"There ain’t no me if there ain’t no you."
Dean 9x01
Da war nichts mehr. Nur Stille. Dunkelheit. Kälte. Leere. Keine Wärme, kein Strahlen, keine lebensspendende Sonne. Finsterste Nacht. Man sagte, die kälteste und dunkelste Stunde sei die vor der Morgendämmerung.
Grauer Betonboden umringt von massiven Mauern, zerstörte Lampen, keine Fenster. Kein schöner Ort, um zu sterben. Ein Mensch und ein Engel, kaum noch Puls, so gut wie tot. Ihr Licht verlosch. Gnade und Seele. Ihre Verbindung. Er konnte ihn nicht mehr spüren, Dean konnte den Engel nicht mehr spüren. „Cas?“, schwach, kaum bei Bewusstsein. Keine Reaktion folgte, Castiel rührte sich nicht mehr. Der Moment, in dem Deans Herz aufhörte zu schlagen. Ich wünschte, die letzten Augenblicke im Leben des Jägers wären friedlich gewesen. Doch das waren sie nicht. Es waren nicht seine letzten. Denn im selben Moment kehrte das Licht zurück. Und der Mensch und der Engel kehrten ins Leben zurück, nein, das Leben kehrte in sie zurück, wie durch ein Wunder. Vielleicht war es das. Vielleicht waren die unbemerkten Wunder, die bedeutsamsten.
Sie wussten nicht, wie nah sie dran gewesen waren, wie weit sie gegangen waren. Sie fanden sich beide kniend auf dem Boden wieder, Castiels Arme noch immer um den menschlichen Körper geschlungen. Deans Kopf lag erschöpft auf seiner Schulter, schwer atmend die Nasenwurzel an die weiche Haut seiner Halsbeuge gepresst. Der erste Impuls des Jägers hätte sein müssen sich aus der Umarmung des Engels zu befreien und zurückzuweichen, aber er tat nichts dergleichen. Fehlte ihm die Kraft oder der Wille? Körperliche Nähe ohne Sex, das war neu, etwas das Dean sich ohne die bleierne Erschöpfung vielleicht nie zugestanden hätte.
Sie wussten nicht, wie lange sie schon so auf dem Boden gesessen und sich aneinander festgehalten hatten. Vielleicht Stunden. Castiel half ihm aufzustehen. Unter ihren Schuhen knirschten die Scherben der zerborstenen Lampen. Noch etwas schwankend sahen sie sich an. Blau wie der Horizont am Abend in Grün wie Sonnenstrahlen, die durch das Laubdach eines vormals dunklen Waldes fielen. Der Himmel traf auf die Erde. Sie fragten sich, ob sie etwas in den Augen des anderen suchten oder ob sie es schon längst gefunden hatten.
Dean war der erste, der seine Stimme erhob: „Cas, was…? Ist es normal, dass… dass es so ist?“
Er hatte es also auch gespürt. Seine Hand presste er an die Brust. Er fühlte sich befreit, als wäre eine Last von ihm gefallen, leicht, als könnte er fliegen, und gleichzeitig geerdet, als wüsste er wohin er gehörte. Er wusste es. All das sollte verwirrend sein, besonders für ihn, aber das war es nicht. Es war seltsam klar. Da wo vorher der Fluch gewesen war, war nun Castiel. Keine Bürde, kein Eindringling. Eine Konstante, eine Verbindung. Eine Verbindung zu einem anderen fühlenden Wesen und vielleicht auch zu sich selbst. Noch nie hatte Dean ihr Band so deutlich spüren können, das Licht in ihm.
„Nein… Unsere Verbindung ist tiefer als ich es für möglich gehalten habe. Da ist etwas von mir in dir…“ Behutsam legte Castiel seine Hand auf das schlagende Herz des Menschen. Eine flüchtige Berührung, deren Wärme jedoch noch lang nachklang und in Deans Tiefen vibrierte.
„Das was von deiner Repariere-den-rechtschaffenden-Mann-in-der-Hölle-Aktion übriggeblieben ist, richtig?“, fragte er. Castiel hatte ihm nie davon erzählt und auch sonst wusste niemand von dem Eingreifen des Engels. Doch keiner von ihnen wunderte sich, wie Dean an dieses Wissen gelangt sein mochte. Ihr Band hatte diesmal nicht nur das Schwingen von Emotionen übertragen.
„Nein, nicht bloß ein Abdruck. Es ist… mehr. Ich habe das immer für eine Legende gehalten…“ Castiels Blick glitt ins Leere. Seine Geschwister hatten ihn gewarnt und ihn davon abhalten wollen zu Dean zurückzukehren. Erfolglos.
Kein Tod, keine Leviathane, keine verlorenen Erinnerungen, keine Naomie und kein Fluch hatten den Engel je daran hindern können. Nicht einmal Lucifer, die Finsternis und die Leere. Castiel hatte sich zu ihm zurückgekämpft, jedes Mal. Der einzige, der den Engel von Dean fernhalten konnte, war Dean selbst.
„Was?“ Stille. Er bekam keine Antwort. „Cas, was hast du für eine Legende gehalten?“
Ihren innigen körperlichen Kontakt hatte er zwar zugelassen, aber der Engel war sich nicht sicher, wie Dean zu jeder Art von Nähe stehen würde, die darüber hinausging, die jenseits des Menschlichen war. Sie hatten ein Stück von sich in dem jeweils anderen hinterlassen. „Es heißt, wenn ein Engel und ein Mensch sich aus freien Stücken und in gegenseitiger tiefer Zuneigung vereinen, entsteht eine verheerende Verbindung.“ Castiel wirkte starr, erstarrt.
„Du meinst miteinander schlafen?“ Ein Nicken. In gegenseitiger tiefer Zuneigung. Liebe? „Als wir letzten Monat ohne den Fluch…“ Willentlich hatte Dean sich dem Engel hingegeben. Es war so anders gewesen, berauschend, erschütternd, verbindlich. Zwei Steine eines Puzzlespiels, die zusammengehörten. Er hatte Castiel das geschenkt, was dem Engel bereits gehört hatte. Seinen Körper. Und seine Seele. Etwas war geschehen mit ihnen, noch nie hatte er etwas so intensiv gespürt. Etwas von Castiel in ihm, etwas von ihm in Castiel, etwas das blieb.
Engel konnten nicht fühlen, nicht so, nicht so dass solch eine Verbindung entstehen könnte. Nun, Castiel tat es, Castiel fühlte. Am Anfang war es verwirrend und neu und überwältigend und furchteinflößend gewesen. Plötzlich waren da diese Empfindungen gewesen. Dinge, die er vorher noch nie gespürt hatte. Zweifel. Hoffnung. Enttäuschung. Wut. Freude. Bedauern. Sorge. Zuneigung. Was unterschied ihn von all seinen Geschwistern? Was machte ihn so anders? Dean. Dieser eine Mensch war der entscheidende Unterschied (1). Er hatte Castiel verändert, langsam und doch grundlegend. Das eigenartige Gefühl, das ihn der Winchester schon vielfach gelehrt hatte, ließ sich am besten als Schmerz beschreiben. Vielleicht machte das den Engel so besonders, die Fähigkeit den Schmerz zu fühlen, der sich Liebe nannte.
„Es tut mir so leid, Dean.“ Ein Schatten aus Bedauern, Schuld und Angst verdunkelte das Licht in den geweiteten blauen Augen, kaum merklich und doch genug um Deans Puls zu erhöhen.
„Inwiefern verheerend?“, fragte er.
Jede Gefühlsregung war aus Castiels Gesicht gewichen, als müsste er Dean und sich selbst vor dem beschützen, was in ihm vorging. „Stirbt der Engel, tötet sich sein Gefährte wenig später selbst.“
Unwillkürlich musste Dean an seinen Bruder denken. Entweder hatte solch eine Verbindung zu Gabriel nie bestanden oder Sammy war stärker, als sie alle es für möglich gehalten hatten. Wobei… Hatte Sam sich nicht bald darauf…? Der Sprung in Lucifers Käfig kurz nach Gabriels Opfer. Nein. Nein, Dean verbot sich diese Erinnerung, gestattete ihr nicht dem Niemals-Berühren-Teil seines Gedächtnisses zu entfliehen.
Eine Situation, die ihm und Castiel nicht widerfahren würde, denn er würde es sein, der zuerst ging, da war der Jäger sich sicher. Eine andere Möglichkeit kam nicht in Frage. Die Erwägung, dass es andersherum sein könnte, erlaubte er sich nicht. Der bloße Gedanke daran war unerträglich.
„Und was wenn der Mensch zuerst stirbt? Was ja der wahrscheinlichere Fall ist.“
Der wahrscheinlichere Fall. Castiel wurde schlecht. „Dann kann der Engel dessen Seele beanspruchen“, antwortete er betont gefasst.
„Beanspruchen?“ Dean klang ruhig. Nein, er klang nicht nur so, er war es. Müsste der Jäger nicht wütend sein? Oder alarmiert? Oder zumindest besorgt? Aber da war nichts dergleichen, kein Misstrauen, kein Zorn, keine Furcht.
„In sich aufnehmen. Wenn du… Wenn du irgendwann…“ Mehrfach brach Castiel ab und setzte erneut an. Es fiel ihm sichtlich schwer über dieses in Zukunft mögliche Ereignis zu sprechen, über Deans Tod. „Wenn deine Zeit gekommen ist, wirst du dich entscheiden können, ob du dorthin gehst, wo auch immer der Sensenmann dich hinbringt, oder ob du… ob du zu mir gehören willst. Wählst du den Weg des Sensenmannes, werde ich dir in den Tod folgen. So oder so, ich werde auch deinen letzten Weg mit dir gehen.“
Gemeinsam untergehen. Also was, ich bin Thelma und du bist Luise und wir werden uns an den Händen halten und zusammen diese Klippe hinunterfahren?
„Angeblich. Ich weiß nicht, was von dieser Legende zutrifft oder ob sie überhaupt wahr ist“, setzte der Engel wenig überzeugend nach. Ein Schulterzucken, das so fehl am Platze wirkte wie Castiel sich manchmal fühlte. Gefühlt hatte. Denn wenn er Dean ansah, wusste er, spürte er, wo er hingehörte. Zuhause. Sein Zuhause war kein Ort und auch nicht der Himmel, schon seit langer Zeit nicht mehr. Es war Dean.
„Ich hoffe, dass sie es ist.“ Der Gedanke hatte etwas seltsam Beruhigendes, Tröstliches. Selbst in der tiefen Stille der Leere wäre er nicht allein. Er wollte nicht, dass Cas starb, vor allem nicht seinetwegen. Aber dem Jäger gefiel die Vorstellung, dass er nach dem Tod nicht in die Leere gehen musste, sondern dass ihm eine Wahl blieb. Er konnte Castiel wählen, den Himmel in ihm, Frieden finden.
„Wenn es wahr ist, dürfte es jetzt wesentlich schwerer sein uns zu töten. Dann könnte ich in Notsituationen auf die Energie deiner Seele zugreifen ohne sie zu berühren oder aber dir für eine kurze Zeit meine Fähigkeiten übertragen.“ Nicht dass nach dem Fall der Engel und den neuerlichen Entwicklungen noch viel von seiner ehemaligen Stärke übrig war, aber zumindest seine mittlerweile sehr begrenzten Heilkräfte und die Unverwundbarkeit durch irdische Waffen dürften ganz nützlich sein. Unverwundbarkeit war zu hoch gegriffen, sie töteten ihn nicht.
Sie wussten nicht, wie nah sie dran gewesen waren, wie weit sie gegangen waren, wie dieses Wechselspiel zwischen Seele und Gnade sie bereits gerettet hatte. Seelenenergie, um Castiels Gnade nicht verlöschen zu lassen, und himmlisches Licht, um Deans Herz wieder schlagen zu lassen.
„Klingt praktisch, aber lassen wir es nicht darauf ankommen“, erwiderte dieser. War das Handeln des Jägers sonst immer von waghalsigem Draufgängertum geprägt gewesen, so war es nun an der Zeit das abzulegen. Er hatte jetzt etwas, das er verlieren konnte. Vielleicht hatte er es schon immer gehabt. Doch nun wusste Dean, dass auch sein Leben nicht ihm allein gehörte. Sein endliches Leben gehörte denen, denen er etwas bedeutete. Sam. Und Castiel.
Unsterblich. Der Engel wurde niemals krank, alterte nicht, musste nicht schlafen, nicht essen. Der Körper nur eine Hülle, austauschbar. Wenn nichts dazwischen kam, würde Cas ewig leben. Er selbst dagegen würde nicht einmal ein Menschenleben alt werden. Im Vergleich zu Engeln mussten die Menschen für Castiel klein und unbedeutend sein, nicht mehr als ein Wimpernschlag, ein Funke in der Unendlichkeit.
Der Engel schien Deans Gedanken zu spüren, denn er antwortete: „Nichts macht mich stärker als dein fragiles Leben. Ich kann dir nicht versprechen, dich aufzufangen, wenn du fällst, aber ich werde dir immer nach unten folgen.“
"I'm not leaving here without you."
Dean zu Castiel 8x02
- In dem Paralleluniversum, in dem Sam und Dean nie geboren wurden, war Castiel so grausam und kalt wie all die anderen Engel. (13x22)