnahme kam, staunte er nicht schlecht: Neben seinem Kumpel Martin und seinem Vater Dietmar saß - Nicole!
Nachdem sein Vater ihn begrüßt hatte, sagte sie zu Danny:
"Ich wollte mich einfach nochmal bei dir bedanken, weil du mir geholfen hast! Es tut mir so leid, dass du dich dabei verletzt hast! Gute Besserung!"
"Halb so schlimm!", meinte Danny und grinste schief. "Das wird schon wieder! Ich habe einen harten Schädel!"
Verlegen blickte er zu Boden und ergänzte dann:
"Ich sehe bestimmt furchtbar aus oder?"
"Einen schönen Menschen entstellt nichts!", entgegnete Nicole und senkte ebenfalls verlegen den Kopf.
Nach einer Weile fuhr sie fort:
"Also, ich muss dann wieder los! Mein Trainer wartet draußen, er nimmt mich mit zum Hotel. Es ist ja schon ziemlich spät..."
Daraufhin umarmte sie Danny und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Dann gab sie Martin und Dietmar die Hand und verließ eilig das Klinikum...