Nach den Ereignissen in Oslo ging das Leben nach kurzer Zeit wieder seinen gewohnten Gang.
Nicole war mit ihrer Mutter im Urlaub gewesen, dort hatte sie viel relaxt und sich regeneriert. Sport macht sie in der Zeit nicht viel, sie ging nur jeden Tag etwas Laufen und ab und zu stand etwas Schwimmen und Klettern auf dem Programm.
Auch danach beschäftigte sie sich für ein paar Wochen überhaupt nicht mit Biathlon. Sie stand weder auf Skiern, noch auf Rollerski und hatte auch kein Gewehr in der Hand gehabt. Sie hatte sich lediglich mit Radfahren, Inlineskaten, Wandern und Kraftsport fit gehalten.
Im Mai begann sie wieder mit dem Biathlon-Training. Sie übte am Schießstand, mit den Rollerski und im Kraftraum.
Im Sommer nahm sie an einigen Testwettkämpfen auf dem Fahrrad oder eben auf den Rollerski teil. Diese liefen ganz gut, sie war zufrieden. Sie wollte gut vorbereitet in die bevorstehende neue Saison gehen, wollte aber trotzdem Nichts überstürzen, denn es war schon vorgekommen, dass Sportler so übermotiviert waren, dass sie zu viel trainiert hatten, und dann im Winter, wenn es darauf ankam, die Luft raus war.
Der kommende Winter würde zweifelsohne der bis jetzt Wichtigste in ihrer Karriere werden, denn es galt, sich nach den guten Leistungen des Vorjahres endgültig im Weltcup zu behaupten...
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Auch bei Danny hatte sich das Leben wieder normalisiert.
Von Rocco's Faustschlag hatte er sich schnell wieder erholt, schon nach wenigen Wochen waren seine Platzwunde verheilt, die Fäden gezogen, das Hämatom verschwunden und alle Schwellungen abgeklungen.
Er war auch in diesem Sommer wieder viel unterwegs in Sachen Musik. Diesmal stellte die Firma von Bernhard Technik sogar auf ganz großen Metal-Festivals, so dass er wieder viele Kontakte in die Musikszene knüpfen konnte.
Eines Tages war er sogar seinem großen Idol Stephan Klammer begegnet. Dieser war, trotz seines noch recht jungen Alters, bereits eine Größe in der Internationalen Extrem-Metal-Szene. Er hatte sich bereits früh einen Namen als großartiger Gitarrist und Songwriter gemacht und betrieb mehrere Death-, Black- und Progressive-Metal-Projekte. Stephan wohnte in Bayern, in Landshut um genau zu sein, spielte aber in seinen Bands und Projekten mit verschiedenen bekannten und unbekannten Musikern aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien und Amerika zusammen. Jedenfalls war er einer von Danny's ganz großen Vorbildern.
Sie hatten sich lange unterhalten und Stephan hatte ihm einige wichtige Tipps fürs Gitarre spielen, Singen und Komponieren gegeben. Sie hatten sogar ihre Telefonnummer getauscht und sich gegenseitig auf ihre Bandcamp-Seite hingewiesen.
Auch mit Nicole hatten Danny manchmal etwas Kontakt. Sie schrieben sich hin und wieder Textnachrichten und telefonierten ab und zu einmal miteinander. Dabei ging es aber fast immer nur um Biathlon und allgemeine Dinge. Wenn er behaupten würde, er wäre mit ihr befreundet, dann wäre das gelogen. Er würde es eher als lockeren Kontakt zwischen alten Bekannten beschreiben.
Bei den Deutschen Sommerbiathlon-Meisterschaften im September in Altenberg waren Nicole und ihre Teamkolleginnen auch wieder dabei, denn diesmal war Österreich wieder als Gastnation eingeladen. Sie hatten sich dort sogar kurz getroffen, aber für mehr als ein paar nette Worte und eine Umarmung hatte Nicole keine Zeit.
Seit dem waren fast zwei Monate vergangen und solange hatten sie nichts mehr voneinander gehört...
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"I am beautiful...", sang CHRISTINA AGUILERA und Nicole summte leise mit. Sie saß im Auto ihres Trainers Heinz Bergmann, sie hatte die Augen geschlossen, genoss den Gesang der amerikanischen Sängerin und die wohlige Wärme in dem Fahrzeug. Sie war müde und ausgepowert, aber es war ein guter Tag gewesen, denn heute hatte sie das erste richtige Schneetraining der neuen Saison absolviert.
Es war Winter geworden in den Bergen, schon den ganzen Nachmittag fielen dicke, weiße Flocken vom Himmel. Inzwischen war es früher Abend und dunkel geworden. Ihr Trainer Heinz hatte ihr angeboten, sie nach Hause mitzunehmen, sodass ihre Mutter nicht extra herkommen musste, um sie vom Training abzuholen. Zu Hause würde sie noch ein leichtes Lauftraining absolvieren, dann zusammen mit Mama Abendessen, dann in die Badewanne gehen und es sich anschließend noch ein bisschen vor dem Fernseher gemütlich machen. Nicole war zufrieden...
Plötzlich wurden ihre Tagträume jäh von der Stimme ihres Trainers unterbrochen:
"Halt dich fest!", rief Heinz, "Hier ist es glatt!"
Sie riss die Augen auf und bemerkte, dass das Auto arg ins Schlingern geraten war, offensichtlich hatte er die Kontrolle über den SUV verloren. Er versuchte gegenzusteuern, aber es klappte nicht. Das Heck brach aus und sie drehten sich.
"Ach du scheiße! Gleich knallt's!", rief Heinz, "Halt dich ja fest!"
Nicole war so erschrocken, dass sie nicht mal mehr schreien konnte. Das letzte was sie sah, war der Baum, der auf sie zu raste...
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Danny erfuhr es aus dem Fernsehen. Er wollte an diesem trüben Nachmittag Anfang November noch ein bisschen rausgehen und eine Runde Radfahren, vorher aber noch schnell die Sportnachrichten auf Eurosport hören. Nebenbei macht er sich irgendwelche Notizen über neue Musikstücke, die er gerade am Komponieren war. Er schaute nicht einmal auf den Fernseher, und auf einmal hörte er die Meldung:
"Die österreichische Biathlon-Nachwuchshoffnung Nicole Stadler ist gestern bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden! Österreichischen Medienberichten zufolge war sie im Auto ihres Trainer Heinz Bergmann unterwegs, als das Fahrzeug auf schneeglatter Straße von der Fahrbahn abkam und gegen einen Baum prallte. Die 23-jährige wurde im Fahrzeug eingeklemmt und musste von der Feuerwehr befreit werden. Ihr 55-jähriger Trainer wurde nur leicht verletzt.
Angaben zu ihrem Gesundheitszustand liegen noch nicht vor. Stadler hatte letzte Saison für Aufsehen gesorgt, als sie bei ihrem allerersten Staffeleinsatz beim Weltcup in Oberhof gleich den dritten Platz erreicht hatte. Es war damals der erste Podestplatz einer österreichischen Biathlon-Damenstaffel überhaupt."
Was? Nicole? Unfall?
Danny konnte es nicht fassen! Er war aufgesprungen, zum Fernseher gegangen und hatte lauter gemacht. Parallel zum Bericht wurden mehrere Bilder eingeblendet. Zuerst einige Fotos von einem völlig demolierten SUV, der der sich in der Dunkelheit um einen Baum gewickelt hatte. Danach ein Archivfoto von Nicole, auf dem sie freundlich in die Kamera lächelte, zum Schluss gab es noch mehrere Bilder von ihrem erfolgreichen Staffeleinsatz in Oberhof.
Er rannte die Treppe hinauf zu seinen Eltern und rief:
"Habt ihr es auch schon gehört? Es kam gerade bei Eurosport. Nicole ist verunglückt! Gestern Abend!"
"Nicole?", fragte seine Mutter Bärbel. "Welche Nicole?"
"Na Nicole Stadler. Die Biathletin!"
"Die kleine Österreicherin?"
"Genau die!"
"Hatte sie einen Trainingsunfall?", fragte jetzt Vater Dietmar.
"Nein, einen Verkehrsunfall! Die Bilder im Fernsehen sahen nicht gut aus!"
"Ist sie...tot?"
"Nein,...ähm, ich weiß nicht. Ich hoffe nicht! Sie haben irgendwas von schweren Verletzungen gesagt. Aber auch, dass genauere Angaben dazu noch nicht vorliegen."
"Klingt nicht gut!", sagte Bärbel.
"Ja eben! Das klingt überhaupt nicht gut! Ich würde gerne wissen wie es ihr geht!"
"Hast du nicht ihre Telefonnummer?"
"Ja, aber was soll das bringen? Sie ist doch garantiert nicht erreichbar wenn sie irgendwo im Krankenhaus liegt!"
"Du weißt doch gar nicht genau, was sie hat!", meinte Dietmar. "In den Medien wird das mit den schweren Verletzungen auch manchmal ganz schön übertrieben. Da wird manchmal davon gesprochen, obwohl sich derjenige nur einen Arm gebrochen hat. Versuch's doch einfach mal, ruf sie an!"
Obwohl Danny genau wusste, dass es nichts bringen würde, nahm er sein Telefon und versuchte, Nicole anzurufen. Wie erwartet, war sie nicht zu erreichen.
Was soll ich nur machen? Vielleicht steht ja im Internet irgendwas?!
Er recherchierte etwas, fand aber nichts weiter als den Medienbericht, den er vorhin im Fernsehen gesehen hatte. Zumindest keine neuen Informationen.
In der Nacht konnte er kaum schlafen, weil er immer an Nicole denken musste.
Ist sie in Lebensgefahr? Oder ist alles nur halb so schlimm?
Gleich am nächsten Morgen setzt er sich wieder an den Computer und schaute, ob es Neuigkeiten gab.
Erst gegen Mittag wurde eine Stellungnahme auf der Seite des ÖSV veröffentlicht, aus der hervorging, dass sie schwerste Beinverletzungen mit Lähmungserscheinungen hat. Außerdem war ihr rechter Arm gebrochen und sie hatte ein Schleudertrauma!
Auf der einen Seite war Danny nun erleichtert, dass sie sich nicht in Lebensgefahr befand, andererseits wurde er sehr traurig. Als Physiotherapeut wusste er, dass sie mit solchen schwerwiegenden Beinverletzung ihre Karriere höchstwahrscheinlich nicht fortführen konnte. Aber das war jetzt zweitrangig, hier ging es einzig um allein um den Menschen Nicole, und nicht um irgendeinen Sport!
Er wusste selber nicht, warum ihn Nicole's Schicksal so mitnahm. Er hatte das Gefühl, dass er irgendetwas für sie tun musste.
Da er aber nicht wusste, wie er sie erreichen konnte oder zumindest an neue Informationen kommen sollte, versuchte er, sich abzulenken und machte das, was er am besten konnte - er machte Musik!
Während er Gitarre spielte, musste er immer und immer wieder an Nicole denken. Dann hatte er eine Idee, wie er ihr vielleicht helfen könnte! Helfen war übertrieben, aber zumindest emotional unterstützen. Er würde einen Song schreiben - einen Song für Nicole!
Bevor er sich an's Werk machte, versuchte er, sie noch einmal zu erreichen, obwohl er nicht viel Hoffnung hatte, dass es irgendetwas bringen würde. Wie nicht anders zu erwarten, klappte es auch diesmal nicht.
Er beschloss, auf weitere Anrufversuche zu verzichten, stattdessen schrieb er ihr eine emotionale Nachricht:
Liebe Nicole!
Ich habe von deinem schweren Unfall gehört. Es tut mir wahnsinnig leid, auch wenn ich überhaupt nicht genau weiß, was genau passiert ist und wie es dir geht. Ich weiß, es gibt wahrscheinlich keine Worte, die dich in irgendeiner Form aufmuntern könnten, deswegen versuche ich es gar nicht erst. Ich möchte nur gerne wissen, wie es dir geht. Und ich würde gerne irgendwas für dich tun! Deswegen würde ich mich freuen, wenn du dich mal bei mir melden könntest. Egal wann, egal wie, ich bin für dich da! Ich warte auf eine Nachricht von dir!
Ansonsten wünsche ich dir ganz viel Kraft und Gute Besserung! Meine Gedanken sind bei dir!
Liebe Grüße Danny