Sportunterricht war und blieb eine der karg gesäten kleinen Freuden im Schulalltag. Sicher gab es auch die Bewegungsmuffel unter ihnen, die nicht mal darauf Lust hatten, aber im Vergleich gab es trotzdem keine bessere Alternative. Schon allein die Abwechslung, dabei nicht nur rumsitzen und zuhören zu müssen. Einmal kurz Pause von den vollgestopften Klassenzimmern, die besonders in diesem alten Gemäuer schon von der Luftzirkulation her eindeutig nicht dafür ausgelegt waren, so viele pubertierende Teenager auf einmal zu beherbergen. Besonders wenn der Weg zur Halle und den restlichen Sportanlagen auch noch weit genug war, sich dabei verspäten zu können, ohne sofort einen Verweis zu erhalten, gab es kein einziges Argument dagegen, eben diese Tatsache schamlos auszunutzen.
Von Mitschülern dabei erwischt zu werden, sich mehr Zeit als nötig zu lassen, war aus diesem Grund ebenso unwahrscheinlich. Zwischen Bäumen, Gebüsch und dem Schilf am Ufer gab es einige gute Verstecke, um schnell einen Kuss zu erhaschen. Oder zwei. Zumindest solange, bis man kichernd mit sowohl von der Kälte draußen als auch der Aufregung geröteten Wangen viel zu nervös war, um dabei nicht länger als notwendig herumzualbern. "Lass uns weitergehen, langsam wird es doch auffällig", Wilhelm lachte verlegen, Simon zog ihn grinsend an seinem Schal näher zu sich. Er genoss es zugegeben doch ein wenig zu sehr, ihn in Verlegenheit zu bringen. "Jetzt schon? Ist dir etwa kalt?", spielerisch stupste er ihm gegen die rote Nase. "Ich sage es noch einmal und ich bleibe dabei, wir können jederzeit schwänzen." Tatsächlich schien Wilhelm einen Moment inne zu halten und sich das Konzept noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Simon blickte ihn herausfordernd an. Wilhelms Lippen kräuselten sich zu einem frechen Schmunzeln.
"Nein", flüsterte er grinsend, "Ich lasse mir doch nicht die Chance entgehen, mit dir in der Umkleidekabine zu sein! Und jetzt beweg dich, bevor ich dich ins Wasser schubse. Jede Wette, dass es ziemlich kalt ist?" Simon lachte und wehrte sich halbherzig gegen die Versuche zu einem kleinen Gerangel, bei dem sie dem Ufer gefährlich nahe kamen. "Denkst du jetzt! Aber dir vergeht das Lachen spätestens, wenn ich dich dabei nicht loslasse, sondern mit mir ins Verderben reiße!", warnte er Wilhelm, der ihn schließlich doch davor bewahrte, beim Ausweichen die Balance zu verlieren, indem er ihn festhielt und beinahe herausfordernd direkt in die Augen blickte. Zu direkt, um weiterhin Blödsinn zu machen, zugegeben. Einige Momente wurde das Schweigen nur von ihren Atemzügen unterbrochen, deren sichtbarer Nebel sich durch die kalte Luft abzeichnete. Simon stockte fast für einen Moment der Atem, während er sich in sehnsüchtigen Gedanken verlor.
So intensiv Wilhelms Blick für einige Sekunden wirkte, so schnell kam die Ernüchterung als er auf einmal lachen musste und Simon prustend mit sich zog. "Komm jetzt! Schwänzen ist keine Option, ich fühle mich persönlich dafür verantwortlich, dass wenigstens du gute Noten schreibst", erklärte er extrem ernsthaft, nur das verschmitzte Grinsen auf seinem Gesicht verriet ihn. Simon war viel zu amüsiert, um es ihm übel zu nehmen. Er trödelte lediglich noch etwas mehr herum, damit Wilhelm zumindest Mühe hatte, ihn im Schlepptau vom Fleck zu bewegen. "Warte nur, bis wir endlich wieder Training haben!", konnte Simon sich auch nicht verkneifen zu behaupten. "Sobald du auch nur eine Sekunde lang unachtsam bist, liegst du im Wasser und dann kannst du hoffen, dass es bis dahin überhaupt deutlich wärmer ist."
"Denkst du", konterte Wilhelm, "Dabei bist du derjenige, der nicht mal die Balance auf dem Boot halten kann. Backbord, Steuerbord, warte - was war nochmal links und was rechts? Bevor du auch nur einen Zug gemacht hast, bist du am Schwimmen." Er zog ihn etwas fester weiter mit sich, bis sie beide vor Lachen fast gemeinsam ins Stolpern gerieten. "Immer diese leeren Versprechen", Simon grinste. Wilhelm zögerte keine Sekunde mit der Antwort, "Kein Versprechen, sondern eine Drohung! Du kannst froh sein, dass wir im vierer nur ohne Steuermann rudern, sonst wärst du ohne Zweifel der erste, der nur noch zur Dekoration mit dabei sitzt."
"Weil du denkst, dass ich besonders gut am Steuer wäre, oder weil ich so unfassbar hübsch bin?", Simon hob mit einem herausfordernden Grinsen beide Augenbrauen. Wilhelm verdrehte kurz die Augen, aber Simon stellte mit Genugtuung fest, dass es ihn nur noch mehr erröten ließ. "Eigentlich wollte ich ja sagen, weil du ansonsten komplett nutzlos im Boot bist", selbst das freche Grinsen konnte das fröhliche Funkeln in dem sonst so eisern verhärteten Blick der viel zu ernsten Augen nicht verbergen. "Aber ja, hübsch bist du auch, von mir aus. Vielleicht hilft dir das ja dann aus der Klemme, um den Abschluss zu schaffen, nachdem du zu oft die Schule geschwänzt hast. Also los jetzt!"
Somit stand Simons Entschluss endgültig fest. Wenn Wilhelm sich dazu berufen fühlte, dass er sein intellektuelles Potenzial in der Schule nutzte, musste er also im Gegenzug zumindest dafür sorgen, wenigstens ab und zu ein Lächeln auf dieses nur scheinbar unzerstörbar neutrale Pokerface zu zaubern.