Rating: P12
Nach dem Prompt „Aurorafalter“ der Gruppe „Crikey!“
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Karrenräder ratterten über das unebene Kopfsteinpflaster und brachen platschen in die Pfützen. Pferde schnaubten, Passanten fluchten, irgendwo weinte ein Kind. Der Regen prasselte aus den dichten, grauen Wolken, peitschte die Straßen von Iverford, welche sich in schlammigtrübe Flüsse verwandelten.
Alice hatte unter der Markise eines Geschäfts Schutz gesucht. Einer der vielen Läden im Erdgeschoss, wie es sie entlang dieser gewundenen, steilen Gasse hunderte gab. Die drei- und vierstöckigen Gebäude drängten sich wie Pappschachteln zusammen, mit einfarbigen Fassaden in blassblau, mintgrün, weinrot und sogar rosa. Die Fensterrahmen und Kanten waren mit weißem Stuck besetzt, weiße Flächen mit Steinmetzarbeit hingen über den Türen. Während die oberen Stockwerke, die Wohnungen, enge Fenster und schmale Balkone besaßen, erstreckten sich in den unteren Ebenen riesige Glasfronten und einladende Türen. Es gab bunte Markisen wie jene, die Alice trockenen Unterschlupf bot, vor den Pubs standen Tischchen und Stühle, um die die Karren und Kutschen navigieren mussten.
Alice versuchte, den Menschen nicht im Weg zu sein, die durch Iverford eilten und es ausnahmslos eilig zu haben schienen. Ihr Blick ruhte auf dem Geschäft gegenüber.
Das Haus war dunkel, das ehemalige Grün braun geworden, angelaufen vom Regen. In der Tür und an den Fensterrahmen prangte noch düsteres Holz, das Butzenglas verzerrte den Blick ins Innere, sodass die Auslage nur als verschwommene Streifen von Silber im Dunkeln sichtbar wurden. Das Relief über der Tür zeigte einen Schmied bei der Arbeit, mit einem kleinen Hammer, in der Zange ein filigranes Gebilde aus aneinandergereihten Perlen.
Endlich tauchte der Mann auf, auf den Alice gewartet hatte. In Frack und Zylinder stolzierte er durch den Regen, schwang den Spazierstock auf eine Weise, dass Mütter ihre Kinder rasch aus dem Weg zogen. Schwungvoll drehte sich der Mann vor der Tür des Schmuckladens, öffnete die Tür und neigte den Hut mit der Hand, um den Regen abzuschütteln.
In diesem Moment streckte Alice die Hand aus und ließ die Zeit einfrieren.
Der Lärm verschwand schlagartig, als wäre sie taub geworden. Etwas, das sie schon immer an dieser Fähigkeit gestört hatte. So viele Abende am Lagerfeuer hätte sie die Zeit gerne eingefroren, wenn Pani, das verwaiste Kaninchenmädchen, eines ihrer Lieder sang. Doch Musik war Bewegung. Und so war sie etwas, das Alice niemals festhalten könnte, egal, wie sehr sie es sich wünschte.
Das war nicht alles, was ihr hier fehlte. Die Welt wurde schwarzweiß, jede Farbe verblasste, bis auf das Orange auf den Flügeln der Schmetterlinge. Eine Wolke tanzte um sie herum, flatternd und flackernd - es war das gleiche Tier, doch auf unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsebenen, sodass sie es in diesem eingefrorenen Moment tausendfach sah. Wie die Splitter eines Spiegels flatterten die weiß-orangen Schwingen um Alice herum, transparent genug, dass sie die Straße noch erkennen konnte.
Diese war nun leer. Weder Menschen noch Regen war zu sehen, allerdings blieben die Pfützen als verschwommene, graue Masse auf dem Boden, Streifen und Nebel zwischen den Pflastersteinen. Alice konnte problemlos hindurchgehen. Unter einem Durchgang sah sie einen Mann, eher eine schwarze Gestalt, Kopf und Hände verschwommen. Er stand leicht vorgebeugt, den Fuß in einem glänzenden Lederschuh auf ein Bänkchen gestellt, wo sie weniger deutlich den Schuhputzer erahnen konnte. Sein Oberkörper war ein dunkler Fleck, die Arme jedoch nur mehr Schatten.
Weiter hinten in dem steinernen Torbogen, der durch ein Haus zur Parallelstraße führte, saß zusammengesunken eine Bettlerin. Alice beachtete keinen von ihnen, sondern eilte zu der Tür des Schmuckgeschäftes, die nun offen stand.
Sie hatte zehn Minuten Zeit gesammelt, weshalb manche Menschen auch noch sichtbar waren. Sie konnte nicht herumtrödeln!
Die Tür des Geschäftes war gerade verschwommen genug, dass sie hindurchgehen konnte wie durch eine weiche Schleimschicht. Im Laden verteilten sich die Schmetterlinge, als sie hineintrat, bildeten große Wolken, die mal erstarrten, sich mal explosionsartig bewegten. Alice tänzelte zwischen den Aurorafaltern hindurch.
Menschen waren kaum zu sehen, nur ein undeutlicher Schatten bei der Kasse. Doch Alice wusste, dass es hier noch einen Besitzer, Einräumer und eine Wache gab. Nur waren sie nicht mehr zu sehen.
Die Auslage war gestochen scharf. Nach und nach klaubte sie Ketten, Armbänder und Ohrringe aus ihren Samtnestern. Welche sie bewegte, die teilten sich in zwei. Auf der Auslage blieben graue, etwas blassere Abbilder zurück, doch was sie in ihren Sack stopfte, glitzerte und glänzte, gewann Farben zurück, wenn es welche besessen hatte. Das meiste war Silberschmuck, doch selbst dieser wirkte in ihrer Hand lebendiger.
Als der Sack schwer zu werden drohte, wandte sich Alice zur Tür. Diesmal kam sie nicht hindurch, sondern musste die Klinke bewegen, die Tür öffnen und schließen, wodurch diese kurzfristig zu ihrer dunkelbraunen Holzfarbe zurückkehrte.
"Wo war ich, Bats?", fragte sie flüsternd.
Schmetterlinge umringten sie. Dann bildeten die Aurorafalter plötzlich eine Linie quer über die Straße und ballten sich an einer Stelle unter der Markise.
"Danke, mein Freund." Alice lächelte und stellte sich wieder in Position. Mehr und mehr Schatten flackerten auf der Straße. Ein dumpfes Dröhnen schwoll an, in das sich nach und nach das Prasseln des Regens mischte.
Alice atmete tief durch und bewegte die Hand. Im nächsten Moment war die Straße wieder voller Leute. Ein Schornsteinfeger in pitschnasser Montur murmelte eine Entschuldigung, als er sie beinahe anrempelte. Eine Frau beugte sich über den Kinderwagen, aus dem lautes Weinen drang. Gegenüber bimmelte die Türglocke, als der Mann im Zylinder eintrat.
In den nächsten zehn Minuten würde der Schmuck dort nach und nach verblassen. Wenn alles nach Plan ging, würden die Besitzer ihren aktuellen Gast verdächtigen. Beweisen könnten sie es nicht, doch die Gerüchte dürften ausreichen, seine Kampagne scheitern zu lassen. So viel dazu, dass er das Wahlrecht für Frauen verhindern würde!
Alice setzte den schweren Sack mit ihrer Beute ab und band sich die blonden Haare in einen hohen Zopf. Bats setzte sich auf das Gummi, wo der Schmetterling - nun war es nur noch einer - erstarrte und sich in eine filigrane Brosche verwandelte, stahlgrau, die Spitzen orange und schwarz eingefärbt.
Alice hob ihre Beute auf und drängte sich geschickt in die Flut der Passanten, verließ hüpfenden Schrittes den Ort des Verbrechens.
Heute Abend würde sie nicht rätseln müssen, wo sie etwas zu Essen herbekommen würde.