Vor noch wenigen Jahren waren die schwarzen und weißen Muster vor ihm so viel mehr als bloße Muster. Sie waren ein so großer Teil seines Lebens, dass er sie sich nicht hätte fortdenken können. Jetzt wusste er nicht mehr, was er mit ihnen anfangen sollte.
Zögerlich strichen die rauen Fingerkuppen über das glatte Material, kaum Druck, denn was würde es schon bringen? Er würde nicht einen Ton mehr vernehmen, den er mit den Tasten anschlug. Bereits vor ein paar Jahren war ihm klar gewesen, dass es so kommen würde. Ein Arzt nach dem anderen hatte ihm diese Entwicklung vorhergesagt und niemand hatte ihm eine Lösung bieten können.
Nach einigen Mittelohrentzündungen zu viel, den schmerzhaften Wochen, bevor er das, was er liebte auch wieder hatte genießen können, hatten die Ärzte die er aufgesucht hatte ihm bedeutet, dass er mit den Jahren unaufhaltsam sein Gehör verlieren würde. Es war nun etwas eher geschehen als erwartet, mit Mitte dreißig hätte er noch so viel mehr spielen und komponieren können.
Seiner Karriere als Musiker war somit sehr abrupt ein Ende gesetzt. Selbst zu spielen war beinahe unmöglich, könnte er ja nicht einmal mehr sagen, ob die Instrumente vernünftig gestimmt waren. Dabei hatte er es am meisten geschätzt einfach ohne Regeln, ohne Seile oder Ketten die ihn einschränkten zu musizieren.
Es war als würde er die Mauern verlassen, die sonst um ihn gebaut waren und ihn versuchten auf einen bestimmten Weg zu bringen, als würde mit einem Mal das einstürzten, was man ihm aufzwingen wollte und den Blick auf ein weites Feld freigeben. Ein Feld mit all den Farben, die die Welt zu bieten hatte, etwas was Möglichkeiten schrie und sie alle bereit zu halten schien. Er wollte das nicht verpassen.
Tränen bildeten sich in seinen Augen und die weißen und schwarzen Tasten des kleinen gedrungenen Klaviers verschwammen zu einem undeutlichen grau, während die Finger zitternd darüber fuhren.
Er spürte, wie er die Tasten manchmal etwas zu stark dabei streifte und wusste, dass um ihn herum die holprigen Töne durch den Raum hallen mussten, nicht im Geringsten eine der Melodien ähnelnd, welche er sonst manchen Nachmittag gespielt hatte um sich selbst aufzuheitern.
Er wusste nicht, welche Noten er spielte und auch nicht, ob er irgendwelche Geräusche von sich gab, ob man ihn hören würde von draußen. Hörte man seine unterdrückten Schluchzer, welche er versuchte in den Tränen zu ertränken, doch egal wie sehr er es versuchte, er würde nicht wissen, ob er erfolgreich war. Eine der zitternden Hände fand bei diesem Gedanken zu seinem Gesicht, presste sich gegen die bebenden Lippen.
Salzig, wie graues Regenwetter, wie ein Sturm mit tiefschwarzen Wolken, dachte er sich, als er die Trauerbrühe auf seiner Haut schmeckte. Würden die Wolken je wieder fortziehen? Doch woher sollte der Wind kommen, wenn die Mauern um ihn herum nicht mehr zu Fall gebracht werden konnten? Keine Änderung würde mehr zu ihm durchdringen, nicht wenn er sie nicht hineinlassen konnte und das konnte er nicht ohne diesen Schlüssel seines Lebens.
Ohne Musik war er verloren!
Der Gedanke ließ ihn aufspringen, versuchen zu fliehen, er wollte es nicht wahr haben. Doch die verschwommene Sicht und die verweigerten Mahle ließen ihn schwanken.
Schwer stützte er sich auf der Tastatur vor ihm ab. Die Tatsache, dass auch dies nichts in ihm auslöste, nicht ein kleiner Ton mehr zu ihm durchdrang, ließ etwas in ihm explodieren und zerriss ihn von innen heraus.
Das, was er schon die ganze Zeit gewusst hatte, dass es nun Wahrheit war, war endlich in seinem Bewusstsein angekommen, es war ihm erst bei dieser Geste wirklich klar geworden.
Ohne noch darüber nachzudenken, was andere von ihm halten würden, ließ er sich zurück auf die Klavierbank fallen, legte seine Arme auf das geliebte Instrument, welches einmal sein Leben bedeutet hatte und vergrub das Gesicht in den bereits nass geweinten Ärmeln. Feucht glitten die Finger vorsichtig, zittrig weiter über die glatten Tasten unter ihm, als würde er versuchen darin Trost zu finden, doch nichts würde ihn trösten können.
Laut weinte er, versuchte zu schreien, seinen Frust so auf die Welt loszulassen, doch was nützte es, wenn er es nicht hören konnte, wenn es doch so war als würde er bloß stumm vor der Welt stehen können und nichts zu der Ungerechtigkeit sagen können. Es war frustrierend, noch frustrierender als ohnehin schon.
An diesem Abend weinte er sich in den Schlaf, an seinem Klavier sitzend, welches sonst manche Nacht durchgeklungen hatte.
Die Musik war ihm verloren gegangen. Das Einzige, was ihn im Leben gehalten hatte. Vielleicht auch das, was ihn am Leben gehalten hatte.