Be`er Scheva, Süd-Israel
Zwei Stunden waren seit dem Überfall vergangen.
Sam, Deeks und G hatten die Leichen der Männer hinunter in den Garten getragen und sie dort nebeneinander auf dem verdorrten Boden abgelegt, der früher einmal der Rasen gewesen war.
Sie saßen schweigend auf der Veranda, als ein dunkler Van vor dem Haus hielt. Die Türen öffneten sich, und Orli Elbaz, bekleidet mit einem eleganten, grauen Hosenanzug, stieg zusammen mit vier, vermutlich ebenfalls dem Mossad angehörenden Männern in schwarzen Anzügen aus dem Wagen. Sich kurz umsehend begab sie sich zielstrebig hinüber zu den Leichen und betrachtete sie schweigend, während sich ihre Begleiter diskret im Hintergrund hielten. Ziva stand auf und ging hinunter zu ihr.
„Orli“, sagte sie leise und blieb neben der Mossad-Chefin stehen, den Blick ebenfalls auf die Toten gerichtet. „Danke, dass du gekommen bist.“
„Hallo Ziva“, erwiderte die ältere Frau, die neben der in Khaki-Hosen und weißem Shirt sehr zierlich wirkenden, jungen Israelin aussah wie eine gestrenge Lehrerin neben einer ihrer Schülerinnen. „Ich tue nur das, was dein Vater getan hätte.“
Ziva schnaufte abfällig.
„Natürlich.“
Orli musterte den mit einem Dreieckstuch fixierten, verbundenen Arm der ehemaligen Agentin.
„Bist du verletzt?“
„Nur ein Streifschuss.“ Ziva wies mit einer Kopfbewegung auf die Toten zu ihren Füßen.
„Kennst du sie?“
„Ja, es sind Gefolgsleute von Bodnar.“
„Sie haben uns ohne Vorwarnung angegriffen.“
„Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie dich hier finden würden. Ich nehme an, sie sind deinen Freunden vom NCIS gefolgt.“
Ziva presste verbittert die Lippen aufeinander.
„Wären meine Freunde nicht hier gewesen, wäre ich jetzt tot, und du hättest ein Problem weniger.“
Orli blickte auf und nickte Sam, Deeks und G, die Ziva gefolgt waren, kurz zu.
„Kann ich allein mit ihr sprechen?“
„Aber sicher“, erwiderte G und bedeutete seinen Kollegen sich zu entfernen.
„Wie kann ich dir helfen?“, fragte Orli, während sie der Tochter ihres Vorgängers ins Haus folgte.
„Du willst mir helfen?“ Ziva strich sich das lange, lockige Haar aus der Stirn.
„Okay, dann sorg dafür, dass deine Leute die Leichen wegbringen. Das Letzte, was ich will, ist, sie im Garten meiner Großeltern zu verscharren.“
Orli drehte sich um und gab ihren Begleitern eine entsprechende Anweisung, worauf diese sich sofort in Bewegung setzten.
Ziva ließ sich erschöpft auf das geflochtene Sofa fallen, auf dem vor vielen Jahren schon ihre Großmutter gesessen und sie, ein Lied vor sich hin summend, auf den Knien gewiegt hatte. Schweigend wies sie auf den Sessel gegenüber.
Orli nahm Platz, schlug die Beine übereinander und blickte die junge Frau abwartend an.
Diese strich sich erneut mit den Fingern durchs Haar und starrte verloren auf einen imaginären Punkt im Zimmer.
„Mein Vater war ein guter Mensch, Orli“, sagte sie nach einer Weile leise. „Auch wenn wir in den letzten Jahren unsere Differenzen hatten, so war er doch immer ehrlich.“
„Daran gab es nie Zweifel, Ziva. Keiner weiß das besser als ich. Schließlich hat er mich ausgebildet“, erwiderte Orli. „Du bist ihm sehr ähnlich.“
Ziva blickte zunächst erstaunt auf, und schüttelte dann verständnislos den Kopf.
„Er hat Bodnar vertraut. Er war sein Freund.“
„Wir haben ihm alle vertraut. Und was Eli angeht - er war ehrlich, aber er war nicht dumm. Ilan Bodnar war zwar sein Freund, und doch hat er genau gespürt, dass etwas im Gange war. Sein Fehler war nur, dass er Bodnar zu sehr vertraute. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein Mann aus seinen eigenen Reihen ein solches hinterhältiges Komplott anzetteln würde.“
„Was weißt du über Bodnars Organisation, über einen möglichen Nachfolger in seinen Reihen?“
Nachdenklich zog Orli die Stirn in Falten.
„Nicht viel. Nach seinem Tod wurde es still um seine Gefolgsleute, und wir hatten schon gehofft, dass die Organisation sich ohne unser weiteres Zutun zerschlagen würde, aber wie man sieht, sind einige von ihnen noch immer aktiv.“ Sie musterte Ziva eindringlich. „Sie wollen Rache, nehme ich an. Sie werden keine Ruhe geben, solange sie wissen, dass du dich hier in Israel aufhältst.“
„Es ist egal, wo ich mich aufhalte. Wenn sie mich haben wollen, werde ich nirgends sicher sein.“
Orli seufzte.
„Wohl wahr. Allerdings kannst du hier nicht viel tun. Es sei denn, du schließt dich uns wieder an.“
„Nein, kein Interesse.“
„Und was wirst du jetzt tun?“
„Was würde mein Vater tun?“
„Er würde sagen, geh dahin, wohin dein Herz dich führt. Das hast du vor langer Zeit schon getan, hast deinen Weg gewählt und dich entschieden. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum du überhaupt hierher zurückgekehrt bist und das alles plötzlich in Frage stellst.“
„Ich hatte nach seinem Tod so viele Fragen.“ Ziva ballte ihre Hand zur Faust und berührte damit ihren Brustkorb. „…hier drin. Ich war traurig, wütend, verunsichert. Ich wusste mit einem Mal nicht mehr, was richtig und falsch war.“
„Und weißt du es jetzt?“
Ziva blieb ihr die Antwort schuldig. Sie stand auf, trat ans Fenster und starrte hinunter in den Garten, wo Orlis Leute damit begonnen hatten, die Leichen von Bodnars Gefolgsleuten in den Van zu laden.
„Wieder sind Menschen wegen mir gestorben“, sagte sie leise, und unendlich viel Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit. Orli war unbemerkt hinter sie getreten.
„Nicht wegen dir, Ziva. Sie sind wegen ihrer Gesinnung gestorben, wegen ihrem unbegründeten Hass auf eine Sache, die jemand aus niederen Motiven begonnen und sie damit mit sich in einen tödlichen Strudel gerissen hat, den sie nicht kontrollieren können. Tötest du sie nicht, töten sie dich. Tötest du einen von ihnen, töten sie einen von euch. Auge um Auge, wie auch immer. So einfach ist das.“
„Es ist nicht einfach. Das war es nie.“
„Das ist richtig. Aber du bist nicht schuld daran, was zwischen uns und Bodnars Leuten geschieht. Machtkämpfe hat es seit Menschengedenken gegeben, und sie werden auch in Zukunft nicht aufhören. Deshalb gibt es Organisationen wie den Mossad oder wie den NCIS, um diese Machtkämpfe zu kontrollieren.“
„Ich weiß. Eli hat immer gesagt, wir sind nur winzige Rädchen in einem riesigen Getriebe.“
Orli lächelte.
„Den Satz kenne ich. Ich habe ihm damals gesagt, dass auch ein kleines Rädchen viel Schaden anrichten kann, wenn es aufhört, sich zu drehen.“
Ziva seufzte.
„Ja, ein kleines Rädchen wie Bodnar.“
„Oder ein kleines Rädchen wie du, das im Getriebe des NCIS fehlt.“ Orli legte ihre Hand auf die Schulter der jungen Frau. „Geh nach Hause, Ziva. Du hast genug getrauert. Bewahre das Andenken an die, die gegangen sind, in deinem Herzen, aber schau jetzt nach vorn und kehre zurück zu denen, die du liebst, die auf dich warten, und die in Wahrheit schon lange deine neue Familie sind. Dorthin, wo dein Herz zu Hause ist.“
Ziva drehte sich zu Orli um und blickte sie bedeutungsvoll an.
„Verzeih mir…“
„Weswegen?“
„Ich glaube, ich habe dich die ganze Zeit über falsch eingeschätzt.“
Orli lächelte.
„Ich weiß. Mach dir deswegen keine Gedanken, meine Liebe, das tun die meisten Leute. In meiner Position darf man nur selten Gefühle zeigen.“
„Wem sagst du das. Abby hat mich einmal eine „gefühllose Kampfmaschine“ genannt. Das hat wehgetan.“
„Wer ist Abby?“
„Unsere Forensikerin und eine sehr gute Freundin.“
Orli nickte wissend.
„Falls du dich entschließt, nach D.C. zurück zu gehen, würdest du mir bitte einen Gefallen tun? Würdest du bei eurem Director ein gutes Wort für mich und meine Organisation einlegen? Vance hat damals die Zusammenarbeit mit uns beendet, aus Gründen, die ich bis heute nicht so richtig nachvollziehen kann. Ich denke, es ist an der Zeit, über eine neue, bessere Zusammenarbeit nachzudenken. Was meinst du?“
Ziva lächelte.
„Ich kann es versuchen.“
Orli reichte ihr die Hand.
„Alles gute Ziva. Pass gut auf dich auf.“
N.CIS Washington D.C.
Gibbs trat aus dem Aufzug und ging hinüber in Abbys Laborräume. Normalerweise tönte ihm schon von weitem ihre laute, meist unverkennbar Gothic-angehauchte Musik entgegen, ohne die sie angeblich nicht arbeiten konnte. Doch jetzt war alles geradezu unheimlich still. Der Team-Chef betrat das Reich der Forensikerin, blieb kurz hinter der Tür stehen und sah sich irritiert um. Alle Apparate waren aus, nicht einmal der Bildschirm ihres Computers gab ein Lebenszeichen von sich. Das war äußerst ungewöhnlich…
„Abbs, bist du da?“
Aus der hintersten Ecke des Labor-Traktes ertönte ein unterdrücktes Schluchzen.
„Abbs?“
„Ich bin hier, Gibbs…“
Sie saß, den weißen Kittel offen über ihrem Gothic-Outfit, und ihr unverwüstliches Stoff-Nilpferd namens Bert im Arm, im Schneidersitz auf einer Decke unten auf dem Boden ihres Labors und schniefte herzerweichend. Neben ihr stand unbeachtet der obligatorische Caf-Pow-Becher.
Mit wenigen Schritten war Gibbs bei ihr, kniete sich beunruhigt vor ihr auf den Boden und nahm sie sacht bei den Schultern.
„Hey“, sagte er vorsichtig, in einem für ihn ungewöhnlich liebevollen Tonfall, der sich anhörte, als spräche er mit einem verstörten Kind. „Was ist passiert, Abby? Was tust du denn hier unten?“
Sie blickte zu ihm auf, zog geräuschvoll die Nase hoch und wischte sich mit einer fast trotzig wirkenden Handbewegung die Tränen weg. Ihre Wimperntusche war verlaufen, und ihre schönen grünen Augen sahen ihn unendlich traurig an.
„Weißt du… ich… ach, vergiss es einfach.“
Gibbs zog ein unbenutztes, altmodisches Taschentuch, das fast so groß war wie ein Geschirrtuch, aus der Hosentasche und wischte ihr damit die verlaufene Wimperntusche aus dem Gesicht.
„Danke.“ Sie schluckte, nahm ihm das Taschentuch ab und schnäuzte sich umständlich hinein. Dadurch drückte sie Nilpferd Bert so sehr an sich, dass dieses einen seiner ordinären Pups-Töne von sich gab, was immer für viel Heiterkeit unter der Belegschaft sorgte.
Gibbs grinste und ließ sich neben ihr auf der Decke nieder.
„Na komm, erzähl mal, was ist passiert?“ Er wies in Richtung ihrer Laborausstattung. „Ist eines deiner Babys krank?“
„Nein, sie sind allesamt okay.“
Gibbs zog abwartend die Augenbrauen hoch.
„Aber?“
„Du wirst es nicht verstehen, Gibbs.“
„Habe ich dich jemals nicht verstanden?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, hast du nicht. Weißt du, ich habe nachgedacht, und plötzlich ist mir etwas klar geworden, etwas, das mich furchtbar traurig macht.“
Er sah sie abwartend an.
„Und was ist das?“
„Ich werde hier bald ganz allein sein, Gibbs!“
„Was?“
„Ihr geht alle weg… einer nach dem anderen… Kate und Jenny sind weg, Ziva hat uns verlassen, und bald wird Kens auch wieder zurück nach LA gehen. Tony ist inzwischen ein erstklassiger Ermittler und bekommt sicher bald ein eigenes Team, und McGee schreibt bestimmt irgendwann einen Bestseller und wird berühmt! Du bist alt, und Ducky auch… Sorry Gibbs, nicht böse sein, aber das stimmt doch, oder?“
Wenn er erstaunt war, so zeigte er das nicht. Er musterte sie aufmerksam, während sie sprach und lächelte dann.
„Was stimmt? Das Ducky und ich alt sind? Na ja, so etwas gibt keiner gern zu, aber da ist schon was dran, Abbs. Trotzdem fühle ich mich lange nicht zu alt, um meine Arbeit noch ein paar Jahre gut zu erledigen. Und was Ducky betrifft, nun ja… da vermute ich, dass er sein Leben irgendwann in nicht absehbarer Zeit auf seinem eigenen Seziertisch beenden wird. Seine letzten Worte werden vielleicht diese hier sein…“ Er straffte die Schultern und imitierte seinen Kollegen und Freund aus der Pathologie: „Mister Palmer, machen Sie sich an die Arbeit, finden Sie heraus, was es war, das mich auf derart unspektakuläre Weise niedergestreckt hat! Und vergessen Sie nicht, eine gepflegte Konversation mit mir zu betreiben, während Sie arbeiten und ich die ewige Ruhe pflege, denn das ist, wie Sie sicher wissen, seit langer Zeit hier Tradition!“
Trotz ihrer Tränen musste Abby nun lachen.
„Das war lustig, Gibbs. Du kannst ja richtig komisch sein!“
„Warum glaubst du plötzlich, dass dich alle verlassen, Abbs? Das stimmt doch gar nicht. Kate und Jenny sind gestorben. Würden sie heute noch am Leben sein, dann wären sie sicher immer noch hier bei uns. Ziva war viele Jahre hin und her gerissen zwischen ihrer neuen und ihrer alten Heimat, und sie ist zurückgegangen, weil man manchmal im Leben an einen Punkt kommt, wo man ganz einfach nach seinen Wurzeln sucht, um sich besser zu fühlen. Das hat nichts damit zu tun, dass sie uns im Stich gelassen hat. McGee und DiNozzo machen nicht den Eindruck, als würden sie ihre Arbeit hier hinwerfen wollen, um sich beruflich zu verändern. Und was Kensi betrifft…“
„Hör auf, Gibbs, ich bin ja nicht blöd!“, unterbrach ihn Abby ungehalten. „Rede nicht mit mir wie mit einem Kind, das nicht versteht, was wirklich vor sich geht!“
„Was… geht denn wirklich vor?“, fragte Gibbs scheinbar verständnislos und erntete dafür ein verächtliches Schnaufen.
„Ich weiß längst Bescheid. Hetty hat Kensi nur deshalb hergeschickt, damit ihr Partner wachgerüttelt wird, sein Trauma bewältigt und sich auf den Weg macht, um Ziva zu suchen! Er soll sie überreden, wieder zu uns zurückzukommen, damit er wiederum seine Partnerin zurückbekommt!“ Wütend drückte sie Bert an sich, worauf dieser mit seinen improvisierten Blähungen ihre Worte lautstark zu unterstreichen schien. „Aber Hettys ganze verdammte Psychologie wird nicht funktionieren, habe ich Recht? Und wenn klar wird, dass der Plan nicht geklappt hat, geht Kensi wieder zurück nach LA, und dann…“ Sie schniefte, während ihr erneut Tränen über die Wangen liefen. „Dann schicken sie neue Leute her, Leute, die ich nicht kenne und nicht mag… und die mich nicht mögen… Sie werden mich nicht verstehen, nicht so, wie du das tust, oder McGee, oder Tony, oder Kensi, oder so wie es Ziva getan hat. Keiner von ihnen wird sagen: Gut gemacht, Abbs!, keiner nimmt mich in den Arm oder gibt mir einen Kuss auf die Wange, ganz abgesehen davon, dass ich mir das auch von keinem außer dir gefallen lassen würde… Und glaub mir, nicht einer von diesen Frischlingen wird auf die Idee kommen, mir einen Caf-Pow zu spendieren! Sie werden mich komisch ansehen, wenn ich meine Musik höre und mit meinen Babys spreche, sie werden wegen meinem Aussehen über mich herziehen und mir Kaffeesucht vorwerfen, und irgendwann werden sie die Tür vergittern, weil sie glauben, dass ich…“ Der Rest ging in haltlosem Schluchzen unter.
Gibbs sah seine Forensikerin sprachlos an. Dann tat er etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: er begann laut und herzlich zu lachen. Das brachte Abby schlagartig zur Besinnung. Augenblicklich verstummte sie und sah ihn fassungslos an.
„Gibbs… hör auf… Gibbs!“ Empört gab sie ihm einen Schubs.
„Was?“, fragte er amüsiert, nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und wischte ihre Tränen weg.
„Wieso lachst du mich aus, verdammt?“, fauchte sie.
„Meine absolut einmalige, kluge, wunderschöne, sensible Abby! Wer sollte dich denn nicht mögen?“ Er schüttelte lachend den Kopf, nahm sie in seinen Arm und zog sie liebevoll an sich. „Egal, ob Hettys Plan funktioniert oder nicht, du wirst hier niemals allein sein! Dafür werde ich schon sorgen, glaub mir.“ Er angelte nach dem Caf-Pow-Becher und reichte ihn ihr. Mechanisch nahm sie einen großen Schluck durch das Trinkröhrchen, ohne Gibbs jedoch aus den Augen zu lassen. Aufmunternd zwinkerte er ihr zu.
„Ich verspreche dir, sollte irgendwann einmal der Tag kommen, an dem ich wirklich nicht mehr hier arbeite, werde ich meine Nachfolger mit dir zusammen vorher auf Herz und Nieren prüfen! Außerdem bekommst du meine private Telefonnummer, und sobald jemand wagt, dich auch nur im Entferntesten zu ärgern oder zu beleidigen, dann rufst du mich an, und ich komme sofort her und verteile Kopfnüsse!“
„Das würdest du wirklich tun?“
„Aber sicher doch… Semper Fi, Abbs. Daran solltest du niemals zweifeln!“
Er erhob sich mit einer Leichtigkeit, für die ihn so mancher junge Agent bewundert hätte, und streckte ihr auffordernd die Hand entgegen. „Na komm, sehen wir mal nach, ob oben gearbeitet wird, nachdem ich vorhin in den Aufzug gestiegen bin. Wir wollen doch die guten alten Zeiten noch ein wenig erhalten! Allerdings kann es gut möglich sein, dass ich mit dem Verteilen der Kopfnüsse bereits beginnen muss.“
Abby wies auf ihren Caf-Pow-Becher.
„Er ist alle.“
„Ein Grund mehr, mit raufzukommen.“
Mit einem ergebenen Seufzer ergriff sie Gibb`s Hand und ließ sich von ihrem Boss auf die Füße ziehen, wobei Nilpferd Bert die Chance nutzte und seinem Schaumgummi-Herzen erneut lautstark Luft machte.
„Tu mir den Gefallen und lass dieses forzende Vieh hier unten“, knurrte Gibbs, und Abby lachte die letzten Tränen weg.
„Ob du es glaubst oder nicht, er beruhigt mich!“
„Na, zumindest ist er geruchsneutral“, erwiderte der Boss trocken und drückte auf den Knopf vom Lift.
„Gibbs?“, sagte Abby leise, während sie warteten, dass die Türen sich öffneten. „Ich glaube dir, wenn du sagst, dass du immer für mich da bist. Trotzdem wünschte ich, alles wäre wieder wie früher.“
Er atmete tief durch und legte abermals seinen Arm um ihre Schultern.
„Wem sagst du das, Abbs. Aber so sehr man sich das auch manchmal wünscht, die Zeit kann man nun mal nicht zurückdrehen. Sie bleibt niemals stehen…“
„Verflixt!“
Vergeblich griff Kensi nach dem Kugelschreiber, der unaufhaltsam über die Schreibtischkante rollte und in unvorteilhafter Entfernung von ihr auf dem Boden landete. Aufseufzend stand sie auf, ging um den Tisch herum und angelte von dort aus nach dem abtrünnigen Schreibutensil.
„Tony!“, warnte sie ihren Kollegen nach ein paar Sekunden, ohne dabei ihre Tätigkeit zu unterbrechen „Hör gefälligst damit auf, derart ungeniert auf meinen Hintern zu starren!“
„Ich kann nicht anders“, erwiderte DiNozzo entschuldigend. „Er ist so… so…“
„Groß?“, ergänzte McGee gutmütig und zog gleich darauf mechanisch den Kopf ein, als Kensi wie von der Tarantel gestochen hochfuhr.
„Ich habe nichts gesagt. Das war er…“, verteidigte sich DiNozzo sofort mit erhobenen Händen und wies dann mit dem Daumen auf Tim, der sich sicherheitshalber hinter seinem Monitor abduckte.
„Du hast einen sehr schönen, wohlgeformten Hintern, Kens, und es wäre eine Schande, nicht hinzusehen, wenn du dich so grazil nach unten bückst, um den Stift aufzuheben, der dir soeben leider - Gott sei Dank - vom Schreibtisch…“
„DiNozzo!“ Kensi knallte den Stift auf den Tisch und zog ihre Bluse glatt. „Halt sofort den Mund, oder du bekommst von mir eine Gibbs-Nuss mitten auf die Nase! Und was dich betrifft, McGee…“ Sie wandte sich um und blitzte ihn herausfordernd an. „Wir beide sprechen uns noch, und zwar nachdem du mir unten in der Cafeteria einen Cappuccino geholt hast!“
„Was denn, jetzt gleich?“
„Na klar, Mc Schwer von Begriff!“, höhnte Tony. „Sofort! Ich nehme meinen mit Milch und Zucker!“
„Das kannst du der Dame unten selbst sagen, DiNozzo“, motzte Tim und erhob sich widerwillig. „Ich kann nämlich nur zwei Becher tragen!“
„Ja klar“, grinste Tony. „Meinen und ihren!... Aua!… Boss!!!“
„Hier holt keiner ohne meine Erlaubnis Kaffee!“, donnerte Gibbs, der mit Abby im Schlepptau eben in der Abteilung angekommen war und seinen Agenten im Vorübergehen auf altbewährte Art gemaßregelt hatte. „Wir haben zu arbeiten!“
Abby kicherte.
„Du meinst das ernst mit den alten Zeiten, oder Gibbs?“
„Was liegt an, Boss?“, erkundigte sich Tony und rieb sich diskret den Hinterkopf.
„Möchten Sie sich dieses Mal über die wiederholte Misshandlung durch Ihren Vorgesetzten beschweren, Agent DiNozzo?“, erklang eine inzwischen wohlbekannte Stimme von der Eingangstür her. „Wie ich schon beim letzten Mal sagte, das steht Ihnen gesetzlich zu.“
Tony klappte buchstäblich der Unterkiefer herunter.
„Ich?... Ähm… nein, auf gar keinen Fall… wieso… Hetty!!!“
„Guten Tag, alle zusammen! Ich hatte dienstlich in D.C. zu tun und wollte mich bei der Gelegenheit nach dem Befinden meiner Agentin erkundigen. Haben Sie sich ein wenig eingelebt, Miss Blye?“
Kensi grinste, umfasste die Kinnlade ihres Kollegen und klappte sie sacht wieder nach oben, bevor sie auf ihre ehemalige Vorgesetzte zueilte, um sie zu begrüßen.
„Es geht mir gut, Hetty. Wir haben uns mittlerweile aneinander gewöhnt.“
„Wie schön.“ Die kleinwüchsige NCIS-Chefin aus Los Angeles reichte den Anwesenden nacheinander die Hand. „Ich muss gestehen, dass ich nicht gedacht hätte, sie alle so schnell wiederzusehen“, gestand sie lächelnd. „Aber das Wohlergehen meiner Agenten liegt mir doch sehr am Herzen.“
„Meine Agentin, Hetty“, verbesserte Gibbs mit einem Grinsen. „Agent Blye gehört auf Ihre Empfehlung hin jetzt zu meinem Team, schon vergessen?“
„Nein, natürlich nicht, wie könnte ich.“ Hetty sah Jethro bedeutungsvoll über den Rand ihrer Brille an. „Ich müsste allerdings in diesem Zusammenhang unbedingt noch etwas mit Ihnen besprechen, Agent Gibbs.“
„Ich hab`s doch gewusst“, flüsterte Abby mit finsterer Miene. „Ich habe heute früh mein Horoskop im Radio gehört, und das war katastrophal!“
„Gibt es ein Problem, Miss Sciuto?“, erkundigte sich Hetty aufmerksam.
Abby presste trotzig die Lippen aufeinander und schüttelte heftig den Kopf.
„Nein… nein, alles okay. Ich geh wieder in mein Labor.“
„Oh bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick, meine Liebe! Was ich zu sagen habe, geht Sie alle an, das ganze Team.“
Erstaunt sahen McGee, Tony, Kensi und Abby einander an. Nur aus Gibbs` undurchdringlicher Miene war nicht zu erahnen, was er dachte.
„Was ist denn los, Hetty?“, platzte Tony heraus. „Wollen Sie uns vielleicht noch mehr Ihrer Leute zur Verfügung stellen?“
„Das ist unmöglich, Agent DiNozzo, denn auch an der Westküste machen die Verbrecher keine Sommerpause. Ich möchte allerdings schon jetzt darum bitten, dass mich nach unserem Gespräch vielleicht einer Ihrer Leute zum Flughafen fahren würde.“
„Aber natürlich, Hetty, kein Problem“, nickte Gibbs und wandte sich an sein Team. „Wer fährt?“
„Kensi!“, riefen McGee und DiNozzo gleichzeitig.
„Wow“ meinte Abby andächtig. „Das hätten sie bei Ziva nie gesagt!“
„Hört, hört. Mein Ruf rennt mir voraus“, klang eine wohlbekannte Stimme von der Tür her. Alle Köpfe flogen augenblicklich herum. Ziva stand dort, zusammen mit Deeks, und grinste mit ihm um die Wette über die erstaunten Gesichter.
„Eilt, Ziva“, verbesserte Deeks altklug. „Es heißt: Mein Ruf eilt mir voraus.“
„Ist doch egal, Deeks!“
Abby fasste sich als erste.
„Zivaaaaa!!!“, schrie sie, holte Anlauf und flog ihrer ehemaligen Teamkollegin förmlich um den Hals. „Ich habe mir so sehr gewünscht, ach was sage ich, wir alle haben uns wie verrückt gewünscht, dass du wiederkommst, und es hat funktioniert! Du bist wieder da!“ Sie stutzte, und ihr Gesicht verfinsterte sich einen Augenblick lang, während sie Ziva prüfend anstarrte. „Du bist doch wieder da, oder?“
„Ja, sieht so aus“, lächelte die Israelin und befreite sich sacht aus Abbys Armen, während sie gleichzeitig Gibbs Blick suchte. „Ich wollte unbedingt einen Neuanfang. Aber, wenn ich es recht überlege, kann ich den genauso gut hier bei euch machen, denn ich bin sowieso mit meinen Gedanken immerzu bei euch. Ihr seid meine Familie, eine andere habe ich nicht mehr. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät für eine Rückkehr?“ Während der letzten Worte, die nicht nur an ihren ehemaligen Boss gerichtet waren, wanderten ihre Augen zu Tony hinüber, der sie wortlos ansah. Ihre Blicke tauchten ineinander und hielten sich fest, und endlich schien er zu begreifen. Ein breites, glückliches Lächeln zog über sein Gesicht.
„Auch wenn ich mir gleich wieder eine Kopfnuss einfange, weil ich dem Boss zuvorkomme“, sagte er, ging auf sie zu und zog sie fest in seine Arme. „Du wirst so geliebt!“ flüsterte er in Erinnerung an ihre letzte Begegnung. „Willkommen zu Hause, Ziva!“
Abby wandte sich zu Gibbs um und sah ihn strahlend an.
„Du wusstest es, oder?“
Er grinste zurück und zwinkerte ihr wortlos zu.
„Hey Leute...“, ließ sich Deeks vernehmen, der noch immer mit verschränkten Armen lässig am Türrahmen lehnte und Kensi unverwandt ansah, die in ihrer Aufregung unbewusst Hettys Hand ergriffen hatte und wie im Trance zurückstarrte. „Kann ich jetzt vielleicht endlich meine Partnerin wiederhaben?“