Zum Input dieses Monats:
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Völlig desorientiert lässt Laura ihre Hand wieder sinken. Sie vermisst jegliches Gefühl für ihren Körper. Vorsichtig tastet sie in der Dunkelheit umher und versucht, irgendwo Halt zu finden. Es ist so stockfinster, dass sie absolut nichts erkennen kann. Langsam dreht sie ihren Kopf und lauscht in die Schwärze, doch sie vernimmt nur die völlige Stille. Sie ist allein. Auch ist ihr weder warm noch kalt. Anscheinend befindet sie sich in einem geschlossenen Raum, ohne Fenster oder auch nur eine einzige Lichtquelle.
Was ist nur geschehen? Lauras Erinnerung wird von dichten, schwarzen, undurchdringbaren Nebelschwaden überschattet, doch hier und da schwirren grelle Lichter in verschiedenen Farben vor ihrem inneren Auge. Waren sie nicht in diesem abgefahrenen Club? Ein Geheimtipp in der Partyszene dieser Stadt. Ja, genau! Ein Fetzen Erinnerung wogt langsam in greifbare Nähe. Ihre Freundin Nina hatte es irgendwie geschafft, auf die Gästeliste dieses exklusiven Schuppens zu kommen. Also hat sie Kai und Laura so lange bequatscht, bis die beiden zusagten. Trotz ein paar Befürchtungen vor dem Unbekannten hatten sie ja schon irgendwie Lust auf so ein nächtliches Abenteuer. Das übliche Nachtleben hier war schließlich nicht das spannendste. Der Club dagegen war eine Legende, eine Art Mythos, denn man kam nur rein, wenn man jemanden kannte, der jemanden kannte… Weiß der Kuckuck, wie Nina an den Kontakt gekommen ist.
Aber was ist dann passiert? Laura konzentriert sich auf die Erinnerung an die bunten Lichter. Sie waren definitiv in diesem Club. Und da war dieser Typ, der erst Nina, dann Laura und dann Kai antanzte. Die Stimmung war gut, aber ungewohnt. Die Leute gingen alle sehr vertraut miteinander um. Der Alkohol, die Musik, die Lichtreflexe, die fremden Körper – es war wie ein Rausch. Irgendwann verloren sie sich im Getümmel auf der Tanzfläche aus den Augen. Laura erinnert sich sogar daran, wie sie auf dem Weg zur Toilette Mühe hatte, ihr Gleichgewicht zu halten. Also steuerte sie die Bar an, um ihrem Kreislauf eine kleine Verschnaufpause zu gönnen. Sie weiß noch, dass sie dort etwas trank und sich mit einem gutaussehenden Mann unterhielt. Wenn man das gegenseitige Anschreien als Unterhalten bezeichnen möchte. Doch dann? So verschwommen ihre Erinnerungen bis zu diesem Punkt auch sind, ab da existieren sie schlichtweg nicht mehr. Und wie lange ist das alles überhaupt her?
Leichte Panik steigt in Laura auf. Sie will aufstehen, um Hilfe rufen, doch ihr Körper gehorcht ihr nicht und kein Laut verlässt ihre Lippen. Die Hilflosigkeit packt sie mit eiskaltem Griff und bohrt sich tief in ihr Inneres.
Laura hat keinerlei Zeitgefühl. Sie weiß nicht mehr, wie lange sie schon in der Finsternis verharrt. Plötzlich dringen schwache Rufe aus der Ferne an ihr Ohr. Bilde ich mir das ein? Ist das ein Traum? Sie will schreien, auf sich aufmerksam machen, doch hat sie ihre eigene Stimme noch immer nicht unter Kontrolle. Dafür werden die fremden Stimmen lauter und Laura meint sogar, hastige Schritte auszumachen. Angestrengt versucht sie, zumindest die Richtung zu erkennen, aus der die Geräusche kommen. Werden sie mich finden?
Auf einmal taucht in einiger Entfernung ein Lichtschein auf, der hektisch auf und ab springt. Im nächsten Augenblick ist das Licht so grell, dass Laura völlig geblendet ist.
“Da ist sie! Hier drüben!” Ist das nicht Kais Stimme? Mehr Menschen kommen um die Ecke, das Licht ihrer Taschenlampen tanzt wild im Raum umher.
Erleichterung macht sich in Laura breit, als sie ihren besten Freund erkennt. Sie streckt ihm ihren Arm entgegen. Doch Kai kommt nicht direkt auf sie zu, sondern fällt einen Schritt neben ihr auf die Knie.
Was ist los? Was ist passiert? Laura will ihn anschreien, ihn schütteln. Wie hast du mich gefunden?
Doch dann fällt ihr Blick auf das blutige Etwas, das dort im Schein seiner Taschenlampe am Boden liegt. Laura braucht einen Moment, um zu erkennen, dass es ein Mensch ist. Eine Frau, die kaum mehr als solche zu erkennen ist. Ihre hellen Haare kleben in dunkelroten Klumpen zusammen. Ihr blutverschmiertes Gesicht ist von Kratzern und Platzwunden übersät. Die nackten Füße sind merkwürdig nach hinten verdreht und eine dunkle Lache breitet sich unter ihrem Unterleib aus.
Fassungslos starrt Laura die junge Frau an. Kai kniet schluchzend bei ihr und murmelt unverständlich vor sich hin. Es benötigt zwei von den Männern, die mit ihm gekommen sind, um ihn gewaltsam von der Leiche wegzubewegen. Alle reden durcheinander und irgendwo krächzt eine Stimme aus einem Funkgerät. Immer mehr Menschen kommen in den Raum, der nun gar nicht mehr dunkel ist.
Laura hat jegliches Gefühl für ihre Umgebung verloren. Alles wirkt irgendwie unwirklich, wie in einem Film. In der Ferne hört sie Kai brüllen, er scheint nicht aufzugeben, gegen die beiden Männer anzukämpfen. Und in all dem Chaos achtet noch immer niemand auf sie. Es ist, als wäre sie gar nicht da. Die unbeteiligte Beobachterin. Nein. Es beginnt, ihr zu entgleiten.
Mach’s gut, mein Lieber. Und pass mir gut auf Nina auf, flüstert Laura in Gedanken.
Dann lässt sie los.