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Nach dem Prompt „Seeteufel [Teuflisch tierische Geschichten]“ der Gruppe „Crikey!“
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Ringsum war nichts als Wüste, und Ismael begriff, dass es diesmal kein Entkommen gab. Diesmal konnte er sich nicht aus der Situation herausreden. Es gab kein Kellerfenster, durch das man wieselflink schlüpfen konnte, keine Wache, die überzeugt, betört oder bestochen werden konnte.
Nein, hier draußen gab es nur die Wüste. Die Dierra Cacha, das Teufelsland. Ein Landstrich, so trocken und tot, dass nicht einmal verdorrte Sträucher hier überlebten. Eine Geröllhalde mit trügerischen Schluchten und tiefen Stürzen, aus der selbst erfahrene Abenteurer nicht immer heimkehrten.
Und Ismael hatte nichts bei sich. Kein Wasser, keinen Kompass, nur die Kleider am Leibe.
Sein Kopf dröhnte noch immer von dem Schlag, mit dem alles angefangen hatte. Ein kräftiger Hieb auf den Hinterkopf musste es gewesen sein. Ismael vermutete, dass er in der nächtlichen Gasse übersehen hatte, dass sich ein sechster Mann von hinten anschlich. Vielleicht hatte er auch einen der Schläger aus den Augen verloren - er war angetrunken gewesen und hatte nach einem langen und anstrengenden Tag nur noch eine Paella essen wollen. Aber dann waren die Schläger aufgetaucht. Ismael vermutete, dass sie von Pozo geschickt worden waren. Der hatte sich ja immer noch nicht für die gestohlenen Diamanten gerächt. Vermutlich hatte er die Spur irgendwann zurückverfolgen müssen, Käufer für Käufer, um bei Ismael zu landen.
Pozo war einer, der auf Beweise wartete. Andere hätten Ismael sofort belangt, allein aufgrund seines Rufs, aber es gab unter den Gangstern auch gute Männer. Männer wie Pozo, die spät und dafür umso brutaler zurückschlugen.
Dieses Mal hatte Ismael seine Langfinger wohl zum letzten Mal gestreckt. Sie hatten ihn ohne Vorräte in der Wüste ausgesetzt. Der Wind hatte die wenigen Spuren auf dem Gestein längst verweht, doch selbst mit einer deutlichen Spur hätte Ismael nicht darauf gewettet, dass er es rechtzeitig zu einer Siedlung schaffen würde.
Versuchen musste er es natürlich trotzdem. Etwas anderes blieb ihm kaum übrig.
Wie sicher sich Pozo war, dass Ismael nicht entkommen konnte, bewies sein Gürtel. Sie hatten ihm die Messer gelassen. Sein Münzbeutel dagegen war leer, doch die Messer waren wohl nicht wertvoll genug, um sie zu stehlen. Alt, mit abgenutzten Griffen, die sich längst perfekt an Ismaels Hand angepasst hatten, und fleckigen, grauen Klingen, so oft geschliffen, dass sie ganz kurz geworden waren ... Sie waren ihm das Wertvollste auf der Welt, aber jemand anderes würde kaum etwas in ihnen erkennen.
Mit schweren Schritten setzte er sich in Bewegung. Er stolperte über loses Gestein und Geröll. Der unveränderliche Horizont bot seinem Blick keinen Halt, und so verlor sich Ismael in seinen Gedanken. Aus den Tiefen seiner Erinnerung holte ihn eine längst verloren geglaubte Vergangenheit ein.
Ein ärmliches Zimmer in einer Hütte aus grauem Holz. Kein Licht schien in der Nacht, denn für Wachs war kein Geld. Ismael lag in seinem Bett, nicht mehr als ein Kind, und konnte den knurrenden Magen ignorieren, solange seine Mutter erzählte.
Viele Geschichten waren es. Erzählungen von Heiligen und Helden, von Monstern und Mythen. Geschichten, die er von seinen Freunden schon gehört hatte - und die nachts bei seiner Mutter noch mal viel spannender klangen - und andere Sagen, über die er niemals ein Wort verlieren sollte.
Da gab es Feen, die auf Libellen ritten. Und Menschen, die Schlangen sein konnten. Und geisterhafte Fische aus Wolken und Lichtern, die nachts durch das Land zogen. Und Legenden über starke Männer und schlaue Männer, die alle für das Gute kämpften.
"Wenn ich groß bin, will ich auch so werden", sagte Ismael.
Seine Mutter strich ihm über das Haar. "So stark?"
"Nein, so gut. Ich will auch Gutes tun."
"Ich habe dich lieb, mein Schatz."
Ein deutlich älterer Ismael zückte das Messer, das sich in mehr als einen Rücken gebohrt hatte, und stieß er in die Kante einer Klippe, um sich hinaufzuziehen. Dieses hohe Band zog sich quer über den Horizont, höher als ein Mann, und versperrte ihm den Weg. Doch er musste hinauf.
Mit brennenden Armen zog er sich schließlich über die Kante, von der größere Brocken krümelten.
Er rollte sich auf den Rücken und atmete durch, während er seinen Muskeln die Gelegenheit gab, sich zu entspannen. Die Nacht senkte sich über das Land. In Ismael rang die Wut auf Pozo mit seiner Wut auf sich selbst.
Wie hatte Pozo ihn zum Sterben zurücklassen können? Es war ja nicht so, als hätte Ismael nicht auch für ihn gestohlen. Pozo stand in seiner Schuld!
Andererseits war er eben auch ein Idiot. Wieso konnte er seine Finger nie bei sich lassen? Wieso nicht wenigstens einem Mann gegenüber loyal bleiben? Ja, all die Gangster waren Lügner und Mörder und Betrüger, aber Pozo war schon mal einer der besseren gewesen.
Wieso musste er sich nur immer selbst in die Patsche reiten?
Die Sonne sank. Bald würde es kalt werden. Ismael hatte keinen Unterschlupf und auch keine Möglichkeit, Feuer zu machen. Vermutlich würde er erfrieren. Das war besser als verdursten, ja, aber glücklich war er darüber nicht.
In seiner Brust stritt sich Selbstmitleid mit Rachegelüsten. Und dazwischen hörte er den leisen Sarkasmus der Wahrheit.
Selbst wenn er entkommen würde, würde er doch früher oder später wieder hier enden - wenn nicht in der Wüste, dann in einer ähnlichen Todesfalle. Gerade hielt ihn die Welt der Verbrecher sicher für tot, aber er war Ismael. Er würde direkt wieder damit anfangen, kleine Diebstahlaufträge anzunehmen, und früher oder später vor Pozo oder einem anderen stehen, der ihn tot sehen wollte.
Für die Welt wäre es sicherlich besser, wenn er hier starb. Niemand würde ihn vermissen. Die einzige Auswirkung wäre, dass ein paar Schmuckstücke an ihrem Platz verbleiben würden.
"Mama? Warum sind die bösen Männer so?"
Die Hütte gab es nicht mehr. Jetzt war es eine Höhle im Gebirge, ein Erdloch. Nicht für lange, das hatte seine Mutter ihm versprochen. Sie würde wieder Geld verdienen, all das, was ihnen gestohlen worden war, ersetzen.
"Sie sind verzweifelt, Schatz. Sie haben Hunger."
"Wir hätten doch mit ihnen geteilt. Sie hätten nicht klauen müssen."
"Sie haben nicht viel Freundlichkeit erfahren. Du weißt doch, dass sie auf der Flucht vor den Leuten aus Celyvar sind. Angst und Hunger können Erdwesen zu verzweifelten Taten treiben."
"Das ist keine Entschuldigung", sagte das Kind entschieden. "Niemand kann so verzweifelt sein."
"Sie können", sagte seine Mutter leise. "Dann stehlen und morden sie, um zu überleben."
"Dann muss man ihnen helfen ... Man muss dafür sorgen, dass sie einfach überleben können, ohne stehlen zu müssen."
Sie lächelte. Dieses traurige Lächeln, das ihm sagte, dass sie nicht mehr daran glaubte. "Versuch es, mein Schatz. Vielleicht kannst du zu den Priestern gehen und als Prediger etwas erreichen."
Das Kind nickte entschlossen. "Eine Kapelle, wo jeder, der hungrig ist oder friert reinkommen kann. Ich werde ihnen helfen."
Nun war es Ismael, der fror und hungerte. Er blinzelte. Der Himmel war violett geworden. Der Stein in seinem Rücken war kühl. Als Ismael sich auf die Seite rollte, erstreckte sich das Land schwarz um ihn. Der Horizont war gewellt wie ein weites, eingefrorenes Meer.
Er stand auf und lief weiter. Jeder Schritt war ein Herzschlag mehr. Wenn er in Bewegung blieb, würde er nicht so bald erfrieren.
Der kleine Ismael hätte ihn nicht verstanden. Das machten ihm die Erinnerungen deutlich. Der kleine Ismael würde ihn ansehen und den Kopf schütteln und vermutlich denken, dass er verdient hätte, mitten in der Wüste zu sterben.
"Warum unternehmen die Heiligen nichts gegen die bösen Männer?"
Seine Mutter sah müde aus dem Fenster des Hauses, in dem sie nun wohnten - zusammen mit viel zu vielen anderen. Sie husteten und ächzten und schnieften die ganze Nacht über.
"Mama? Warum helfen die Heiligen uns nicht?"
"Es gibt keine Heiligen, Ismael. Wir leben in Teufelsland."
Ismael stutzte, als er einen Lichtschein vor sich bemerkte. Er stockte abrupt und blinzelte auf das Land vor sich.
Etwas bewegte sich. Es war kopfgroß und leuchtete in schwach orangem Glimmer.
Neugierig ging er näher und sah genauer hin.
Es war eine Krabbe. Eine große Krabbe, durch deren Panzer er den steinigen Boden erkennen konnte.
Ein Geist. Wie in den alten Geschichten.
Träumerisch folgte er der Krabbe, bis er einen Schwarm blauer Fische bemerkte, die sich aus dem Erdreich erhoben und rasch durch einen Bogen wuselten, der mit Algen und Korallen bewachsen war. Alles, die Pflanzen, der Bogen und die Fische, war durchscheinend und leuchtete in einer einzigen Farbe. Grün für die Algen, bunte Farben für die Korallen, ein bläuliches Grau für den Stein.
Wie ein Schlafwandler folgte er den Fischen. Als Ismael den Kopf hob, glitt ein weißer Wal über ihn hinweg, groß wie drei Häuser, die Haut gesprenkelt mit violetten Kampfnarben. Ein klagender Ruf hallte über die nächtliche Wüste. Riesige, weiße Schneckenhäuser mit Tentakeln glitten vorbei. Haie jagen den Fischen nach, dicht um Ismael herum, überall flimmerte und flirrte das geisterhafte Leben, und Algen wogen sich in einer unsichtbaren Strömung, und Tuben bliesen Luftblasen durch die Luft, die nun wie unter Wasser schimmerte, gezeichnet mit einem goldenen Netz aus Licht.
Staunend sah Ismael zu den Fischen auf, die rings um ihn schwammen. Sie waren wie die Geister der alten Legenden. Er hatte nicht mehr geglaubt, dass es sie wirklich geben könnte.
Stimmten noch mehr der Geschichten seiner Mutter? Irgendwann hatte sie ihm erzählt, dass alles gelogen gewesen war. Aber vielleicht hatte sie erst da angefangen zu lügen.
Er wusste nicht, wie lange er einfach nur wanderte und starrte. Die Geister der alten Welt. Sie zeigten sich nur Auserwählten. Was konnte es bedeuten, dass er sie erblickte? Wollten sie Ismael Mut machen? Oder ihn verhöhnen?
Er bemerkte eine Lichtkugel, die über dem Boden schwebte, und ging dorthin. Grüne Schildkröten zogen vorbei, dann ein silbriger Fischschwarm, dann ein Hammerhai in sanftem Blau. Doch Ismaels Blick bleib auf die weiße Lichtkugel gerichtet. Als er bei ihr war, streckte er die Hand vorsichtig aus.
Konnte man Geister stehlen? Wenn er einen solchen Beweis mit sich bringen könnte ...
Im nächsten Moment fuhren lange, dünne Zähne aus dem Erdreich. Ismael schrie auf, als er zwei Kiefer zu beiden Seiten sah, die sich in die Höhe schraubten, ebenso schnell, wie ihm die Lichtkugel entrissen wurde. Mit einem metallischen Klang, wie tausend Schwerter, die aufeinandertrafen, schlugen die Zähne zusammen.
Als Ismael die Augen öffnete, fand er sich auf der Erde kauernd wieder. Die Hände hatte er über den Kopf gelegt, sein Herz raste.
Doch der Fisch, der ihn verschlungen hatte, war fort. Ebenso wie alle anderen Geister. Der Himmel schimmerte in gräulichem Blau, die Sonne kratzte am Horizont, und der Zauber der Nacht war verschwunden.
Stattdessen erblickte Ismael eine dunkle Struktur mit wenigen Punkten.
Ein Gebäude mit erleuchteten Fenstern. Zivilisation. Rettung!
Er taumelte los und stoppte noch einmal. Schweigend drehte er sich um und sah auf das Land hinter sich, das im Licht der Sonne langsam erglühte. Nun war es wieder eine gewöhnliche Wüste, graubraunes Geröll, so weit das Auge sah. Nur dort, vor ihm, erhob sich ein hohes Gebäude, umringt von einigen kleineren Häusern.
Dennoch glaubte Ismael nicht, dass es ein Traum gewesen war. Völlig unmöglich. Die Visionen, die Geister, sie mussten echt gewesen sein.
Und sie hatten beschlossen, ihn zu verschonen. Hatten sie ihm eine Botschaft schicken wollen?
Als er wieder nach vorne sah und seinen Weg fortsetzte, erkannte er, dass das hohe Gebäude eine Kapelle war.