Noch lange stand En David so auf seinem Posten im Turm, dachte teilweise völlig abwesend an jene vergangene Zeit, die er nur aus Geschichten kannte, die sich jedoch in seiner Phantasie lebhafter entfaltete, als manche Erinnerung aus seinem eigenen Leben. Von Zeit zu Zeit rief er sich auch zur Wachsamkeit, ließ seine Augen wieder und wieder aufmerksam über den Platz schweifen, nahm auch mehrmals das Fernglas zur Hand, um verschiedene Wappen auf Kleidung zu erkennen, doch er fand wieder einmal nicht, wonach er suchte und es ärgerte ihn.
Es ärgerte ihn, dass sein Vater ihn zurückgelassen hatte, dass er geschworen hatte, auf das Zeichen zu warten, dass er sich siebzehn Jahre daran gehalten hatte und dass er sich nicht einmal sicher war, das Zeichen auch wirklich zu erkennen, wenn es jemals auftauchen sollte. En Davids Herz gab nun Zweifeln Raum, die sich über die Jahre angesammelt hatten.
Nun kam ihm der Gedanke, sein Versprechen zu brechen, plötzlich belanglos vor neben der Entscheidung, ob sein Leben vergeudetes Warten oder gewagtes Abenteuer sein sollte. Ihm war bewusst, dass ein Bruch mit diesem alten Schwur genauso gut seinen Tod bedeuten konnte wie das treue Warten verlorene Liebesmüh sein mochte. Er war sich nichts sicher: Sollte er seinem Herzen mehr Vertrauen schenken oder dem Verstand, der erfüllt war von den Lehren und Einschärfungen des Vaters?
Der Abend dämmerte schon violett am Horizont und En David war zu müde, um letzteres ernsthaft zu durchdenken. Er traf die Entscheidung, seinem Herzen zu folgen und hoffte vage, dass Götter, von denen er wenig wusste, auf seiner Seite sein mögen.
"...DA-VID? EN DA-VID?", hörte er die Stimme seiner Frau Valtivu aus dem Hof erklingen. Es musste schon Zeit fürs Abendessen sein. "ICH KOMME, VALTI MEIN SCHATZ!", brüllte er gespielt herrisch zurück.
Unten angekommen herzte er die schöne Tautazene, die er vor nun schon zehn Jahren geheiratet hatte - wie schnell die Zeit doch vergangen war. Sie gingen Arm in Arm ins Haus, wo ihre Kinder, Rundor und Ara, schon am Tisch saßen, erwartungsvoll als hätten sie zu Mittag nichts gegessen.
Als sie am Tisch saßen, war sich En David wieder nicht mehr so sicher. Er lachte mit seinen Kindern und seiner Frau und konnte sich schwer vorstellen sie bald zu verlassen. Er dachte daran, dass seine Frau schwanger war und bald gebären würde. Es mochte noch ein oder zwei Monate dauern, doch konnte er ihr das antun, bei der Geburt des Kindes nicht dabei zu sein. Er würde mit ihr allein darüber reden müssen. Sie hatte das Recht seine Entscheidung anzufechten.
Er entschied sich, Valtivu kurz beiseite zu nehmen. Falls er noch heute Abend seinen Kindern Lebewohl sagen wollte, musste er es jetzt mit ihr klären.
"Liebste, ich habe etwas mit dir allein zu besprechen." sagte En David, worauf Valtivu etwas überrascht antwortete: "David, wir sind doch beim Essen, kann das nicht warten." - "Es muss jetzt sein, Valti - wir werden nicht lange brauchen." – Er hätte sie einfach fragen sollen, bevor sie ins Haus gekommen waren. Andererseits, vielleicht war es ganz gut das die Kinder schon aßen – "Nun gut, gehen wir in den Hof?", wirkte sehr gespannt, fast beunruhigt als sie das fragte. Ihre Aufmerksamkeit weckte ein verschmitztes Funkeln den Augen ihres Mannes, obwohl er nicht vorhatte, diese Spannung aufrecht zu erhalten. Nicht in dieser Angelegenheit. "gerne.", sagte er einfach und erhob sich vom Tisch.
Draußen standen nun schon die ersten Sterne im Westen am Himmel.
Beide hatten einen Becher Wein in der Hand und ließen sich auf der Bank neben der Tür nieder. En David sah seiner Frau in die Augen als er zu sprechen begann:
"Es ist jetzt siebzehn Jahre her, dass mein Vater mich mit dem Auftrag zurückgelassen hat, nach diesem Zeichen Ausschau zu halten und ich habe noch keine Spur davon gesehen. Ich habe mir vorgenommen, mich wenigstens für ein paar Wochen selbst auf die Suche zu machen. Ich möchte in den nächsten Tagen aufbrechen und es gerne heute Abend noch den Kindern sagen. Bevor du etwas sagst, ich weiß, dass in den nächsten Wochen unser Kind geboren werden soll, aber ich möchte auch nicht in den ersten Monaten nach der Geburt verschwinden. Deshalb hoffe ich, bis dahin schon zurück zu sein. Zu warten, bis ich dem Kinde ernsthaft etwas weitergeben kann, fiele mir hingegen sehr schwer."
Valtivu, versuchte zu lächeln doch die Tränen, die sich in ihren Augen bildeten, sprachen eine andere Sprache, als sie erwiderte: "Ich liebe dich David, und wenn du dir sicher bist, dass das der richtige Weg ist, will ich dich unterstützen." - "Das ist es ja gerade. Ich bin mir nicht sicher, aber ich bin mir sicher, dass ich es nicht mehr lange aushalte, tatenlos hier rum zu sitzen. Vielleicht habe ich das damals alles falsch verstanden.", sagte der kräftige Mann, der bei diesen Worten seinen Arm um Valtivu legte, und dabei so wirkte, als wolle er sich an ihr festhalten. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und blickte ins nächtliche All hinauf, während sie sanft sagte:
"Das mag sein. Ich halte dich dennoch nicht zurück und was die Geburt unseres Kindes angeht bin ich ganz deiner Meinung; um ganz ehrlich zu sein, du warst mir auch bei den anderen Geburten keine große Hilfe, falls ein Mann das überhaupt sein kann", sie schmunzelte bei diesen Worten - "Mutti wird mir im Haus zur Hand gehen und es wird schon weitergehen. Auch Ara kann sich mittlerweile sehr gut um Rundor und sich selbst kümmern. Versprich mir nur, dass du dich nicht unüberlegt Gefahren aussetzt." En Davids Arm hatte sich entspannt und er versprach dankbar und voll neuen Mutes: "Das werde ich sicher nicht tun. Danke für dein Vertrauen. Ich hatte fast nicht erwartet, dass du mir zustimmst. Wenn du nichts mehr sagen willst, würde ich zu unseren Süßen zurückkehren." Er wollte sich schon erheben, doch sie griff nach der Hand, die immer noch auf ihrer Schulter lag und fragte mit Augen, die immer noch Tränennass, aber nun auch voller Freude glänzten: "Siehst du die Sterne, David?" - "Klar und leuchtend, mein Schatz", sagte En David und drehte sich, nun seinerseits gespannt, zu Valtivu, die seinen Blick einige Sekunden still erwiderte, bevor sie leise weitersprach: "Jedes Mal, wenn ich das Bedürfnis nach mehr Kontrolle bekomme, denke ich an diese Sterne, die in ihren Bahnen ziehen. Was ich auch dagegen unternehme, ich kann sie nicht aufhalten." Er lachte auf und sie lachte herzhaft mit, als er erklärte: "Ich weiß schon, warum ich dich geheiratet habe." Sie küssten sich innig und gingen dann wieder ins Haus zu den Kindern.
Die Kinder weinten, als ihr Vater ihnen seine Entscheidung mitteilte. Ara beruhigte sich, nachdem En David beide auf den Schoß genommen hatte, doch Rundor war untröstlich und konnte nicht verstehen, wie sein Vater ihn für länger als ein oder zwei Tage verlassen konnte. Rundor war zu diesem Zeitpunkt gerade drei Jahre alt und nicht gerade ein Muttersöhnchen. En David hatte sich schon gewundert, dass Valtivu so leicht zu überzeugen gewesen war. Vielleicht hatte sie gehofft, dass die Kinder ihn überzeugen konnten.
En David tat es leid. Er konnte aber auch keinen klaren Gedanken fassen, während Rundor schluchzend auf seinem Schoß saß. Er bedeutete Ara, auf ihr Zimmer zu gehen und begann Rundor zu streicheln und sang ein altes Lied, dass ihm gerade einfiel. Es war womöglich etwas zu traurig, um jemanden zu beruhigen, aber es hatte eine schöne eingängige Melodie. Valtivu stimmte leise mit ein und schließlich schien Rundor bereit, sich auf Verhandlungen einzulassen. En David bot ihm an, sie könnten gemeinsam die Sachen packen, die der Vater für die Reise brauchen würde. Rundor ließ sich dafür begeistern, mit dem Vertrauen eines Kindes, das nicht ganz versteht, worauf es sich gerade einlässt.
Zuerst gingen sie gemeinsam in den Schuppen, wo En David einen Sack vom Haken nahm, um die Ausrüstung zu transportieren. Er würde nicht viel brauchen, denn die Nächte waren zu dieser Jahreszeit auf Tauta sehr mild und man konnte leicht, lediglich mit einem Mantel bedeckt, auf der Heide unter den Sternen schlafen.
Wegen der gegenwärtigen Knappheit an Nahrungsmitteln konnte En David auf einen guten Proviant allerdings nicht verzichten, war doch nicht zu hoffen, dass er auf dem Weg etwas kaufen konnte oder gar bei jemandem als Gast willkommen sein würde. Nachdem sie ein Messer, ein Wurfeisen, zwei Trinkschläuche und eine Laterne zusammengesucht hatten, gingen sie also in den Keller. Dort unten ließ En David sich von Rundor drei Säckchen getrockneter Urugu-Früchte geben und suchte selbst ein paar frische Früchte aus. Auch etwas getrocknetes Fleisch, Pilze und Gemüse packte er ein. Dann gingen sie auch schon zurück ins Haus, um Kleidung zu holen. Rundor holte den besten Mantel aus der Truhe neben dem Bett der Eltern, er war richtig begeistert, diese Truhe von innen zu sehen, die für die Kinder streng verboten war. Er hätte den schweren Deckel ohne die Hilfe seines Vaters ohnehin noch nicht anheben können.
Valtivu trat ins Schlafzimmer und lächelte. Sie hatte Ara bereits zu Bett gebracht und nun konnte man auch in ihrem Gesicht etwas Melancholie erkennen, wenn man im trüben Licht des Abends genau hinsah. Sie lächelte, weil sie sich freute, dass Rundor glücklich war, doch innerlich warf sie sich vor, dass sie ihren Mann einfach so gehen ließ. Sie liebte En David mehr als sich selbst und sie glaubte fest daran, dass er bald zurück sein würde. Er würde ein paar Freunde seines Vaters besuchen, mehr oder weniger viel von ihnen in Erfahrung bringen und entweder seinen Vater finden oder eben nicht. Er konnte nicht vorhaben, die ganze Welt nach seinem Vater abzusuchen - das wäre aussichtslos.
Als Valtivu noch dort hinter Vater und Sohn im Schlafzimmer stand, ganz unbemerkt von den Beiden, die in der Kiste stöberten, ging ein Brüllen durch die laue Abendluft. Es war ein erschütternder Klang, den man in dieser Region nur zu gut kannte, aber so nah...