Sie sprang auf das letzte Verbindungsstück. Noch immer wusste sie nicht, was sie hier überhaupt tat. Richtig gearscht wäre sie, würden sie wirklich in der Anderswelt enden. Dann würde das mit ihrem Urlaub wirklich nichts mehr werden.
Mit einem Tritt bekam sie die Tür auf. Das Schloss war nicht besonders stabil. Wieder fragte sie sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte. Sie war nicht länger für Spider verantwortlich. Sie musste es nicht tun. Aber es war das Richtige.
Wahrscheinlich hatte Michael Recht: Heidenstein färbte auf sie ab.
Da waren Zombies. Sie verdrängte den Gedanken daran, dass es einmal Menschen gewesen waren. Sie wusste nicht, wie viel von den Menschen noch irgendwo da drin war. Sie wollte es auch nicht wissen.
Die Körper waren ausgemergelt, teilweise mit Kalk bedeckt. Tradition wahren, hmm?
„Kun!“, rief Mik, als sie reinkamen.
Der Wagon hatte traditionelle Abteile an den Seiten. Jemand hämmerte gegen die Wand von einem.
Ja, spätestens jetzt wünschte sie sich wirklich eine Granate. Heidenstein war auch nicht hier. Beste Möglichkeit für eine Granate.
So hob sie nur ihre Waffe, um auf den ersten Zombie zu zielen, als jemand sie nach hinten riss.
Alles geschah zu schnell. Sie dachte nicht nach, handelte gänzlich instinktgesteuert.
Schüsse erklangen aus dem Inneren des Wagens – wohl Mik – während sie automatisch nach dem rostigen Geländer der Wagenplattform griff und dabei ihre Waffe verlor. Ihre Füße fanden Halt, noch bevor ihr Gehirn verstand, was geschehen war. Dann erkannte sie die Gestalt der in schwarz gekleideten Frau und das Messer.
Ein Instinkt ließ sie das Geländer mit ihrer eigentlichen Hand loslassen, bevor das Messer dort auf das Metall schlug. Funken stoben.
Ihre Prothese verlor den Halt. Sie rutschte und der Fahrtwind drohte sie mit sich zu reißen. Wenn man sich nur mit Metall an Metall festhielt, konnten auch vierzig km/h zu schnell sein.
Sie verlor den Halt, wäre beinahe vom Zug gestürzt. Beim aktuellen Tempo hätte es sie wahrscheinlich nicht getötet, aber wenigstens schmerzhaft verletzt. Dankbarerweise schaffte sie es, den Fuß in eine Querstrebe zu stecken, sich an der Stange, die diese alten Wagons am Rand hatten hochzuziehen.
Noch einmal sammelte sie ihre Energie, auch wenn sie den Entzug langsam spürte. Doch besser Kopfschmerzen als gebrochene Knochen. So katapultierte sie sich von magischer Kraft geleitet über das Geländer.
Wieder kam das Messer in ihre Richtung.
„Verdammt.“ Fluchend zog sie die Beine an, trat in Richtung der Frau aus. War sie die Hexe?
Der Bereich zwischen den beiden Waggons war für einen Kampf zu eng. Verflucht. Sie musste aufs Dach.
Es rauschte in Pakhets Ohren, als sie die Energie sammelte, aufs Dach zu springen. Nicht zu viel, nur genug um das Zugdach sicher zu erreichen. Sie sprang, zog sich hoch. Ihr Kopf pulsierte unangenehm.
Atemlos blieb sie für eine Sekunde liegen. Sie hatte ihre Waffe verloren. Damit brachten ihr auch die Magazine nichts mehr. Scheiße.
Die Frau erschien auf dem Dach, das Messer gezogen.
Zumindest ein Messer hatte Pakhet auch. Sie zog es. „Was zur Hölle ist dein Problem, Bitch?“
„Dieser Zug ist mein Territorium“, erwiderte die Frau mit einem dicken Dialekt.
Es war schwer ihr Alter zu schätzen. Ihre Augen waren in der Dunkelheit nicht zu sehen. Kein Weiß. Kein gar nichts. Was sie eine Hexe oder etwas anderes? Fae vielleicht? Das würde den Territorialanspruch erklären.
Ach, zur Hölle. Pakhet kämpfte sich auf die Beine. „Wir sind auch gleich wieder verschwunden, wenn du uns Spider zurückgibst!“ Angestrengt versuchte Pakhet irgendeinen Hinweis am Körper der Frau zu erkennen. Etwas, das ihr verriet, ob sie Mensch, Geist oder Fae war.
„Spider?“ Die Frau machte einen hämischen Laut. „Wenn du vom Jungen heute Abend sprichst: Er hat ein einfaches Ticket gekauft.“ Eine gewisse Siegessicherheit lag in ihrer Stimme.
All das hier wäre einfacher, hätte Pakhet ihre Waffe. Oder würde sie nur verstehen, was hier eigentlich passierte. Warum musste Magie immer so kompliziert sein?
Jetzt fuhren die Schienen parallel zu einer alten Straße. Der Van konnte aufholen und nutzte es. Hoffentlich machte Heidenstein keine Dummheiten! Besser, sie lenkte die Hexe ab.
„Dann hast du Spider?“
„Ich frage üblicherweise nicht nach den Namen meiner Passagiere“, erwiderte die Hexe. Noch bevor das letzte Wort im Fahrtwind davongeweht war, hatte sie die Entfernung zwischen ihnen überbrückt. Gerade so schaffte es Pakhet, dem Messer mit einem Schritt zur Seite zu entgehen. Mit ihrer Hand griff sie nach ihrem eigenen Kampfmesser in ihrem Schuh.
Sie war wirklich nicht mehr in Kampfverfassung. Aber irgendwie musste sie das beenden.
Von unten erklangen weitere Schüsse. Hoffentlich war es Mik. Hoffentlich fand er Spider.
Wieder sauste das Messer auf Pakhet zu und dieses mal nutzte sie das eigene, um es zu reflektieren. Sie durfte hier auf keinen Fall Blut verlieren. Egal was diese Frau war, Hexe oder Fae, sie würde wahrscheinlich Blut für einen Fluch nutzen können. Darauf konnte sie verzichten.
Ein weiteres Mal reflektierte sie das Messer. Wo waren Mik und Spider? Hoffentlich hatten die Zombies nicht Mik gefressen.
Pakhet bemühte sich Abstand zwischen sich und der Frau zu bringen. Nicht so leicht bei einem wackelnden Untergrund und Fahrtwind. Mit vorsichtigen Schritten versuchte sie weiter mittig auf das Dach zu kommen, als eine Hand nach ihren Füßen griff.
Überrascht schrie Pakhet auf, schaffte es aber stehen zu bleiben. Ein weiterer Zombie war offenbar durch das Fenster unter ihnen aufs Dach geklettert. Jetzt hing er am Rand des Daches, eine Hand um ihren Knöchel. Er versuchte noch immer sie umzuwerfen. Dann kam das Messer.
Pakhet schaffte es nicht rechtzeitig, sich zu drehen. Stattdessen hob sie im Instinkt die Prothese. Dankbarerweise hatte sie die Kampfprothese angezogen, deren Materialien deutlich widerstandsfähiger waren. Mit einem dumpfen „Klonk“ traf das Messer auf die Hauptschiene der Prothese.
Pakhet griff danach. Die schwerfällige Hand ihrer Prothese griff nach dem Arm der Hexe. Vielleicht war die Prothese langsam, doch griff sie einmal zu, ließ sie nicht mehr so einfach los. Pakhet zog den Arm der Hexe vor, drückte ihn, bis die Hand zu zittern begann. Das Messer fiel auf das Waggondach, ehe der Fahrtwind es mit sich trug.
Gleichzeitig trat Pakhet nach dem Kopf des Zombies, schaffte es ihn so abzuschütteln. Er fiel vom Zug.
Die Hexe fauchte. Das erste Mal bekam Joanne einen guten Blick auf ihr Gesicht. Es war albinoblass. Ihre Augen gänzlich schwarz. Die Zähne im dunklen Mund waren gespitzt. Adern zeichneten sich unnatürlich deutlich unter der Haut ab. Ein Zeichen von Blutmagie?
Dann ein Rufen: „Pakhet?“ Miks Stimme. Leichte Panik klang darin mit.
Erst jetzt fiel Pakhet auf, dass die Schüsse verstummt waren. Verflucht. Was taten diese Idioten schon wieder?
Sie wandte sich um, sah jedoch nichts.
Ein weiterer Schrei. Dieses Mal ein Schmerzensschrei.
Ach, verdammt.
Pakhet nahm ihr eigenes Messer, versenkte es in der Brust der Hexe, ehe sie deren Arm losließ. Dann rannte sie.
Der Schrei war aus dem letzten Waggon gekommen. Es mussten die anderen sein.
Sie rannte, sprang, landete auf dem Verbindungsstück. Dinge, die ihr ohne magische Reflexe so nicht möglich gewesen wären. Schon trat sie die Tür zum Waggon auf, nur um gemeinsam mit sieben Zombies in einem Bistro zu stehen.
Einem Bistro? Vorhin waren hier noch einzelne Abteile gewesen?
Zur Hölle mit all dem! Magie war immer seltsam, immer sinnlos. Sie würde es nicht verstehen. Am Ende des Raums stand Mik vor einem zusammengekauerten Spider, der seine Schulter hielt. Nervös und hastig zeigte Mik mit seiner Waffe immer wieder auf die Zombies, die sich jedoch langsam näherten.
„Pakhet!“, rief er panisch.
Er hatte wahrscheinlich seine Munition verbraucht. Natürlich hatte er das!
Pakhet erwiderte nichts. Stattdessen zog sie ihr zweites Messer heraus. Sie wusste, warum sie mindestens drei Messer bei sich trug. Ohne war man in solchen Situationen aufgeschmissen. Gott, eigentlich sollte sie sich vor ihrem Urlaub ausschlafen!
Sie sprang, warf einen Zombie zu Boden und stach einem zweiten in die Kehle. Das zog die Aufmerksamkeit der anderen auf sie.
Die meisten von ihnen waren einmal Männer gewesen. Was es auch immer damit auf sich hatte. Sie dachte darüber nicht nach. Es waren Zombies, keine Menschen mehr. Sie standen unter der Kontrolle der Hexe oder eines anderen Zaubers. Vielleicht standen sie auch unter Kontrolle des Zugs. Was auch immer sie einmal gewesen waren: Das war lang schon verschwunden. Deswegen zögerte sie nicht, das Messer den zu Boden gegangenen Zombie in den Schädel zu rammen.
Wieder wünschte sie sich langsame Film-Zombies, statt dieser verflucht schnellen Viecher. Schon war ein dritter bei ihr, pinnte sie zu Boden, während sein Kiefer nach ihrer Kehle schnappte.
Sie winkelte die Beine an, trat ihm gegen die Hüfte und katapultierte ihn so von sich.
Ihr Körper schmerzte, doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Stattdessen setzte sie mit ihrem Messer nach, erwischte aber nur die Brust des Zombies, ehe ein weiterer sie herumriss.
Wieder brauchte sie ihre Prothese, um sich zu verteidigen.
„Bring Spider daraus!“, rief sie Mik zu.
„Aber ...“
„Tu's einfach!“ Sie schaffte es die Schulter des Zombies zu erwischen. Sie wünschte sich ihre Waffe her.
Den nächsten Zombie, der sie schnappen wollte, warf sie gegen die Wand, versuchte einen anderen das Messer in den Kopf zu stoßen, als der erste sie von hinten griff, sie mit sich zog. Er hatte die Arme um ihre Schultern geschlungen, fixierte damit ihre Arme zu sehr. Schon war ein anderer Zombie bei ihr.
Sie trat aus, warf ihn zurück.
Fuck.
Der nächste war da, griff nach ihren Beinen.
Dann schallte der Schuss durch das Abteil und der Zombie, der einen Moment vorher ihre Beine umklammert hatte, fiel zu Boden.
„Pakhet!“, rief Heidenstein.
Sie wollte nicht wissen, wann er an Bord gesprungen war oder wo der verfluchte Van war. Wie weit sollten sie eigentlich laufen?
Doch zumindest hatte sie so Freiraum. Mit einer plötzlichen Bewegung riss sie die Arme nach vorn und schaffte es so, sich etwas Bewegungsspielraum zu erkämpfen. Damit ließ sie den Arm hochschnellen, versenkte ihr Messer im Auge des Zombies, der sie hielt.
Ein krächzender Schrei entfuhr seiner Kehle, bevor sie sich umdrehte und noch einmal zustach.
Derweil streckte Heidenstein mit drei Schüssen zwei weitere Zombies nieder. Blieb nur noch einer. Joanne wandte sich um, sah den Untoten, setzte ihm nach und versenkte das Messer in seinem Nacken.
Zu spät sah sie den Schatten hinter Heidenstein.
Dankbarerweise hatten ihn seine Instinkte nicht verlassen. Ob er etwas gespürt hatte? Er fuhr herum, schrie im nächsten Moment jedoch auf. Dann erklang ein Schuss, gefolgt von zwei weiteren.
Wieder fauchte die Hexe, die offenbar noch immer nicht tot war.
Pakhet wartete nicht. Sie nahm ihr Messer, zielte und warf es. Zwar verfehlte sie die Stirn der Hexe, traf dafür aber ihre Wange, ließ sie noch lauter Knurren und Fauchen.
Sie sah zu Spider und Mik, die neben der Tür kauerten. "Worauf wartet ihr noch? Raus hier!"
Heidenstein schoss erneut auf die Hexe, ließ sie zurückweichen. Genug, als dass sich die beiden jungen Söldner an ihr vorbeidrängen konnten. Es folgte ein Schrei.
Dann rannte Pakhet los. "Komm!" Damit packte sie Heidenstein und riss ihn mit sich. Sie sah Blut an seinem Ärmel, doch dafür war später noch Zeit. Schon fegte die Hexe wieder auf sie zu, doch hatte Heidenstein verstanden. Sie wechselten einen kurzen Blick. Dann sprangen sie von der Plattform ab.
Der Schrei der Hexe folgte ihnen. Also war sie noch immer nicht tot.
Einen Moment später schlug Pakhet auf steinigem Untergrund auf. Ganz automatisch rollte sie sich ab, rollte so zwei, drei Meter einen steinigen Abhang hinab, ehe sie auf dem Rücken liegen blieb.
Schwer atmend sah sie zum Himmel hinauf. Die Sternen funkelten unbeirrt über der Savanne.
Nun, zumindest lebten sie noch. Oder?
Der Gedanke ließ sie sich aufrichten und umsehen. „Doc?“
Er lag nur wenige Meter von ihr entfernt. Ein schweres Stöhnen entglitt seinen Lippen, ehe sie zu ihm hinüberlief. Sie kniete sich neben ihm. „Alles okay?“
Er blinzelte sie an. „Ja. Mehr oder minder.“
Erleichtert atmete sie auf. Sie griff nach seinem Arm, spürte das Blut und einen Riss im Stoff. Also war es sein Blut gewesen. Verdammt.
Sie seufzte. „Warum warst du überhaupt da?“
„Na ja …“ Er richtete sich langsam auf. „Ihr habt so lang gebraucht und ich dachte … Du wolltest morgen in den Urlaub fahren und das geht als Zombie so schlecht, oder?“ Mühsam brachte er ein Lächeln zustande.
Eigentlich wollte sie mit ihm schimpfen, brachte es jedoch nicht zustande. „Idiot“, flüsterte sie stattdessen. Dann stand sie auf und reichte ihm die Hand. „Lass uns die anderen beiden suchen.“