Sie gelangten in einen schmalen dunklen Gang, der sie ohne große Umwege in einen neuen Raum führte. Wie zuvor auch verschloss sich der Durchgang hinter ihnen sofort, bevor das Licht heller wurde.
Unsicher sah Hermine sich um. Das letzte Rätsel war erstaunlich leicht gewesen, zumindest mit der Hilfe von den beiden anderen. Aber sie befürchtete, dass das nicht so bleiben würde. Ihnen gegenüber befand sich eine neue Metalltür, wieder mit einem kleinen Tastenfeld versehen. Darüber stand in großen Buchstaben ‚IV. Seele und Meer: ?‘.
„Was bedeutet das?“, brach Chloe die Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
„Da drüben steht noch mehr“, erwiderte Cassandra nur, die zur rechten Wand sah. Hermine folgte ihrem Blick. ‚I. Knochen und Kopf: 111-3‘ stand dort auf gleicher Höhe. Es machte die Sache für sie nicht unbedingt klarer. Sie drehte sich weiter. An der Wand, durch die sie gekommen waren, stand ebenfalls etwas. ‚II. Rippe und Leber: 103-4‘ und auch an der Wand links vom Eingang. ‚III. Hand und Ohr: 70-7‘.
In der Mitte des Raumes, direkt unter der Lichtquelle, hatte Chloe inzwischen einen Block mit mehreren Stiften entdeckt. „Scheinbar wird das hier schwerer“, kommentierte sie den Fund und schrieb als erstes die vier Zeilen in der richtigen Reihenfolge auf. Dann verteilte sie die restlichen Blätter an die anderen beiden.
Hermine starrte auf die Wörter und die Zahlen und erinnerte sich an ein Detektivset, dass sie als Kind mal gehabt hatte. Darin hatte es einen kleinen Ring gegeben, mit dessen Hilfe Botschaften kodiert werden konnten. Jedem Buchstaben war dabei eine Zahl zugeordnet gewesen. Hastig setzte sie sich auf den Boden, schrieb das Alphabet auf und die Zahlen von 1 bis 26 darunter. Aber so sehr sie sich bemühte – mit Cassandras Hilfe, die deutlich schneller im Rechnen war und sich neben sie gesetzt hatte – sie kam nicht auf das passende Ergebnis. Dabei probierten sie verschiedene Varianten durch. Zuerst ignorierten sie das ‚und‘, doch die Summe der beiden Wörter ‚Knochen und Kopf‘ ergab 118 statt den gewünschten 111. Wenn sie jeden dritten Buchstaben wieder abzogen, ergab sich 83. Chloe ließ sich neben die beiden anderen fallen und schlug vor, dass ‚und‘ doch ebenfalls zu berücksichtigen. Jetzt ergab die Summe 157 und es funktionierte. Als sie in dieser Variante jeden dritten Buchstaben abzogen, ergab sich 108, ebenso wie bei der Rechnung 111 – 3.
Erleichtert ließ Hermine das Blatt für einen Moment sinken, bevor sie sich an die nächste Vorgabe machten. Ernüchterung bereitete sich zwischen ihnen aus, denn bei ‚Rippe und Leber‘ funktionierte das Vorgehen überhaupt nicht. Die Summe aller Buchstaben ergab 145, aber als sie jeden vierten Buchstaben wieder abzogen, erreichten sie 120 statt den gewünschten 99. Wenn sie das ‚und‘ hier ignorierten, ergab sich dagegen nur 88.
Bei der letzten Wortkombination, die sie der Vollständigkeit halber trotzdem noch betrachteten, ergab sich mit ‚und‘ 103 und ohne 50. Beides ebenfalls sehr weit entfernt von der gewollten 63.
„Vielleicht“, überlegte Chloe leise, „vielleicht versteifen wir uns zu sehr auf die Zahlen. Ich hatte kurz an die Anzahl der Knochen gedacht, aber da kein Mensch 103 Rippen hat, ist das auch Quatsch.“
„Und wenn wir nur die Zahlen anschauen?“, hielt Cassandra dagegen. „Die Quersumme der Zahl vor dem Strich ergibt immer die Zahl hinter dem Strich. Betrachtet man die Quersumme jetzt als Zehnerstelle einer neuen Zahl und der Zahl hinter dem Strich als Einerstelle, so ergibt das bei ‚Knochen und Kopf‘ 33, bei ‚Rippe und Leber‘ 44 und bei ‚Hand und Ohr‘ 77. Wenn man 33, also die erste Zeile, von 103 in der zweiten Zeile abzieht, dann kommt man auf die 70. Jetzt könnten wir die neue Zahl der zweiten Zeile, also 44, von der dritten Zeile abziehen. Das wäre dann 26 mit der Quersumme 8. Das Fragezeichen wäre also 26-8.“
Hermine schwirrte schon wieder der Kopf von so vielen Zahlen und auch Chloe sah eher so drein, als hätte sie nichts verstanden.
Aber sie stand auf. „Wir können es ja mal versuchen“, meinte sie locker und ging zu dem Zahlenfeld hinüber. „Zwei Sechs Acht“, sprach sie mit, während sie tippte.
Die Tür …
… rührte sich nicht. Chloe sah noch immer auf das Display und als sie einen Schritt zur Seite machte, konnte Hermine erkennen, dass die Zahlen blinkten. „Da fehlt noch eine Stelle“, erklärte Chloe. „Wir brauchen wieder vier Zahlen.“
„Was passiert eigentlich, wenn wir was Falsches eingeben?“, warf Hermine ein. Sie hatte schließlich schon einmal vor einem Rätsel gestanden, von dem ihr Leben abhing. Und das Gefühl hatte ihr nicht unbedingt gefallen.
„Ich glaube, ich würde das lieber nicht ausprobieren“, antwortete Cassandra. „Bevor noch Speere aus den Wänden kommen oder so.“ Chloe lachte, aber Hermine hatte das Gefühl, dass es Cassandra todernst war mit dem, was sie sagte.
Cassandra wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Boden saßen und die vier Zeilen betrachteten. Sie hatte inzwischen alle Möglichkeiten durchgerechnet, die ihr eingefallen waren, inklusive Hermines ursprünglicher Idee mit jeder der 25 einfachen Cäsar Verschiebechiffren versehen. Aber auf eine Lösung kam sie einfach nicht.
Hermine dagegen hatte, soweit sie erkennen konnte, die Wörter auf Latein übersetzt und schien jetzt irgendwelche Berechnungen durchzuführen, die Cassandra nichts sagten. „Arithmantische Überlegungen bezüglich der Sprüche“, hatte Hermine zwischendurch erklärt, als ihr der neugierige Blick aufgefallen war, aber das hatte Cassandra nicht geholfen.
„Ich glaube“, brach Chloe schließlich die Stille, „wir haben viel zu kompliziert gedacht. Seht mal!“
Sie legte ein Blatt in die Mitte. Darauf hatte sie eine Liste geschrieben, wie oft jeder Buchstabe in den Zeilen jeweils vorkam. Allerdings, das fiel Cassandra als Erstes auf, hatte sie das ‚und‘ durchgehend ignoriert.
„Mir ist aufgefallen“, begann Chloe zu erklären, „dass Hand zusammen mit Ohr sieben Buchstaben hat. Knochen und Kopf elf und Rippe und Leber zehn. Dann bleibt die jeweils letzte Ziffer der vorderen Zahl übrig. Und da hab ich überlegt, ob das vielleicht einfach für einen bestimmten Buchstaben steht. Das E kommt in der ersten Zeile einmal vor, in der zweiten Zeile dreimal und in der dritten gar nicht. Nach der Überlegung müsste bei der vierten Zeile dann neun und fünf stehen. Bei der Zahl hinter dem Strich glaube ich aber auch, dass es die Quersumme ist, auf was anderes komme ich da nicht. Das wäre dann vierzehn oder fünf. Aber da wir vier Ziffern brauchen, denke ich, dass die Lösung 95-14 ist.“
Cassandra nahm das Blatt in die Hand. Konnte es wirklich so einfach sein?
„Logik“, sagte Hermine mit einem Grinsen auf den Lippen. „Ganz einfache Logik. Ich glaube, du hast Recht.“
Cassandra nickte langsam. „Ich glaube auch. Ich geb’s ein.“ Sie spürte Hermines und Chloes Blick in ihrem Rücken, während sie langsam die Ziffern eintippte. Da sie vier benötigten, entschied sie sich für die erste Quersumme, obwohl ihr das eigentlich nicht so recht war. Aber was sollte sie schon machen? Sie drückte auf den grünen Bestätigen-Button.
Die Tür schwang lautlos auf.