Zum Input dieses Monats:
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Ein Blick auf den Lockscreen meines Smartphones verrät mir, dass es heute soweit ist. «Di., 01. April», steht dort in weißen Lettern unter der Uhrzeit. «15:48». Ich reibe mir die Augen. Habe ich wirklich schon wieder bis in den Nachmittag geschlafen? Andererseits, so lange, wie ich gestern Abend – eigentlich ja doch eher heute Früh – noch mit den anderen zusammengesessen bin, springt gar nicht so viel Schlaf dabei heraus. Seit dem Corona-Lockdown hat sich mein Schlafrhythmus, den ich sonst schon nur mühsam überhaupt aufrecht erhalten kann, nach und nach völlig verquert. Erst kam das Home-Office, dann die Kurzarbeit. Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen machen die ganze Sache dazu nicht einfacher. So treffe ich mich also Tag für Tag mit meinen Leuten auf dem Discord, um zu quatschen oder zocken, manchmal schauen wir sogar einen Film zusammen – an dieser Stelle ein Hoch auf die modernen Streamingdienste – und hin und wieder kramt sogar eine oder einer ein Buch heraus, so richtig aus Papier, und liest den anderen ein paar Kapitel vor. Es sind gesellige Tage und Nächte und wir haben wirklich viel Spaß zusammen. Kaum ist das Headset aber abgesetzt und der Laptop zugeklappt, so drängt sich die eigene, reale, fühlbare Einsamkeit jedes Mal noch stärker ins Bewusstsein.
Während ich so vor mich hin grüble und darauf warte, dass der schläfrige Nebel sich aus meinen Gedanken verflüchtigt, sehe ich im Augenwinkel plötzlich den Bildschirm meines Handys aufleuchten. Mechanisch greife ich danach und überfliege die Benachrichtigung, welche die Anzeige der Uhrzeit nun etwas nach oben drängt. «Erinnerung in 1 Stunde – Termin um 17:00 Uhr: ‘Geheimnisvolle Einladung’», teilt es mir mit. Was täte ich nur ohne dieses intelligente, kleine Ding, denke ich mir schmunzelnd, als ich mich schwerfällig aufrichte. Ich würde vermutlich meinen Kopf irgendwo ablegen und einfach vergessen.
Noch etwas benommen schwinge ich die Beine über den Rand des Bettes. Mir bleibt also noch eine Stunde, um mich für die geheimnisvolle Überraschung fertig zu machen. Wer weiß, vielleicht ist es ja bloß ein billiger Aprilscherz. Das war mein erster Gedanke, als ich vor knapp zwei Wochen den in einem antiquierten Tonfall verfassten, handgeschriebenen Brief aus der Post gefischt hatte. Ich hätte bei einem Preisausschreiben gewonnen, dabei konnte ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, irgendwo dergleichen teilgenommen zu haben. Das sprach eigentlich erst recht für einen, zugegeben raffiniert inszenierten, Scherz. Eigentlich hatte ich auch nicht vorgehabt, der Sache weitere Beachtung zu schenken. Allerdings war mein Leben in den vergangenen zwei Wochen so öde geworden, gezeichnet von zunehmenden depressiven Phasen und Zeiten des überforderten Nichtstuns, dass mir inzwischen jegliche Form der Ablenkung, des Ausbrechens, willkommen ist. Letztendlich habe ich mir den Termin im digitalen Kalender gespeichert, denn schließlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich diesen rar gewordenen Ausblick auf Ablenkung auf keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen darf.
Nach einer zügigen Dusche mühe ich mich vor dem Spiegel damit ab, meine von der vernachlässigten Pflege strohig gewordenen, hellblonden Haare irgendwie in eine passable Ordnung zu bringen. Letztendlich entscheide ich mich für einen lockeren Pferdeschwanz, dazu bloß ein wenig dunkelbraunen Kajal und Mascara. Meine Bewegungen fühlen sich ungelenk an – wie lange ist es denn her, dass ich mich zuletzt hübsch hergerichtet habe? Es kommt mir vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Bei der Kleidung fällt meine Wahl auf eine schlichte, bordeauxrote Bluse, dazu eine dunkle Stoffhose. Nach all der Zeit in Jogginghose oder gänzlich in Unterwäsche muss dies in Sachen «angemessene Kleidung» genügen. Geschwind werfe ich noch mein Portemonnaie und eine Packung Taschentücher in meine schwarze Handtasche, als es auch schon an der Türe klingelt. Einen Funken freudig-nervöser Aufregung kann ich nun nicht mehr unterdrücken. Was mich wohl erwarten wird?
Im Vorbeigehen greife ich noch nach meiner Lederjacke und dem Schlüssel, schon fällt die Wohnungstür hinter mir ins Schloss. Vielleicht wird es ein lustiger Abend, überlege ich bei mir, als ich immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter eile. Besser als sonst kann es eigentlich nur werden. Mit euphorischem Schwung ziehe ich die schwere Haustüre auf und stürme hindurch, nur, um noch auf dem schmutzigen Gitterrost, der Ankommenden als Fußabstreifer dient, wie angewurzelt zu erstarren.
Damit habe ich absolut nicht gerechnet. Am Straßenrand erwartet mich eine Pferdekutsche. Ein wahrhaftiger, historischer Einspänner. Völlig irritiert wandert mein Blick über das nachtschwarze Gefährt, das dort, in echt und lebensgroß, vor mir im Schein der sich gen Horizont neigenden Sonne steht. Für einen Moment zweifle ich an meinen Sinnen. Das ungeduldige Schnauben des ebenfalls lackschwarzen Pferdes, das vor den edlen Wagen gespannt ist, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Umspielt von den flachen Sonnenstrahlen wirkt es beinahe, als würde das prächtige Tier von sanften Nebelschwaden umschmeichelt. Ich muss es wohl geraume Zeit mit offenem Mund angestarrt haben, jedenfalls wendet es mir auf einmal seinen elegant geschwungenen Kopf zu, hebt währenddessen seinen Schweif und zeigt mir, was es von mir hält. Das dumpfe Geräusch, mit dem die Pferdeäpfel auf dem Asphalt landen, reißt mich schließlich aus meiner unfreiwilligen Erstarrung.
«Ähhh–», presse ich einen unverständlichen Ton hervor.
«Frau Kranich?»
Erst jetzt bemerke ich den Mann im langen Frack und Zylinder, der offenbar schon die ganze Zeit neben der offenen Seitentür der Kutsche verharrt. «Ehm– ja», stammle ich unbeholfen, «ich meine, das bin ich.» Insgeheim gratuliere ich mir dafür, doch noch einen zumindest grammatikalisch korrekten Satz zustande gebracht zu haben.
Der Fremde, bei dem es sich augenscheinlich um den Kutscher handeln muss, deutet eine Verbeugung an. «Darf ich Sie bitten, einzusteigen?»
Völlig perplex mache ich einen Schritt auf das Trittbrett zu. «Ich– äh», erneut bemühe ich mich darum, meine Zunge zu ordnen. «Klar», krächze ich schließlich hilflos und ich schicke mich an, hineinzuklettern. Was zur Hölle tue ich da eigentlich? Das Ganze ist mir inzwischen alles andere als geheuer. Andererseits – was kann schon Schlimmes passieren? Das kratzende Geräusch der sich schließenden Wagentür schickt mir Gänsehaut über den Rücken. Wenn das hier wirklich ein Aprilscherz ist, dann hat sich jemand richtig viel Mühe gegeben. Der Auftritt bisher – so unbehaglich ich mich fühle, so neugierig macht mich die Sache auch. Ich möchte es mir zumindest einmal ansehen. So schlimm kann es ja wohl nicht werden, oder? Ein kräftiger Ruck wirbelt meine Gedanken hinfort, als das Gespann langsam anrollt. Zum Glück wohne ich in einer ruhigen Seitenstraße, denke ich mir noch, dann zieht mich die draußen vorbeiziehende Landschaft in ihren Bann.
«Landschaft?» Das Wort echot schal in meinem leergefegten Kopf hin und her, als ich die weitläufigen Felder und die kleinen Waldstücke bewundere, die ich in der Ferne ausmachen kann. Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, um zu begreifen, was mich an dem Ausblick so stört. «Aber ich wohne doch in der Stadt?», murmle ich tonlos. «In der Stadt?» Die Knöchel meiner Finger treten weiß hervor, als ich mich fassungslos an den Türgriff kralle. Doch dieser bewegt sich keinen Millimeter. Draußen rast die Landschaft im Licht der untergehenden Sonne immer schneller vorbei. Mir entfährt ein angstvoller Schrei, doch bin ich mir nicht sicher, ob überhaupt ein Laut meine Lippen verlassen hat. Meine Ohren jedenfalls wirken seltsam taub und bunte Lichtpunkte tanzen vor meinen Augen umher. Die Sonne geht schon unter? So spät kann es doch unmöglich sein. Mit zitternden Fingern taste ich nach meinem Smartphone, vergeblich. Wie ein Blitz durchzuckt mich die Erinnerung – diese Stoffhose hat keine Gesäßtasche, wo ich das vermaledeite Ding normalerweise verstaue. Es muss noch auf meinem Nachttisch liegen…
Schwindel umfängt mich wie ein Peitschenhieb. Ich stemme meine Hände verzweifelt in das weiche Polster der Sitzbank und kämpfe mit aller Kraft darum, mein Gleichgewicht während der holprigen Fahrt wiederzufinden. Kalter Schweiß lässt mir die leichte Bluse bereits unangenehm am Rücken kleben. Krampfhaft versuche ich, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Was geht hier nur vor sich? Wie? Wieso…? Jegliche logische Frage erscheint zwecklos, folgt doch das Geschehen selbst keinerlei nachvollziehbarer Logik.
Das Gespann muss inzwischen mit einer beachtlichen Geschwindigkeit unterwegs sein, stelle ich keuchend fest, als ich unsanft gegen die Wagentür geschleudert werde. Von draußen dringen die anfeuernden Rufe des Kutschers an mein Ohr, dazwischen Peitschenknallen und das schrille Wiehern des edlen Rappen, dessen beschlagene Hufe im rasenden Dreitakt über den Boden donnern. Die nackte Angst greift mit ihren eisernen Krallen nach meiner Kehle. Inzwischen wird die vorbeirasende Landschaft gänzlich von der erbarmungslosen Schwärze der Nacht verschluckt. Kein einziger Lichtpunkt ist zu sehen, nicht einmal ein einziger Stern zeigt sich am Himmel. Zunehmend schwerer bekomme ich Luft, ringe bereits um Atem, als die Panik vollends die Kontrolle über meinen Körper erringt.
Ich finde mich zusammengekrümmt auf dem Boden des Gefährts wieder. Um mich herum ist es stockdunkel, ich sehe nichts, werde im Fußraum gewaltsam hin und her geworfen. Das Rumpeln der hölzernen Räder über den unebenen Boden, das Geschrei des Kutschers und das Wiehern des Pferdes dröhnen in meinem Kopf. Der Schmerz lässt mich beinahe die Besinnung verlieren. Keuchend nehme ich all meine verbliebenen Kräfte zusammen, um Sauerstoff in meine Lungen zu pumpen.
Plötzlich Stille.
Wie aus weiter Entfernung dringt das Geräusch leichter Schritte an mein Ohr.
«Frau Kranich?» Eine Stimme, mir seltsam vertraut. «Willkommen zurück.»