IM INNEREN DES SCHLOSSES wurde der geisterhafte Eindruck, den ich bereits draußen hatte, noch verstärkt. Ich konnte schemenhaft alte Badewannen und Pflegebetten erkennen.
»Lasst uns mal etwas Licht in die Sache bringen«, sagte Momo, als er seine Taschenlampe anknipste, und seine Stimme wurde von den Wänden des Gebäudes dumpf zurückgeworfen.
»Wow, hier steht noch so viel rum«, wunderte sich auch Luke darüber, dass Vandalen sich bislang nicht an der Innenausstattung des ehemaligen Altersheims zu schaffen gemacht hatten.
Sicher stand alles nicht mehr dort, wo es früher einmal hingehört hatte, dennoch erweckte es den Eindruck, dass hier wirklich noch ein geisterhafter Pflegebetrieb laufen könnte.
»Ganz schön kalt hier drin«, stellte ich fest und drückte meinen Mantel enger an meinen Körper.
»Kannst du etwas spüren?«, fragte mich Momo hektisch, ob ich vielleicht doch die technischen Gerätschaften zur Geisterjagd ersetzen könnte.
»Nein, nur das ganz normale Angstgefühl, wenn man im Dunkeln in ein leer stehendes Gebäude latscht. Nicht, dass ich das schon einmal getan hätte«, musste ich Momo erneut enttäuschen.
Ich spürte jedoch die spezielle Atmosphäre in diesen alten Mauern. Roch den muffigen, feuchten Gestank und hörte den Wind durch die Ritzen heulen. Ja, es hatte etwas Gespenstisches, aber da war keines dieser Gefühle, die ich in Gegenwart von echten Geistern oder Fabelwesen wahrnahm. Oder was auch immer der Tattoomann gewesen ist.
»Ich merke auch nichts«, gab Luke mir recht, der sich flüchtig in den Zimmern neben uns umgesehen hatte. »Ich schalte jetzt die Infrarotkameras ein. Verhaltet euch einfach ganz normal.«
Als ob das in einem solchen Spukhaus möglich wäre. Auch wenn man keinen Geist spürte, war die Vorstellung, wie viele Menschen zu dessen Zeit als Altenheim hier wohl gestorben waren, sehr bedrückend. Und nach dem Fall mit dem Poltergeist in Leubingen war eine ähnliche Präsenz an diesem Ort nicht gänzlich ausgeschlossen.
»Nichts«, gab Luke Entwarnung. »Lasst uns in einem der Räume die Bewegungsmelder und vielleicht auch die Ghostbox aufstellen.«
Marlowe und Momo hievten den Kasten, der in etwa so aussah, wie ein altes Radio in einen der unteren Räume. Dort lief mir ein heftiger Schauer über den Rücken. Unter einem kleinen Fenster stand eine alte blaue Liege, daneben stand ein Beistelltisch, wie man ihn aus Altenheimen oder Krankenhäusern kannte. Ein Paar Schuhe standen davor. Es machte alles den Eindruck, als wäre eine medizinische Untersuchung gerade erst zu Ende gegangen und der Arzt würde auf den nächsten Patienten warten. Auch das Waschbecken hing noch an der grünbefliesten Wand. Eine Leuchtstoffröhre hing darüber.
Luke platzierte die Ghostbox vor der Liege und schaltete sie ein. Alle schwiegen und starrten das Ding erwartungsvoll an. Nichts passierte.
»Würde damit wirklich ein Geist mit uns sprechen, wenn einer hier wäre?«, flüsterte ich nach einer Weile.
»Das verspricht jedenfalls der Hersteller«, antwortete Momo trocken.
»Ihr habt das noch nie miterlebt?« Ich war dann doch etwas enttäuscht.
»Wir jagen ja meistens Fabelwesen und die sind sichtbar. Was ein großer Nachteil ist. Denn so können sie sehr schnell von irgendwelchen Menschen entdeckt werden.«
»Aber jagen wir nicht eigentlich Mothman?«, erinnerte ich mich an das, was Marlowe mir über den heutigen Fall gesagt hatte. »Das wäre doch dann eher ein Fabelwesen, oder? Das müsste deine eigene Technik erkennen.«
Momo kratzte sich am Hinterkopf. »Ja, im besten Fall würde sie das. Tut sie bislang aber nicht«, gab er mir recht und tippte auf seinem Smartphone herum. »Und ja, die Meldung lautete „Mothman gesichtet“. Dennoch wollen wir nach all den Geistersichtungen zunächst erneut die Anwesenheit eines Geistes überprüfen.«
»Psst! Wenn ihr so viel labert, werden wir niemals etwas finden«, beklagte sich Luke über unser Fachgespräch.
»Ihr beide bleibt hier unten«, gab Marlowe Luke und Momo eine Anweisung. »Alexis und ich gucken uns in den oberen Etagen um.« Er machte mir mit einer Kopfbewegung deutlich, dass ich ihm folgen sollte.
»Ein Glück, Madame ist jetzt Chefsache«, hörte ich Luke beim Gehen noch sagen.
Marlowe und ich stiegen die knarzenden Treppen rauf. Überall stießen wir dabei auf weitere Rollstühle, Betten, Wannen und Bottiche sowie alte Pflegeutensilien und Patientenakten oder Speisekarten.
»Ah!«, schrie ich auf, als sich auf der Treppe neben mir etwas bewegt hatte.
»Was ist?«, drehte sich Marlowe zu mir um. »Hast du etwas gesehen?«
»Gott! Ich glaube, nur ne Ratte oder so«, keuchte ich. »Ich muss mir für den Job dringend ein dickeres Fell zulegen, schätze ich.«
»Kein Fell der Welt könnte so dick sein, dass dich solche Einsätze kalt lassen«, gab mein Boss völlig uneitel zu.
»Aber Sie sind ja quasi damit aufgewachsen«, sprach ich an, was mir Wilhelm über Marlowes Detektiv-Familie erzählt hatte.
»Das macht es nicht unbedingt leichter. Ich weiß Dinge, die du gar nicht wissen willst, glaub mir. Denn dann würdest du sofort kündigen.«
»Na, Sie wissen ja bestens, wie man seine Mitarbeiter für die Arbeit motiviert«, empörte ich mich.
Ich konnte Marlowe leise kichern hören. In diesem Moment wünschte ich mir den stummen Boss zurück. Der hatte mich wenigstens allein mit meinen verrückten Gedanken gelassen und diese nicht noch wirrer werden lassen.
Wir fanden schließlich einen großflächigen Raum, der in seiner morbiden Schönheit alles übertraf, was wir in den unteren Stockwerken vorgefunden hatten.
Die Wände waren teilweise holzvertäfelt und ein wunderschöner Kamin krönte den Anblick. Er war ebenfalls mit Holz ausgeschmückt. Sogar ein Dach hatten sie nachempfunden. Weitere Trennwände und Rundbögen aus massivem Holz machten den herrschaftlichen Anblick perfekt. Wer immer dieses Schloss konstruiert hat, hat sehr viel Herzblut in die Planung gesteckt.
Dennoch sorgten erneut zahlreiche Sessel und rostige Rollstühle für eine gewisse Geisterstimmung. Allerdings weiterhin ohne Geisterstimmen oder sonstige Erscheinungen.
»Und, irgendein Gefühl?«, machte Marlowe einen auf Momo und wartete, ob meine Antennen fürs Übernatürliche anspringen würden. Was sie nicht taten.
»Nichts. Ich kann das nur, wenn etwas bei mir ist«, stellte ich zum wiederholten Mal klar.
»Wenn hier ein Geist wäre, würde er deine Nähe suchen. Geister spüren es, wenn ein Mensch mit ihnen eine Verbindung aufbauen kann«, erklärte Marlowe.
»Deswegen hat der Junge aus der Bronzezeit mich an sich rangelassen?«
»Anzunehmen. Immerhin haben wir das auch beim Rasselbock beobachten können. Ganz zu schweigen von deinem Tattoomann. Miss Emmerich, ich denke, Wilhelm hat recht. Du bist nicht zufällig in diese Sache reingeraten.«
»Ach, hören Sie doch auf«, winkte ich ab. »Das klingt ja alles verdächtig nach irgendeiner zusammengesponnenen Fanfiction oder so was. Ich bin ein ganz normales Mädel, wie Luke immer sagt.«
»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.« Marlowe hob erwartungsvoll die Augenbrauen. Dabei fragte ich mich, woher er wohl die Narbe auf der linken Braue hatte. Ob das auch etwas mit einem übernatürlichen Wesen zu tun gehabt hatte?
»Dann schauen Sie hin und sehen Sie, wie nichts passiert«, nahm ich Bezug auf Marlowes Erwartungen. Ich stellte mich mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen mitten in diesen edlen, aber staubigen Raum und wartete. Auf was auch immer.
Nach ein paar Augenblicken konnte ich Marlowe glucksen hören.
»Was? Sie wollten doch einen Beweis, dass ich keine Geister anlocken kann. Oder ist in der Zwischenzeit einer vorbeigekommen?«
»No, but ...«, wieder musste er schmunzeln. Und das alles ohne Saskia in der Nähe. Wobei ich das glatt als Geistererscheinung vermerken würde. »Du musst schon selbst daran glauben. Konzentriere dich auf das, was du spüren willst. Atme tief ein und aus. Wie bei einer Meditation. Du kennst die Art von Gefühlen bereits. Rufe die Erinnerungen daran tief in dir wach.«
Ich tat, wie er mir geraten hatte. Tatsächlich konnte ich nach einer Weile die Erinnerungen an die Gefühle, die ich bei den Fabelwesen hatte, in mir wachrufen. Dann dachte ich an den kleinen Jungen und wie sich die Anwesenheit eines Geistes angefühlt hatte. Ich dachte an den Rasselbock und an den Tattoomann. Und an René!
»Was ist René?«, sprudelte es plötzlich aus mir heraus. Marlowe sah mich mit aufgerissenen Augen an.
»Ich habe auch bei René was gespürt. Nicht so etwas Düsteres, wie bei dem Kerl mit dem Tattoo. Aber da war was und irgendwie ist er mir ein wenig suspekt.« Ich wusste nicht, warum ich das sagte. Immerhin kannten sich Marlowe und René schon länger und ich wollte keinem seiner Freunde zu nahe treten. »Aber ich fand, dass er sich seltsam verhalten hat, als wir ihm das Tattoo gezeigt hatten. Er hat viel zu schnell davon gesprochen, dass es ungefährlich sei, während wir doch eigentlich jedem Detail unsere Aufmerksamkeit schenken sollten.«
Marlowes dunklen Augen funkelten im schwachen Licht, als er wortlos nickte. »Danke, dass du mir das sagst«, meinte er schließlich und schien das Thema für heute abgehakt zu haben. Aber ich sah ihm an, dass er noch darüber nachdachte. Ich hoffte, keinen neuen Ärger losgetreten zu haben.
Ich sollte nicht lange grübeln, als wir von einem lauten Poltern aufgeschreckt wurden. Wir konnten uns beide einen Schrei nicht verkneifen und instinktiv sprang ich meinem Boss vor Schreck in die Arme. Wenn das Saskia erfuhr, waren Geister und Grabunholde die längste Zeit meine größten Sorgen gewesen.
Marlowe nahm es mit Humor und schließlich mussten wir beide über uns lachen.
»Und, hast du jetzt etwas gespürt?«, fragte mich Marlowe anschließend.
»Hm?«
»Na, bei mir?«
Jetzt verstand ich, was er wollte. »Nein, keine Sorge. Sie sind kein Geist oder Fabelwesen. Obwohl man das manchmal denken könnte.« Ups! Sagte man so etwas zu seinem Boss?
»What do you mean?«, fragte er und schaute mich herausfordernd an.
Ich sollte keine Gelegenheit mehr bekommen, mich aus der Nummer rauszureden. Erneut hörten wir ein Rumpeln ganz in der Nähe. Dieses Mal erschraken wir nicht, sondern blieben stocksteif stehen und hielten den Atem an.
»Das kommt von da drüben«, flüsterte mir Marlowe zu.
»Sollen wir Momo holen mit seinen Geräten?«, war ich gedanklich schon auf dem Weg die Treppen runter.
»Alles gut, ich hab eine Waffe.« Marlowe zog eine Art Pistole unter seinem Trenchcoat hervor.
»Oh, wow«, staunte ich. »Ich wusste nicht, dass wir so etwas auch haben.«
»Ist nur ein Betäubungsmittel. Es wirkt relativ schnell, mach dir für alle Fälle dennoch zur Flucht bereit.«
Ich war ein wenig angepisst, dass wir so ein Betäubungsmittel letzte Woche nicht dabei hatten. Dann hätten wir den Jungen –.
»Das hilft allerdings nur bei Fabelwesen, nicht bei Geistern«, ergänzte Marlowe, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Gemeinsam schlichen wir in eins der zahlreichen Nebenzimmer. Ich hatte mich immerhin insoweit unter Kontrolle, dass ich mich nicht am Mantel des Bosses festkrallte. Dennoch schlotterten mir die Knie. Keiner von uns wusste, was nebenan so einen Lärm verursachte.
»Ich spüre übrigens immer noch nichts«, machte ich darauf aufmerksam, dass ich nach wie vor nicht als Fabeltier-Wünschelrute zur Verfügung stand.
Ehe Marlowe antworten konnte, kam ein lautloser riesiger Schatten aus einer der hintersten Ecken genau auf uns zugeflogen. Erneut konnten wir uns ein Kreischen nicht verkneifen und kauerten uns auf den Boden.
Marlowe hatte schneller als ich wieder die Fassung zurückgefunden. Er gab mir zu verstehen, dass ich am Boden bleiben sollte. Den Gefallen tat ich ihm nur zu gern. Dann ging er vorsichtig in die Richtung, in der der Schatten geflogen war.
»War das Mothman?«, flüsterte ich. Den Beschreibungen kam dieses Etwas auf jeden Fall sehr nah.
Marlowe hob nur warnend den Zeigefinger und schlich so leise wie möglich weiter. Bei den alten Dielen war das leichter gesagt als getan.
Ein geisterhaftes Heulen ließ uns erneut zusammenschrecken.
»Bleiben Sie hier. Wir sollten die anderen holen oder die CF benachrichtigten.« Ich hatte aus meinen letzten Fehlern gelernt und wollte es nicht schon wieder vermasseln, auch, wenn diesmal der Boss persönlich daran beteiligt war.
Dieser war aber mittlerweile außerhalb meiner Sicht. Ich hockte im Dunkeln, denn ich hatte keine Taschenlampe bekommen. Mit zitternden Händen suchte ich nach meinem Handy. Vor lauter Panik fiel es mir jedoch runter und der entstandene Krach ließ mein Herz einen Schlag aussetzen.
»Marlowe, kommen Sie zurück!«, fiepte ich ihm zu.
Ich sollte keine Antwort erhalten.