En David drehte sich um und griff schnell in den gepackten Reisesack. Er nahm Messer und Wurfeisen heraus, seine Hände zitterten. Sein Vater hatte ihn einige Jahre im Nahkampf ausgebildet und er beherrschte auch das Wurfeisen gut, doch er hatte beides nie im Ernstfall eingesetzt. Schon einmal hatte er einen Urenark jagen wollen, war damals aber mit seinen Freunden unverrichteter Dinge wieder heimgekehrt. Nun war das Tier jedoch im Dorf. Es stand quasi vor der Tür und man musste es bekämpfen, bevor es Unheil anrichtete. Der Urenark war jenes furchterregende Tier, das in den schlimmsten Märchen, die in Ed Bad erzählt wurden, Väter, Mütter und – besonders – unvorsichtige Kinder fraß. Er war überall gefürchtet.
Auf den Hochebenen war er ausgerottet, doch immer wieder kam einer aus dem Tal und dann gab es eine Jagd. In Erzählungen war das meist ein Ereignis, mit dem die Beteiligten sich brüsteten, obwohl man auch immer wieder hörte, dass der Urenark einige der Jäger getötet hatte, bevor sie sich seiner ermächtigen konnten.
En David umarmte Rundor noch einmal und übergab den nun wieder weinenden Sohn seiner Mutter. Dann erhob er sich und schritt eilends zur Haustür. Diese öffnete er vorsichtig und zog sie schnell hinter sich zu, als er auf die Straße trat, auf der bereits die anderen Männer zusammenliefen. Es waren nicht mehr als fünfzehn im Dorf. Dorf war vielleicht auch ein zu starkes Wort für dieses Nest, dem En David zu entfliehen versuchte. Alle waren ihm hier zugewandt. Die meisten vertrauten darauf, dass sein Königtum eines Tages wieder aufgerichtet werden würde, alle hätten sie es begrüßt.
En David war es unangenehm, wenn man nach seiner Meinung fragte, weil er der Enkel eines früheren Königs war. Er mochte es nicht, wenn er allein wegen seiner Abstammung für etwas Besseres gehalten wurde. Er wollte nicht der rechtmäßige Thronfolger sein, sondern ein eigenständiger Mann.
Umso besser war es, dass es für einen Urenark klare Abwehrmaßnahmen gab. Koloj, dessen Familie diese Siedlung einst gebaut hatte, würde mit seinem Bogen irgendwo Stellung beziehen, sobald man das Tier gesichtet hatte. Wenn der Urenark sich nicht oder nur langsam bewegte, mochte man ihn gleich erschießen, sonst würde es nötig sein, dass die anderen Männer ihn auf sich aufmerksam machten. In diesem Fall würden sie ihn mit den Waffen auf Distanz halten und auf einen tödlichen Schuss warten, den Koloj von der Seite abgeben würde. Wenn der Schuss ihn nicht niederstreckte und nur dann, würden sie tatsächlich kämpfen. Der Urenark war von vorne nahezu unverwundbar, weil er einen so harten und großen Schädel hatte, eine breite Stirn, die fast keine Sicht auf seine Schultern freigab. Mit seinen Krallen und dem Starken Gebiss, war er auch für eine Gruppe von Angreifern kein leichtes Ziel, wollte man nicht ein paar Männer opfern.
Sie verließen also geschlossen den erleuchteten Hof auf der einzigen Straße in die Richtung, aus der man den Urenark gehört hatte. Da war es wieder. Jetzt noch etwas näher. Ein tiefer Laut, auf seltsame Weise brummend und bellend zugleich.
Mariol war der Erste, der den Urenark erblickte. Er schien direkt der Siedlung zuzustreben. Mariol war gerade vor zwei Wochen Vater geworden und nicht bereit heute zu sterben. Ihm brach der Schweiß aus als er den anderen zurief: "Da ist er!"
Sogleich brach Koloj nach rechts aus, um sich aus geeigneter Entfernung zum Schuss bereit zu machen. Er war ein geübter Jäger, doch selbst er hatte es noch nie mit einem Urenark zu tun gehabt. Für gewöhnlich schoss er Vögel und hin und wieder mal einen Hirsch. Er zweifelte, ob sein Schuss stark genug sein mochte, um den Urenark zugrunde zu richten.
Keiner der Männer hatte einen Vergleich, doch einer bemerkte, dass sich das Tier sehr langsam bewegte, und keiner konnte das leugnen. Man hatte gehört, dass hungrige Tiere über Kilometer hinweg geeignete Beute witterten und sich dann auf eine schnelle Jagd begaben, doch dieses Tier musste entweder alt sein oder satt.
Die Männer waren sich sicher, dass die Gefahr die von ihm ausging dadurch nicht geschmälert wurde, gingen also weiter auf ihn zu. Manche von ihnen waren kampfeslustig, andere wiederum unsicher bis verängstigt. Diese hielten sich etwas zurück während jene die Führung übernahmen. Mariol lief als letzter und betete still aber umso angestrengter, es möge nicht zu einem Kampf kommen. Er glaubte dabei nicht wirklich, dass sein Gebet eine Veränderung zu bringen vermochte.
Sie waren nun nur noch vielleicht hundert Meter von dem Urenark entfernt und En David drängte weiter nach vorne, um den Feind besser sehen zu können, dem sie gegenüberstanden. Er fühlte sich schuldig, mit allem Mut zu kämpfen, den er aufbrachte, war er doch unverhofft das Vorbild dieser Gemeinschaft. Wenn er nicht alles gab, was dann?
Sie näherten sich langsam weiter an und Koloj gab einen Signalruf ab. Er befand sich auf Position. Es musste nun optimal sein, wenn sie dem Urenark mit gleicher Geschwindigkeit entgegenkamen, wie er ihnen. En David hielt die anderen etwas zurück, damit sie nicht zu schnell voran kamen. Der Einschusswinkel war wichtig, bei solch einem starken Tier.
Sie erhoben nun alle ihre Waffen. Manche hatten Mistgabeln, En David vertraute für den Ernstfall auf sein Messer, hatte aber noch einen Stock ergriffen, mit dem er helfen konnte, das Tier auf Distanz zu halten. Das Wurfeisen hatte er dafür vor der Tür abgelegt. Es würde ihnen nicht helfen.
Nun war der Urenark nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt und da hörten sie auch schon die Bogensehne schnalzen. "Halt.", brüllte En David im gleichen Moment, doch es war zu spät, der Schuss war gefallen.
Dennoch machte der Urenark keine Anstalten sich aufzubäumen oder gar auf die Männer loszugehen. Stattdessen hörte man ein Stöhnen von seinem Rücken.
Dort saß tatsächlich ein Reiter, ein kränklich aussehender Mann, dürr und leichenblass. Er schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen seine Haut war weiß, fast bläulich. Als wäre ihm sehr kalt, trug er einen dicken Mantel und in seinem Bein steckte der Pfeil. Der Urenark schien ein zahmes Tier zu sein. Eine Sensation, galt er doch als unzähmbar. Dennoch trauten sich die meisten nicht, dem verwundeten Reiter zu Hilfe zu eilen, der offensichtlich im Frieden kam, trug er doch keine Waffen. En David riss seinen Nebenmann am Arm mit sich und gemeinsam hoben sie den Gast vom Urenark, bedacht, sich bei ihm zu entschuldigen. En David allein war aufgefallen, dass die Fellzeichnung der Stirn des Urenarks künstlicher Natur war - Er hatte den Träger des Zeichens gefunden - und dann hatte er ihm so einen unwürdigen Empfang bereitet.
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überarbeiten:
– En David ist überrumpelt
– Hat eine Menge Fragen
– Seine Gedanken explodieren, weil seine Vergangenheit über ihn hereinbricht