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Nach dem Prompt „Grönlandhai“ der Gruppe „Crikey!“
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Quinn lächelte, als sie den vertrauten Blas vom Fjord hörte. Sofort ließ sie den Holzstab fallen, und den Blütenkranz, an dem sie geflochten hatte, und rannte über den Hügel auf das Meer zu, paralell zum Fluss, der im Tal gemächlich und breit dahinfloss. Schafe sprangen ihr mit empörtem Blöken aus dem Weg, die Hunde kläfften, aber Quinn beachtete weder die einen noch die anderen.
Sie hatte nur Augen für die grauen Köpfe, sie sich vor der Flussmündung aus den Wellen hoben, die großen Fluken und das Aufblitzen der weißen Zeichnung im Gesicht und vor dem Schwanzansatz der Tiere.
Sie waren gekommen! Ihre Wanderung hatte die großen Wale wieder zu ihr zurückgeführt.
Schon seit der Hauch des Herbstes in der Luft hing, hatte Quinn diesen Tag herbeigesehnt. Nun zog sie, wie jeden Tag ihres noch jungen Elfenlebens, den Wollüberwurf über den Kopf und streifte im Laufen die Schuhe ab. Irgendwo hinter ihr erklang ein ärgerlicher Ruf ihrer Mutter, doch die Elfe kümmerte sich kaum darum.
"Lottie!", rief sie, als sie die vertraute Musterung des Wals unter den anderen ausmachte, und stürmte in die eisigen Fluten. Sie schwamm mit ungeschickten Zügen vorwärts, denn sie wusste, dass Lottie sie auffangen würde, falls sie in Schwierigkeiten geriete. Und wie immer schob sich die Walin unter sie und drückte Quinn sanft nach oben. Schnaubend fuhr der Atem aus den Blaslöchern an ihrer Kopfseite und Quinn kuschelte sich glücklich auf die dunkle Haut des Wals, zeichnete mit den Fingern die hellen Linien frischer Narben ab.
Mit langsamen Flossenschlägen trieb Lottie im Kreis, während die anderen Wale wieder weiter raus schwammen und abtauchten. Unablässig erzählte Quinn ihr von allem, was sie im letzten Jahr erlebt hatte, und es schien, als ob die dunklen, sanften Augen ihrer Freundin jedes Wort aufnehmen würden. Oben auf den Hügeln schüttelte Quinns Mutter genervt den Kopf und wandte sich dann ab. Sie wusste ja, dass ihrer Tochter keine Gefahr drohte, trotzdem erschrak sie immer, wenn Quinn ins Meer lief. Doch nun musste sie die Herde wieder zusammentreiben, die Quinn zurückgelassen hatte.
Währenddessen trieben Elfe und Walin lange in den Wellen. Ab und zu stieß Lottie ein tiefes Brummen aus. Seitdem Quinn sie vor beinahe fünfzig Jahren, damals noch ein Kind, vor Walfängenr gerettet hatte, waren sie unzertrennlich. Einmal hatte sogar Lottie sie in einem Sturm gefunden, nachdem sie von den Klippen abgerutscht war, und heimgebracht. Die große, dunkle Walin alterte ebenso langsam wie das Elfenmädchen. Sie waren fast gemeinsam aufgewachsen - das Band zwischen ihnen konnte keine Schäferspflicht und keine halbjährige Reise durchtrennen.
Als Quinn zu frieren begann, nahm sie trotzdem Abschied von ihrer Freundin. Sie schwamm ans Ufer und Lottie machte sich daran, abzutauchen und zu jagen. Die Fluke hob sich wie ein Versprechen: Dass Lottie von nun an jeden Tag hier sein würde, bis es Zeit wurde, ihrer Nahrung nach Süden zu folgen.
Eines Tages, so schwor es sich Quinn nun schon seit Jahrzehnten, würde sie ihre Freundin auf diese Reise begleiten.
Die Fluke tauchte ab und das Meer lag wieder so glatt und still da, als wäre nie ein Wal hier gewesen, alle Geheimnisse unter der gekräuselten Oberfläche verborgen.
Quinn lächelte. Sie würde noch so viele Geheimnisse lüften!