Alec trug Zauberglanz, seit er sich erinnern konnte. Und es war wichtig, dass er Zauberglanz trug, das wusste er. Seine Eltern hatten es ihm deutlich gemacht, noch bevor er überhaupt laufen konnte. Oder sprechen, oder irgendetwas anderes. Zauberglanz war wichtig, immer und überall. Es war das Erste, das Alec morgens tat und das Letzte vorm Schlafengehen: die Rune aktivieren.
Er hatte, das war vielleicht das einzig Positive an der Sache, seine erste eigene Stele bekommen, bevor er in die ersten Trainingsgruppen gekommen war. Izzy war deswegen manchmal neidisch auf ihn, aber Alec hätte liebend gerne sofort mit ihr getauscht. Denn sie war normal. Sie hatte zwei ganz normale Augen in unterschiedlichen Brauntönen. Er dagegen ...
Er seufzte und sah sein Spiegelbild wütend an. Zwei blaue Augen strahlten ihm entgegen. Aber er wusste, dass das nur eine Illusion war. Seine Eltern hatten lieber behauptet, er hätte noch keinen Seelenverwandten, als der Welt die Wahrheit zu offenbaren. Alec deaktivierte den Zauberglanz. Es war ein Ritual für ihn geworden. Einmal am Tag überprüfte er, ob er noch immer so aussah. Er wusste, sollte sein Seelenverwandter sterben, bevor sie sich das erste Mal trafen, würde sein rechtes Auge pechschwarz werden. Alec wusste nicht, ob er das wirklich wollte. Ob er wirklich wollte, dass er seinen Seelenverwandten nie kennenlernte. Aber im Grunde wäre das besser als das. Alles wäre besser als das goldgelb leuchtende Katzenauge, das ihm jetzt aus der Spiegelfläche entgegenblickte. Denn wirklich, er hätte lieber keinen Seelenverwandten als ausgerechnet einen Schattenweltler.
„Alec?“
„Warte kurz.“ Hastig aktivierte er die Rune wieder. Seine Schwester wusste zwar Bescheid, seit sie ihn vor ein paar Wochen in eben dieser Situation überrascht hatte, aber er wollte ihr dieses grässliche Auge nicht nochmal zeigen. Und sie verstand es, irgendwie zumindest.
„Beeil dich, Dad sagt, wir dürfen zu Max!“
Sofort riss Alec die Tür auf. „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“, schimpfte er seine kleine Schwester grinsend. Seit einer Woche war ihr jüngster Bruder auf der Welt und jetzt durften sie endlich zu ihm. Das verdrängte sogar Alecs schlechte Stimmung.
***
Magnus strich sanft über die Spiegelfläche. Das blaue Auge, das ihm entgegenstrahlte, brachte ihn wie immer zum Lächeln. Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als er es das erste Mal gesehen hatte. Zwanzig Jahre war das jetzt her, zwanzig Jahre, in denen Magnus jeden Tag nach seinem Seelenverwandten gesucht hatte. Und er würde diese Suche nicht aufgeben, niemals. Er würde seinen Seelenverwandten finden. Als Erstes, das hatte er schon genau geplant, würde er sich dafür entschuldigen, dass er oder sie so lange mit einem Katzenauge gestraft gewesen war. Dann würde er ihn oder sie in seine Arme ziehen und bis zur Besinnungslosigkeit küssen. Schließlich wartete er bereits seit beinahe dreihundert Jahren darauf, seinen Seelenverwandten endlich zu treffen.
„Magnus?“
Sofort legte er Zauberglanz über seine Augen. Zwei braune Augen, absolut unauffällig in der Welt der Irdischen. Manchmal taten sie ihm leid, diese armen Wesen, die nie wissen würden, wenn sie ihren Seelenverwandten trafen. Doch nur diejenigen, die es vermochten, durch den Glanz zu blicken, der die Irdischen seit jeher von der Schattenwelt trennte, konnten die wahren Augen sehen. „Was gibt es?“, wandte er sich an Elias.
„Bitte denke noch einmal darüber nach.“
Magnus seufzte. Seit er zugestimmt hatte, die Schattenjäger zu treffen, benahm der andere Hexenmeister sich unmöglich. Aber er konnte einfach nicht widerstehen, die Kette zurückzubekommen, die er einst Camille geschenkt hatte. Auch wenn sie nicht seine Seelenverwandte gewesen war, die Liebe hatte sie verbunden. Und das war ein bisschen Risiko wert. Außerdem konnte es nicht schaden, sich mit den Schattenjägern gut zu stellen.
***
Magnus sah dem jungen Schattenjäger fest in die Augen. Zwei strahlend blaue Augen, genau wie das, das er im Spiegel sah. „Ich glaube, wir wurden uns noch nicht richtig vorgestellt“, meinte er charmant. Nicht, dass dafür Zeit gewesen wäre zwischen Angriff, Flucht und Kampf. Aber er musste es langsam angehen. Wenn er recht hatte, und da war er sich eigentlich sicher, dann war dieser Schattenjäger sein Seelenverwandter. Und ein Schattenjäger mit einem Katzenauge, ein Schattenjäger, der offensichtlich zu einem Hexenmeister gehörte, nun, der Junge hatte bestimmt keine einfache Kindheit gehabt.
„Alec.“ Er lächelte kurz, einen winzigen Moment, dann wandte er sich um und verschwand so schnell, dass Magnus keine Zeit hatte zu reagieren.
„Okay“, sagte er halblaut zu sich selbst und sah sich in dem Raum um. „Der Kampf ist noch nicht vorbei.“
***
Sobald klar war, dass keine weitere Gefahr drohte, verzog Alec sich auf eines der Sofas. Er musste nachdenken, dringend. „Katzenauge“, hatte der Schattenjäger gesagt, der Magnus angegriffen hatte. Aber das konnte, das durfte nicht sein. Alec wollte das nicht. Heute nicht und am besten niemals. Gut, er wusste schon etwas länger, dass sein Seelenverwandter höchstwahrscheinlich männlich war und ein Hexenmeister. Aber er wollte ihn nicht treffen, darüber war er sich ebenfalls im Klaren. Es war so schon schwierig genug, da brauchte er diesen Mann nicht noch wirklich an seiner Seite. Oder auch nur in der gleichen Stadt wie seine Eltern.
Und die Sprüche, die Magnus von sich gab, machten es auch nicht unbedingt besser. Alec wollte am liebsten von hier verschwinden. Kampftraining um den Kopf freizukriegen, das wäre jetzt ganz praktisch. Stattdessen steckte er in diesem Loft fest, weil Jace unbedingt Valentines Tochter helfen wollte. Einen Dämon beschwören, ganz großartige Idee.
„Können wir kurz reden?“
Erschrocken zuckte er zusammen, als Magnus wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte.
„Clary zeichnet das Pentagramm, das wird eine Weile dauern. Also, können wir kurz reden?“
„Ich ... Lieber n...“
„Das ist eine großartige Idee.“ Izzy schlang einen Arm um seine Hüfte und lächelte Magnus strahlend an. „Ich beschäftige Jace und ihr beiden“, sie boxte Alec gegen den Arm und sah ihn streng an, „tut, was immer ihr tun müsst.“
„Eigentlich ...“
„Keine Widerrede, Bruderherz!“
Alec gab sich geschlagen. Gegen Izzy hatte er noch nie eine Chance gehabt. Nervös sah er sich um, als Magnus ihn ausgerechnet in das Schlafzimmer führte.
Magnus schnipste einmal mit den Fingern und ein rötlicher Schimmer legte sich über die Tür. „Jetzt kann uns niemand mehr stören.“
Alec widerstand dem Drang, einen Pfeil einzuspannen und auf Magnus zu zielen, aber nur sehr knapp. „Ich bin nicht gerne eingesperrt“, erklärte er und schielte aus dem Fenster. Eindeutig zu hoch, um als Fluchtweg zu dienen.
„Du kannst jederzeit gehen.“ Magnus klang ... enttäuscht? Alec verstand die Welt nicht mehr. Kein Hexenmeister würde ausgerechnet einen Schattenjäger haben wollen, das war ja das zweite gigantische Problem an dieser ganzen Geschichte. „Aber zuerst ...“ Irgendwie hatte Magnus es geschafft, ihm viel zu nahe zu kommen. „Sieh mir in die Augen.“
Und Alec tat es. Zwei braune Augen und dann, ganz plötzlich, ein goldgelbes Katzenauge und ein strahlend blaues. Die gleichen Augen, die er selbst im Spiegel sah. „Ich ... Du ...“ Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Zeigst du mir deine?“
Alec brauchte einen Moment, bis er die Frage verarbeitet hatte. Dann fischte er seine Stele aus seiner Tasche und deaktivierte mit geschlossenen Augen die Zauberglanz-Rune. Er wollte nicht, sollte nicht, niemals. Doch als er Magnus’ Hand an seiner Wange spürte, öffnete er die Augen wieder und sah das erste Mal einen Menschen mit seinen wahren Augen direkt an.
„Du bist es“, hauchte Magnus. „Ich habe dich endlich gefunden.“ Er legte seine Arme auf Alecs Schultern und Alec ...
... befreite sich hastig. „Es tut mir leid“, sagte er und verfluchte sich selbst dafür, dass seine Stimme so rau klang. „Ich bin bestimmt nicht, was du dir vorgestellt hast.“
Magnus hinter ihm lachte leise. „Ich glaube, du hast mir nicht richtig zugehört.“
Magnus griff nach seiner Hand und Alec konnte nicht anders, als sich wieder umzudrehen. „Ich bin ein Schattenjäger“, murmelte er.
„Und ich ein Hexenmeister“, entgegnete Magnus mit einem Lächeln, das Alecs Knie weich werden ließ. „Ist das wirklich wichtig?“
„Ich weiß nicht ...“ Alec war verwirrt.
Magnus strich ihm über die Wange. „Küss mich einfach, ja? Nachdenken können wir später.“
Irgendwie klang das nach einem guten Plan, fand Alec. Und so beugte er sich tatsächlich ein Stück nach unten, bis seine Lippen die des Hexenmeisters trafen. Ein kurzes Stechen zuckte durch sein rechtes Auge und er wusste, wenn er das nächste Mal in den Spiegel sehen würde, dann wären seine Augen auch ohne den Zauberglanz beide blau. Aber das war jetzt nicht so wichtig. Magnus erneut zu küssen, das war das Einzige, was in diesem Moment noch zählte.
Nachwort:
Im vorletzten Abschnitt befinden sich zwei mehr oder weniger direkte Zitate aus Folge 1.4.