Zum Input dieses Monats:
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Sinon fröstelte ein wenig trotz der Anstrengung, als sie die wenig befahrene Landstraße entlang strampelte und der laue Frühlingswind über ihre nackten Unterarme strich. Ihr Fahrrad hatte schon bessere Zeiten gesehen, denn die Gangschaltung funktionierte nicht mehr richtig, weshalb sie Steigungen mit ihrer Körperkraft ausgleichen musste, und der Gepäckträger war nach einem unglücklichen Unfall abgebrochen. Wegen der mangelnden Transportmöglichkeit war es ihr auch zu umständlich gewesen, eine Jacke mitzunehmen, was sie schon jetzt bereute, vor dem eigentlichen Unterfangen.
Die Straße schlängelte sich in weiten Bögen zwischen frisch bestellten Feldern und grünen Wiesen entlang, doch in der Ferne konnte Sinon bereits die hohen Banner ausmachen, die den Eingangsbereich der Landesgartenschau markierten. Schnaufend trat sie fester in die Pedale, um auch noch die letzten etwa 500 Meter zügig hinter sich zu bringen. Endlich baute sich der historische Gutshof vor ihr auf, auf dessen Grundstück in wenigen Tagen die blumenprächtige Ausstellung eröffnen würde.
Nachdem sie ihr altes Fahrrad hinter ein paar Büschen vor neugierigen Blicken verborgen hatte, inspizierte Sinon vorsichtig die Umgebung. Eigentlich war sie davon ausgegangen, den hohen Zaun irgendwie überwinden zu müssen, doch die knarzenden Scharniere eines halbgeöffneten Tores, das sich leicht im kühlen Abendwind bewegte, erregten ihre Aufmerksamkeit. Hatte etwa jemand vergessen, sorgfältig abzuschließen? Oder waren womöglich noch Gärtner da? Nach kurzem Zögern beschloss Sinon, ihr Glück einfach hinzunehmen, und schlüpfte durch das Tor in den Ausstellungsbereich. Schließlich war sie an diesem Abend extra die ganze Strecke von ihrem Dorf hier her geradelt, um der geheimnisvollen Attraktion der diesjährigen Landesgartenschau auf den Grund zu gehen, auf welche die ganze Stadt schon so gespannt war.
Staunenden Blickes lief die junge Frau zwischen den aufwändig angelegten Beetformationen hindurch, die den vorderen Bereich des Ausstellungsgeländes dominierten. Das Licht der einbrechenden Dämmerung verlieh der reichen Blütenpracht eine blasse, beinahe belanglose Aura. Sinon war bereits einige Minuten unterwegs, als sie an ein kleines Labyrinth aus etwa hüfthohen Rosenbüschen gelangte. Da sie auf den ersten Blick keinen Weg daran vorbei ausmachen konnte, der ihr als Abkürzung hätte dienen können, machte sie sich daran, es zu durchqueren. Sie hatte sich schließlich schon immer für Irrgärten begeistern können. Die akribisch angelegten Bögen mit ihren plötzlichen Wendungen und raffinierten Verbindungen nahmen ihre Aufmerksamkeit für eine Weile gänzlich in Anspruch. Völlig fasziniert schlenderte Sinon zwischen den dornigen Hecken mit ihren roten und pinken Knospen hindurch und so dauerte es eine ganze Weile, bis sie am Ausgang des Labyrinths angelangt war. Dies holte jedoch ihre Gedanken zurück in die Realität und veranlasste sie dazu, ihren Schritt zu beschleunigen. Schließlich war sie wegen etwas Anderem überhaupt hergekommen.
Vor Sinon baute sich nun ein kleines Waldstück auf. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, dann musste sich darin die geheimnisvolle Attraktion verbergen. Gespannt folgte sie dem breiten Schotterweg hinein. Die tiefen Furchen auf dem Boden verrieten ihr, dass vor noch nicht allzu langer Zeit ein schweres Gefährt, vermutlich ein Schlepper mit Anhänger, dort entlang gefahren sein musste. Etwa, um jene aufwändig angekündigte Sensation zu ihrem Ausstellungsort zu transportieren?
Glücklicherweise war das Waldstück nicht sonderlich groß. Da es aber augenscheinlich nicht mehr bewirtschaftet wurde, war das Unterholz zu beiden Seiten des Weges sehr dicht bewachsen, ja, regelrecht verwildert. Dies vermittelte der jungen Frau den Eindruck, als befände sie sich in einem verwunschenen Märchenwald. Sie genoss die Vorstellung, denn von Geschichten mit Magie und phantastischen Wesen konnte sie noch nie genug bekommen. Hinzu kam, dass die Dämmerung in der Zwischenzeit weiter fortgeschritten war, sodass es unter dem dichten Blätterdach bereits sehr düster wurde. So achtete Sinon sorgfältig auf ihre Schritte, denn schließlich wollte sie sich nicht die Blöße geben und sich beim nächtlichen Einbruch auf das Gelände der Landesgartenschau auch noch verletzen.
Endlich schien sich Sinon ihrem Ziel zu nähern, denn vor ihr öffnete sich das Dickicht und sie stand plötzlich vor einer beinahe kreisrunden Lichtung. In der Mitte der von dicht belaubten Bäumen gesäumten Fläche lag auf einem schneeweißen Sockel aus Marmor ein etwa ein Meter hoher Stein. Nur, dass es kein normaler Stein war. Irgendwie schien er aus Glas zu sein, war aber nicht durchsichtig. Stattdessen schillerte die spiegelglatte Oberfläche dieses Steines, der anscheinend eine Art Kunstwerk darstellen sollte, in allen Farben des Regenbogens. Sinon bildete sich sogar ein, der Stein würde von innen heraus glühen, ja, geradezu pulsieren, doch sie konnte beim besten Willen nirgends einen Hinweis für einen Stromanschluss erkennen.
Wie angewurzelt stand Sinon am Rand der Lichtung und ließ ihren Blick über die unerwartete Szenerie gleiten. Das war also diese mysteriöse Attraktion? Eine Art bunte Stehlampe in Outdoor-Optik? Für einen Moment hatte sie der Anblick dieses wunderschönen, bunt funkelnden Steines völlig in seinen Bann geschlagen. Sie fragte sich, wer sich solch ein Ding wohl in den Garten stellen würde. Doch plötzlich bemerkte sie im Augenwinkel eine Gestalt. Erschrocken entfuhr ihr ein Laut der Überraschung, doch wer auch immer dort stand schien sie überhaupt nicht zu bemerken oder aber schlichtweg zu ignorieren. Es handelte sich um einen dunkelhaarigen Mann mittleren Alters in der grünen Arbeitskleidung eines Gärtners, der nur wenige Schritte zu ihrer Rechten stand und mit offenem Mund den schillernden Stein anstarrte.
Sinon wollte sich gerade auf leisen Sohlen zurückziehen, als der Gärtner begann, leise vor sich hin zu stammeln. Die junge Frau zögerte und hielt den Atem an, um die Worte verstehen zu können. “Es leuchtet… aber… warum leuchtet es…”, drang es an ihr Ohr. Er schien völlig die Fassung verloren zu haben. Einige Atemzüge lang stand Sinon unschlüssig da. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob es besser war, einfach ohne großes Aufhebens wieder zu verschwinden, oder ob sie sich lieber davon vergewissern sollte, ob es dem Mann wirklich gut ging. Immerhin machte er einen sehr verwirrten Eindruck.
Während sie noch mit sich selbst ausdebattierte, was sie nun tun würde, erregte der leuchtende Stein erneut ihre Aufmerksamkeit. Hatte das Ding etwa gerade gezittert? Tatsächlich, da war es wieder, eine leichte, surrende Bewegung. Dazu bildete sich die junge Frau ein, dass das Leuchten immer stärker wurde. Was das wohl zu bedeuten hatte? Gab es etwa ein Problem mit der Elektrik? Sinon machte einen unschlüssigen Schritt nach vorn in Richtung des Kunstwerkes, obgleich sie noch immer nicht wusste, was sie angesichts dieser merkwürdigen Szenerie ausrichten sollte. In diesem Moment erzitterte der Stein ein weiteres Mal und ein beträchtliches Stück brach im oberen Bereich einfach heraus, wie von Geisterhand. Gerade hatte sie sich vorgenommen, den Gärtner doch anzusprechen, als ein ohrenbetäubender Schrei die Luft zerriss.
Die Blicke von Sinon und dem teilnahmslosen Gärtner richteten sich schlagartig nach oben, von wo der unbeschreibliche Ton zu kommen schien. Aus der Düsternis des Wäldchens heraus wirkte der Abendhimmel unwirklich hell. Zunächst konnte die junge Frau absolut keine Quelle für diesen unmenschlichen Schrei ausmachen. Doch dann schob sich ein winziger Punkt in ihr Sichtfeld, vermutlich ein relativ weit entfernter Vogel, der sich rasch näherte. Einige Sekunden später musste sie ihre Einschätzung allerdings revidieren, denn das war kein gewöhnlicher Vogel und obendrein offenbar viel weiter weg gewesen als sie angenommen hatte. Als die riesige geflügelte Gestalt ihre Lichtung beinahe erreicht hatte, fuhr Leben in den bis zu diesem Augenblick reglos dastehenden Mann. Urplötzlich sprang er auf sie zu, packte sie am Arm und riss sie nach hinten in den Schutz der Bäume. Dies passierte so abrupt, dass Sinon strauchelte und unsanft in dornigem Gestrüpp landete.
Der Einsatz des Gärtners geschah keine Sekunde zu früh. Denn dort, wo die beiden eben noch gestanden waren, schoss just in diesem Moment eine heiß lodernde Feuersäule auf den Boden. Zum Glück war das Wetter zu dieser Jahreszeit sehr wechselhaft und der letzte Regen noch nicht allzu lange her, sodass die herumtobenden Funken keinen größeren Schaden im feuchten Holz anrichteten. Als sich die Wand aus Rauch und Hitze ein wenig verflüchtigte, traute Sinon ihren Augen nicht mehr. Vor ihr auf der Lichtung stand ein riesiges, in einem satten Grün über zartes Gelb bis hin zu einem kräftigen Orange funkelndes Wesen, die Flügel drohend ausgebreitet und den mit Schuppen und spitzen Hörnern gepanzerten Kopf wachsam erhoben, während der kräftige, echsenartige Schwanz einige kleinere Sträucher auf der Lichtung niedermähte.
Sinon hielt sich mit beiden Händen den Mund zu, in dem Versuch, den panischen Angstschrei zu unterdrücken, der aus ihrer Kehle herausbrechen wollte. Ihre Erfahrung im Umgang mit Tieren ließ sie hoffen, dass das imposante Geschöpf womöglich nicht noch einmal angreifen würde, solange es keine Bedrohung empfand. Also tastete sie nach dem Arm des stummen Gärtners, dem sie nach der beherzten Ausweichaktion vermutlich ihr Leben zu verdanken hatte, und gebot ihm mit einer Geste der Beruhigung, sich auf keinen Fall zu rühren. Tatsächlich schien dieses unter gewöhnlichen Säugetieren verbreitete Verhaltensmuster auch auf Sagengestalten zuzutreffen, denn das schillernde Wesen hörte zwar nicht damit auf, die beiden Menschen mit seinen strahlenden, himmelblauen Augen zu fixieren, drehte seinen wuchtigen und ebenfalls geschuppten Körper jedoch geschmeidig zur Seite.
Erst jetzt bemerkte Sinon die im Verhältnis dazu winzige Gestalt, die hinter einem Flügel des riesigen Wesens hervorlugte. Das kleine Ding stieß ein hohes Quieken aus und stolperte ungelenk ein paar Schritte weit, die zierlichen Flügelchen hilflos flatternd. Damit zog das Kleine die Aufmerksamkeit des großen Sagentieres – seiner Mutter? – vollends auf sich. Diese senkte den gehörnten Kopf zu ihm hinunter und blies ihm eine zarte Flamme über die filigranen Schuppen. Dann packte sie das Kleine mit ihren spitzen Zähnen am Halsansatz und schwang sich leichtfüßig wieder in die Lüfte. Drei, vier Flügelschläge später waren die beiden nur mehr ein winziger Punkt vor dem sich rasch verdunkelnden Abendhimmel.
Es vergingen Minuten, in denen sich keiner rührte. Oder waren es Stunden gewesen? Nein, das konnte nicht sein, denn der Himmel war noch immer nicht in das tiefe Schwarz der Nacht übergegangen. Fassungslos starrte Sinon die überall verstreuten, kunterbunten Steinsplitter an, in denen nun jedes Glühen erloschen war. Sie zitterte am ganzen Leib. “Es war ein Ei…” Hatte sie die Worte gerade ausgesprochen oder nur gedacht? “…es war ein Ei…” Das Flüstern stammte zweifellos von ihren eigenen Lippen. “Es war ein Ei”, hauchte sie etwas lauter und wandte sich dem Mann zu, der gemeinsam mit ihr Zeuge dieses unwirklichen Schauspiels geworden war. Er stand noch immer regungslos da und versuchte vergeblich zu begreifen, was dort gerade vor seinen Augen geschehen war. Sinon packte ihn an den Schultern und riss ihn gewaltsam herum. “ES WAR EIN GOTTVERDAMMTES EI!”, brüllte sie ihm ins Gesicht. Dann gaben ihre Beine unter ihrem Körper nach und sie sackte erschöpft zusammen.