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Nach dem Prompt „Treppennatter [Tierische Geschichten mit Treppenstufen]“ der Gruppe „Crikey!“
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Die alten Ruinen hatten sie schon immer fasziniert. Emilia verbrachte viel Zeit zwischen dem überwucherten Mauerwerk, auf der Suche nach Echsen, die sich im bröckeligen Gestein versteckten. Ihre Eltern versuchten immer wieder, ihr das zu verbieten - erfolglos.
Ihr Vater hatte einmal die Hoffnung geäußert, dass Emilia mit der Zeit vernünftig werden würde. Dass die Ausbildung die angehende Wissenschaftlerin so sehr in Anspruch nehmen würde, dass sie die Ruinen vergaß.
Das Gegenteil war der Fall. Während sie über die brüchigen Stufen kletterte, mit einem Stock den nächsten Tritt auslotete, damit sie nicht einstürzte, musste sie einsehen, dass sie sogar noch häufiger hier war. Wenn ihr alles über den Kopf wuchs, ging sie nicht nach Hause, wo ihre Eltern sie nur anhalten würden, zu lernen, sondern suchte die Stille der überwachsenen Ruinen. Sie verbrachte Stunden hier draußen, manchmal sogar Tage, in denen sie Regenwasser in zu Kelchen geformten Blättern auffing, jagte und essbare Pilze sammelte. Die Sorge im Blick ihrer Eltern war, nachdem sie sich über die Jahre als Erleichterung, Wut, Strenge getarnt hatte, inzwischen Resignation gewichen.
Emilia liebte die Ruinen. Nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen der Gefahr. Denn natürlich waren die alten Tempel nicht mehr stabil. Sie könnten einstürzen, wenn sie einen falschen Tritt machte. Und außerdem gab es die Gefahren des Dschungels. Raubkaten mochten die Ruinen als Höhle nutzen, die junge Abenteurerin trug Narben auf den Armen von dem einen mal, da sie diese Gefahr zu spät bemerkt hatte. Es gab giftige Pflanzen und die Einsamkeit und Giftschlangen.
Emilia kannte diese Gefahren, obwohl sie ihr Wissen manchmal in schmerzhaften Lektionen erlangt hatte. Sie fürchtete den Dschungel nicht, respektierte ihn jedoch. Und so hielt sie auch abrupt inne, als sie aus dem Augenwinkel eine gewundene Form auf einer der Treppenstufen erblickte.
Es könnte eine Liane sein - aber genauso eine Schlange. Emilia schob den Stock vor, den sie in den Ruinen immer bei sich trug, und sah genauer hin.
Es war wirklich eine Schlange, allerdings nur eine harmlose Treppennatter. Ein Jungtier mit der typischen, stufenförmigen Zeichnung, das sie aufmerksam ansah.
Emilia wollte einen Schritt zur Seite machen. Nicht aus Angst vor der Schlange, sondern um sie nicht zu stören. Außerdem konnten die Nattern immer noch beißen.
"Du bist oft hier."
Sie erstarrte mitten im Schritt. Dann sah sie sich nach dem Ursprung der Stimme um.
Die Schlange richtete sich leicht auf und wartete geduldig, bis Emilia den Blick auf sie richtete. So albern es klang, dort war die Stimme hergekommen, und sonst war auch niemand zu sehen.
Sie atmete tief durch und wollte weitergehen.
"Wag es bloß nicht!", drohte die Schlange.
"Was?"
"So zu tun, als hättest du dich getäuscht."
Emilia seufzte. "Na gut. Du bist also eine sprechende Schlange."
Die Treppennatter nickte eifrig, wie ein Zwerg.
"Und ... was machst du so?" Emilia rieb sich nervös die Hände.
"Ich habe dich beobachtet", erklärte die Schlange. "Na ja, nicht aktiv oder so, aber ich habe bemerkt, dass du oft hier bist. Du interessiert dich wohl für Ruinen?"
"Ja, ein wenig." Emilia zögerte, dann ging die in die Hocke. Es erschien ihr höflicher, nicht so von oben herab mit der Schlange zu reden. Sicher galt die Höflichkeit auch in einem so surrealen Gespräch!
"Und du willst Wissenschaftlerin werden?"
"Meine Eltern wollen das", antwortete Emilia. "Sie sagen, ich habe Talent. Aber es macht mir wenig Spaß. Ich tue es nur, weil man dann versorgt ist."
"Vielleicht liegt das daran, dass es das falsche Handwerk ist", zischelte die Schlange. "Es gibt ja auch Wissenschaftler, die Ruinen untersuchen."
Emilia stutzte. "Ja?"
Wieder nickte die Schlange. Es sah ein wenig irritierend aus. "Ja. Sie kommen manchmal her. Dann messen sie alles aus, machen Zeichnungen und schreiben auf, welche Tierarten sie finden."
"Das klingt ... gut", gab Emilia zögerlich zu.
Die Schlange sah sie an. Emilia sah die Schlange an.
"Willst du ... nicht fragen, wo du sie findest?", hakte die Schlange schließlich nach. "Oder was ich dir noch darüber erzählen kann?"
"Nein." Emilia warf das Haar locker über die Schulter, das ihr ins Gesicht gefallen war.
"Nicht eine klitzekleine Bitte?"
Sie schüttelte den Kopf und machte vergnügt ein verneinendes Geräusch.
Die Schlange senkte den Kopf und seufzte. "Was hat mich verraten?"
"Nun, für den Anfang: Normalerweise sprechen Schlangen nicht."
"Ah ... Deswegen haben die anderen auch nie geantwortet."
"Und dann hast du gesagt, dass du mich häufig gesehen hast", fuhr Emilia hilfreich fort. "Aber du siehst aus wie frisch geschlüpft!"
"Oh."
"Und du konntest auch noch nicht wissen, welche Ausbildung ich mache", schloss sie. "Ich habe ja nichts gesagt und habe nichts getan, woraus eine Schlange das hätte erschließen können."
"So ein Mist!" Die Treppennatter rollte sich zusammen. "Na ja, ich werde es mir für die Zukunft merken. Vielen Dank für deine Hilfe, Sterbliche."
"Immer gerne. Soll ich vielleicht nochmal hier rauf kommen? Damit du es erneut versuchen kannst?"
"Das würdest du machen?", fragte die Treppennatter hoffnungsvoll.
"Aber sicher."
"Sehr gerne! Gib mir ... hm, fünf Minuten oder so."
"Aber gerne." Emilia lief nach unten, wobei sie erneut jede Stufe auf ihre Festigkeit prüfte, bis sie bei ihrem Rucksack angekommen war, der an einem Stamm lehnte. Sie kniete sich hin und holte einen Beutel mit Salz und ein kleines Einmachglas heraus, in dessen Deckel Schutzzauber eingraviert waren. Beides verstaute sie in ihren Hosentaschen, ehe sie mit unschuldigem Blick wieder hinauflief.
Ja, in den Ruinen gab es viele Gefahren. Ob nun brüchiger Stein oder Raubkatzen, Giftschlangen oder Dämonen - vieles konnte einem im Dschungel zustoßen. Doch wenn man wusste, wie man mit der Gefahr umging, brauchte man sie nicht zu fürchten. Man konnte manche sogar unschädlich machen.