Mit der Aussicht auf ein Treffen nach der Schule musste Simon zugeben, dass er sich in den verbliebenen Unterrichtsstunden dabei ertappte, dass der Blick, mit dem er die viel zu langsam tickende Uhr betrachtete, beinahe sehnsüchtiger war, als die kurzen Seitenblicke zu Wilhelm. Der schien immer noch sehr zufrieden mit seiner Leistung, Simon komplett aus dem Konzept gebracht zu haben. Wann immer Simon kurz zu ihm sah, musste Wilhelm sich wohl ein kleines Schmunzeln verkneifen, wandte immer schneller den Blick ab und tat so, als wäre er heute besonders interessiert an Algebra. Einzig und allein der leichte Rotschimmer auf seinen Wangen gab Simon die Genugtuung, dass er sich auch jetzt nach diesem kleinen Triumph trotzdem noch für um eines cooler hielt, als er wirklich war. Simon konnte es ihm nicht übel nehmen. Tatsächlich klammerte er sich an den hoffnungsvollen Gedanken, dass dieser frisch gewonnene Mut vielleicht doch für länger als ein paar Stunden anhielt.
Als die Tortur des Montags endlich vorüber war, hielt Simon nichts mehr in dem prunkvollen Altbau. Auch wenn er Zeit hatte, wollte er auch geduldig wartend lieber wieder frische Luft atmen. Nur halbherzig verschwendete er einen Gedanken daran, was genau geplant war oder ob er irgendetwas Konkretes als Aktivität vorschlagen wollte. Immerhin gab es nur eines, was sich als feste Konstante bisher herauskristallisiert hatte und das war exakt die Tatsache, dass eh alles anders wurde, als sie es vorgesehen hatten. Daher schlenderte Simon erstaunlich ruhig zwischen Treppen und Statue auf dem Vorplatz umher, nur beiläufig immer wieder einen Blick zurück auf den Eingang werfend. Dass sie nichts Genaues verabredet hatten, brachte ihn erst zum Grübeln, als er Sara erblickte, die ihm schon von weitem zuwinkte. Simon winkte zurück, begutachtete noch einmal kurz die Tür, warf einen Blick auf sein schweigsames Handy und beschloss, dass er vielleicht zu viel gedacht und zu wenig gesprochen hatte.
Definitiv nicht in der Laune, alles nochmals zu überdenken und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, an welcher Stelle die einvernehmliche Stimmung des Tages wohl doch wieder gekippt war, schrieb Simon nur kurzerhand eine Nachricht, um zumindest Sara nicht unnötig zu nerven.
"Die Einladung nach Bjärstad war übrigens kein Witz. Ist natürlich dir überlassen, ob du dich nach dieser Ansage noch in die Höhle des Löwen traust ;) Sara wartet, wir gehen schon mal los. Du weißt ja, wo ich wohne."
Nach dem Absenden schaltete er das Telefon leise und steckte es zurück in die Tasche. "Los geht's" , er nickte Sara zu und gemeinsam bestritten sie den Weg zur Bushaltestelle. Es gab nur eine Möglichkeit, diese Sache weiterhin am Laufen zu halten, ohne daran zu verzweifeln. Er würde sich einfach nicht mehr dazu hinreißen lassen, so darauf zu bauen, dass seine Welt zusammenbrechen würde, wenn das Fundament wankte. Und genau deswegen würde er nun nicht die nächsten Stunden damit verbringen, auf eine Antwort zu warten, die vielleicht nie kommen würde.
Im Bus angekommen hatten die beiden Geschwister bereits die wichtigsten Details des Schultages ausgetauscht, sodass Sara nun begonnen hatte, begeistert von Rousseau zu erzählen. Simon lauschte ihr mit einem zufriedenen Lächeln. Nicht, dass er überhaupt wusste, worum genau es ging, weil er mit einigen Begriffen sowieso gar nichts anfangen konnte. Er würde nicht einmal genau sagen können, ob sie nun vom Springreiten erzählte oder einfach von irgendwelchen Dingen, die man im Stall erledigen musste. Trotzdem gab es nicht Schöneres, als Sara dabei zuzusehen, wie sie mit leuchtenden Augen begeistert von ihren Erlebnissen erzählte. Simon würde nicht zugeben, dass er keine Ahnung hatte. Er freute sich einfach nur, dass Sara einen schönen Tag gehabt hatte und glücklich war. Seine Kommentare und Rückfragen hielt er so allgemein wie möglich, einmal hatte er wohl aus Versehen "Wow, das ist cool" zu etwas gesagt, worüber Sara sich gerade aufregte, deswegen hielt er sich nun bedeckt. Die Blöße, echte Fragen zu stellen, wollte er sich nicht geben, aber wenn er ehrlich war, konnte er sich auch sehr viele Dinge vorstellen, die ihn mehr interessierten als Pferde. "Komm doch auch mal mit dazu", schlug Sara allerdings gerade in diesem Moment vor, "Ich glaube, Felice hat bestimmt nichts dagegen!"
Simon lachte, druckste herum und war sehr erleichtert, dass zumindest Ayub an der nächsten Haltestelle zustieg. "Du kannst sie ja mal fragen", schlug er Sara vor, bevor Ayub sich zwischen die beiden quetschte, weil ansonsten gar kein Platz mehr im Bus war. Sara strahlte über das ganze Gesicht, während sie nickte, aber zu Wort kam sie nicht mehr. "Hey, was geht?", Ayub begrüßte Simon überschwänglich. Zwar wusste er, dass seine Freunde es durchaus schade fanden, dass sie nicht mehr gemeinsam zur Schule gingen, dennoch half es ihm selbst manchmal über den Trennungsschmerz hinweg zu wissen, dass sie ihn wenigstens vermissten und nicht einfach beschlossen, dass es kein wohlbekanntes Trio mehr gab, sondern sie nun nur noch zu zweit waren oder so. "Alles was Beine hat schätze ich?", Simon lachte. Sara verdrehte schmunzelnd die Augen über die Jungs, aber bevor sie sich beschweren konnte, war es auch schon beschlossene Sache, dass Ayub einfach mit zu ihnen nach Hause kommen würde. Ein kurzer Anruf von Ayubs Telefon genügte, um selbstverständlich auch Rosh einzuladen und zuhause angekommen hatte Simon sein eigenes Handy schon beinahe vergessen. "Schön, dass ihr da seid!", begrüßte seine Mutter die üblichen Verdächtigen lachend und deutete zum Tisch, "Dann hoffe ich, dass ich genug gekocht habe." Simon zuckte grinsend mit den Schultern, "Alles gut, wird schon keiner hier verhungern. Zur Not holen wir noch ne Pizza, oder so?" Ayub sah ihn an, als zweifelte er an Simons Verstand. "Pizza?", fragte er schockiert, "Wer will denn lieber Pizza essen, wenn er stattdessen Lindas Kochkünste haben kann?"
Rosh war schon da, bevor sie überhaupt zu Ende gegessen hatten. Es war kein Problem, noch schnell einen Stuhl dazu zu stellen, und es war auch wirklich nichts Neues, dass die Familie oft Gäste hatte. Hungrig würde niemand aufstehen müssen, Gastfreundschaft war bei ihnen selbstverständlich und auch Sara meckerte nur kurz über die nicht vorhandenen Tischmanieren, bevor sie sich wohl einfach nur ihren Teil dachte. Hausaufgaben würde Simon später noch machen können. Jetzt mussten sie dringend die Chance nutzen, alle auf einmal hier zu sein, damit Rosh und Ayub endlich die Revanche der letzten Fifa-Partie nachholen konnten. Das Match ging selbstverständlich wieder so knapp aus, dass kurzerhand ein neues Turnier ausgerufen wurde und Simon stellte schnell klar, dass er nicht den ganzen Tag nur zusehen würde. Als es irgendwann an der Tür klingelte, sah Simon für einen Moment ebenso verwirrt vom Controller auf wie die anderen sich umblickten. "Kommt noch jemand?", fragte Rosh lachend. In dem Augenblick, in dem ihm dämmerte, dass sein Verdrängungsversuch besser geglückt war als er erwartet hatte, lauerten Ayub und Rosh schon in Beobachtungsposition auf dem Sofa unter dem Fenster und spähten neugierig nach draußen.
"Mensch Simon, hast du euer Date vergessen?", Ayub kicherte. "Muss dein Herzblatt sich jetzt schon wieder unter das gemeine Fußvolk mischen, nur weil du-" Rosh unterbrach ihn, "Nee, Quatsch, bist du blind? Das ist doch ne Frau da draußen!" Ayub schien für einen Moment nachzudenken, dann zuckte er mit den Schultern, "Ja, okay, ich dachte nur... Neue Liebe, Simon?" Rosh lachte, "Als ob! Davon abgesehen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass unser Simon jemals Interesse an Frauen hätte -" Simon warf den beiden einen empörten Blick zu und schüttelte gespielt fassungslos den Kopf. "Was ist euer Problem?", wollte er lachend wissen. Die beiden sprangen beinahe gleichzeitig vom Sofa, um Simon in Richtung Tür zu schleppen. "Nein Alter, was ist DEIN Problem, ist die Frage!", Rosh fasste sich an den Kopf, "Wie wäre es mit Tür aufmachen?" Ayub warf noch einen letzten Blick nach draußen, "Aber im Ernst, Leute- Ich mein ja, hübsch, aber... Die könnte fast deine Mutter sein, Simon?"
Simons Verwirrung verschwand schnell, als er die Tür öffnete. Aber weil Ayub und Rosh so albern waren, sich in Lauerstellung auf den Boden gekauert hinter der Garderobe zu verstecken, um heimlich lauschen zu können oder gar ein paar Blicke zu erhaschen, ließ er sich dazu hinreißen, sich einen Spaß zu erlauben. "Oh, hi Malin! Schön dich zu sehen, was für eine Überraschung", rief er überschwänglich und fiel der durchaus zu Recht schockierten Frau kurzerhand um den Hals. Die Ärmste hatte wohl nicht einmal Zeit hatte, sich zu fragen, was das werden sollte, aber Simon war zumindest erleichtert, dass sie sich nicht von ihm bedroht fühlte und ihn im Bruchteil einer Sekunde in den Schwitzkasten nahm - oder was auch immer hätte bei dieser Aktion passieren können. Mit Sicherheit war es unklug, sich auf diese Weise einer Person zu nähern, die mit etwas Pech auch nicht davor zurückschrecken würde, einen potenziellen Angreifer einfach umzulegen. Zumindest in Simons Kopf, allerdings wahrscheinlich auch nur, wenn sie ihn nicht kennen würde. Zwar hatten sie trotz all der vorherigen Treffen bisher noch nicht allzu viele Worte miteinander gewechselt, aber tatsächlich hatte Malin entgegen Simons verspäteter Befürchtungen doch ein amüsiertes Lächeln für diesen Quatsch übrig.
Untermalt von einem spontanen Lachflash, der mit jeder Sekunde mehr so klang, als ob Wilhelm gleich vor Lachen ersticken würde, fand Simon die Situation nun doch zu witzig, um gleich wieder aufzuhören. Mit Genugtuung stellte er fest, dass das imaginäre Fragezeichen auf Malins Stirn trotz allem noch um einiges kleiner war, als es bei Ayub und Rosh den Anschein machte. "Echt cool, dass du mich besuchen kommst! Was für eine Ehre, komm doch rein!", rief er laut genug, dass die beiden selbst in ihrer untergetauchten Position genügend mitbekommen sollten. Wilhelm schenkte er ein sehr kurzes, aber dafür auch sehr freches Grinsen, dann wandte er sich geschäftig wieder an Malin, "Oh, ich seh grad- Du bist gar nicht allein? Ich mein klar, ich verstehe das. Was muss, das muss, ja? Bjärstad ist ein heißes Pflaster. Aber ich will mal nicht so sein, ihr seid beide herzlich Willkommen hier! Nimm den Kerl von der Security halt mit rein, wenn du magst." Malin schüttelte bloß den Kopf mit einem verwirrten Schmunzeln und warf Wilhelm einen vielsagenden Blick zu. Dass dieser wieder losprustete und nur ganz unschuldig mit den Schultern zuckte, ließ Simon vermuten, dass er selbst wohl nicht der einzige war, der dafür sorgte, dass es vermutlich auf der ganzen Welt nicht genug Geld gab, Malin hinreichend dafür zu entlohnen, was sie in ihrem Job mitmachen musste.