Nach dem Prompt „Einlappenkotinga [Tierische Geschichten mit lauten, technischen Geräuschen]“ der Gruppe „Crikey!“
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"Winterruf" ist eine Sage, die Seeleute an einem unbekannten Ort aufgeschnappt und in alle Winkel der Eisenwelt getragen haben. Der Ursprung der Erzählung lässt sich leider nicht mehr feststellen, denn die Sage verbreitete sich von Hafen zu Hafen wie ein Lauffeuer - oder vielleicht eher wie eine Pusteblume, die an jeder neuen Küste Wurzeln schlug und ihre Samen mit dem Wind (und jedem abfahrenden Schiff) zu neuen Orten entsandte.
Theorien wollen die Ursprünge der Geschichte auf Wajbaqwinat im Dschungel yan Yaiyin, in den Weiten Miomeras oder sogar in Sermowa verorten - letztes eines der wenigen Länder auf Seiyaris ohne Zugang zum Ozean!
Wo auch immer "Winterruf" herkommt, es ist kein Wunder, dass die Geschichte unter Seeleuten Anklang fand, gerade unter jenen, welche spät im Jahr hofften, den nächsten Hafen vor dem Packeis zu erreichen. Heute ist es ein Volksmärchen der gesamten Eisenwelt, wieder und wieder erzählt, bis es in tausenden Versionen existiert - sodass alle Hinweise auf seinen Ursprung verwischt sind, mag ein hoher Baum sich doch in einen Berg verwandelt haben, oder Klippen zu Wipfeln geworden sein. An Land wie auf dem Wasser sind die Worte anders, doch die Geschichte gleich; und überall flehen die Erdvölker die Silberschwinge an, mit dem dritten Ruf noch ein wenig zu warten ...
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Auf einem Berg, dem höchsten im Umkreis tausender Meilen, inmitten von Schnee und Sturm, lebt die Silberschwinge. Ein Vogel mit Gefieder von Silber, eine jede Feder ein filigranes Messer, strahlend weiß wie der morgendliche Nebel über Schneefeldern. Sie hat einen Zopf über dem Schnabel, an dem sich Eiskristalle sammeln, wenn die Zeit gekommen ist. Denn während viele Tiere Winterschlaf halten und die Zeit der Kälte in Höhlen verschlafen, so ruht die Silberschwinge von der Schneeschmelze im Frühling bis zum Laubfall im Herbst.
Wenn die erste Schneeflocke irgendwo den Boden berührt, erwacht die Silberschwinge in ihrem Nest hoch in den Wipfeln. Und wie ein Hahn zum ersten Sonnenstrahl, kräht die Silberschwinge einen lauten Ruf. Ihre Stimme ist gewaltig und hallt weithin über Felder, Wälder, Wiesen und Meere. Ihr Ruf klingt wie Metall in der Schmiede oder wie der Ruf eines Geisterwals. Ihre Stimme ist laut wie das Tosen der Wellen und der Donner des Himmels und eine Lawine zusammen.
Dieser erste Ruf ist eine Warnung. Wehe, heißt sie uns, wehe! Der Winter kommt!
Wenn das letzte Blatt vom letzten Baume fällt, und sich auf der frostbedeckten Erde zur letzten Ruhe bettet, dann ruft die Silberschwinge zum zweiten Mal. Ein Ruf, laut wie die Brandung am Stein, traurig wie eine ertrunkene Jungfrau. Dieser zweite Ruf verkündet das Ende des Herbstes, das Ende der Ernte, den Beginn der Zeit von Kälte und Dunkelheit.
Wehe, heißt er uns, wehe! Der Herbst ist tot!
Und noch ein drittes Mal ruft die Silberschwinge auf dem höchsten Gipfel vom höchsten Wipfel. Wenn sich die Eisstürme erheben und die Flüsse zufrieren, wenn die Erde versteinert und die Wolken zu Flocken werden und sich auf das Land legen, dann ruft die Silberschwinge zum dritten und letzten Mal.
Wehe, heißt es uns dann, wehe! Der Winter ist da!
Drum wisse, wenn du einen lauten Ruf hörst, dass die Zeit der Kälte naht, und wenn du einen zweiten Ruf hörst, dass die Zeit der Ernte um ist, und wisse auch, dass du beim dritten Rufe nicht mehr draußen auf See und Wanderung sein solltest. Denn wer beim dritten Wintersruf noch draußen ist, den holt die Kälte, und oben auf dem höchsten Berg weint die Silberschwinge um jene, die ihre Warnung nicht beachtet haben.