»BLEIBEN SIE EINFACH GANZ ruhig sitzen. Wir lassen das Tier jetzt rein.« Die Stimme von Kristine Urban hallte kratzig durch die beiden kleinen Lautsprecher in der linken und rechten Ecke der klassenzimmergroßen Zelle. Auf der Kamera in deren Mitte, die direkt auf mich gerichtet war, leuchteten beständig ein rotes und ein grünes Lämpchen.
Ich fühlte mich, als befände ich mich bei einem Verhör in Polizeigewahrsam. Mit dem Unterschied, dass ich ganz allein in der dunklen Kammer saß. Kein böser und guter Cop, kein verspiegeltes Fenster. Sehr wohl aber ein kleiner Tisch mit einem Mikrofon und einem Glas Wasser. Um meinen Kopf waren mehrere Sensoren befestigt, die meine Hirnströme aufzeichneten und mein Herzschlag wurde durch ein EKG-Gerät überwacht. Ich saß auf einem harten Holzstuhl, der nicht unbedingt zum längeren Verweilen einlud. Dennoch hatte ich diesen seit mehr als einer Stunde nicht verlassen.
Hinter mir befand sich anstelle einer vierten Betonwand ein engmaschiges Stahlgitter. Dieses trennte meinen Raum von einem Durchgangszimmer. Abwechselnd wurden dort verschiedene Wesen oder Gegenstände hereingelassen. Manchmal kündigte Frau Urban, die vollschlanke CF-Agentin mit den freundlichen warmen Augen und den blonden Locken, das nächste Geschöpf an. Hin und wieder sagte sie gar nichts und diesmal schwang eine Warnung in ihren Worten mit. Möglicherweise sollten auch diese mich verunsichern beziehungsweise falsche Erwartungen wecken.
Ich hörte, wie sich die Schranke öffnete. Ich kannte dieses Geräusch aus dem Zoo, wenn die Tierpfleger einen ihrer Schützlinge ins Außengehege ließen oder am Abend wieder hineinriefen. Mehr konnte ich nicht hören, da sie mir Kopfhörer verpasst hatten, welche auf Dauerrauschen umsprangen, sobald sich etwas hinter mir befand. Ich schloss die Augen, obwohl es in meinem Raum finster genug war, um sich zu konzentrieren.
Es war kalt in der Zelle. Dennoch wurde mir nach einer Weile warm. Eine frühlingshafte Wärme durchströmte mich. Ich hatte das Gefühl, als ob ich mitten auf einer Lichtung saß, um mich herum Bäume mit saftigem Laub. Die Sonne schien, es duftete nach frischem Gras und Blumen. Ich kannte dieses Gefühl. Es glich der Aura des Rasselbocks.
»Ähm, wenn ich mir nicht irgendwas einrede, dann spüre ich eine Lichtung im Wald. Ein warmer Frühlingstag. Ich tippe auf einen friedlichen Waldbewohner. Vielleicht ein Rasselbock, wobei der etwas temperamentvoller war.«
»Vielen Dank, Frau Emmerich. Wir schalten jetzt das Licht ein.« Kaum hatte Frau Urban das angekündigt, erhellte sich der Raum, wodurch meine Augen leicht zu tränen begannen. Neugierig drehte ich mich zum Gitter um und staunte nicht schlecht.
»Oh! Ach, wie süß!« Vor mir hoppelte ein Häschen. Ein Häschen mit einem kleinen Geweih zwischen den Ohren, Eckzähnen, die aus seinem Maul heraus blitzten und Flügeln auf dem Rücken.
»Das, Frau Emmerich, ist der Verwandte ihres Rasselbocks. Ein weiblicher Wolpertinger. Die Männchen sind deutlich agiler und zum Teil aggressiver. Vor allem in der Paarungszeit. Die Weibchen hingegen werden meist als friedlich und scheu beschrieben. Wieder ein Treffer.«
Ich hörte Klicken und Tippen aus den Lautsprechern. Frau Urban notierte sich die Ergebnisse meines mittlerweile elften Tests. Der Dritte, bei dem ich das Fabeltier anhand meiner Empfindungen gespürt hatte. Na ja. Genaugenommen war der Wolpertinger auch erst das dritte Fabeltier. Bei den anderen acht Tests wurden mir unter anderem Hunde, Ziegen oder einfach nur Bürostühle vorgesetzt. Bei keinem davon spürte ich auch nur die kleinste Präsenz.
Anders sah die Sache beim Biermolch und Elwetritsch aus. Der Biermolch löste in mir das Gefühl von Geselligkeit aus. Ich hätte genauso gut in gemütlicher Runde mit ein paar Kumpels im Biergarten sitzen können. An einem lauen Sommerabend. Es hatte aber auch etwas Anregendes. Wie ein lebhaftes Gespräch, zuweilen auch kleinere Zankereien.
Die Elwetritsch, die den pseudowissenschaftlichen Namen Bestia palatinensis trug, ließ mich eher an einen Bach oder kleinen Waldsee denken. Auch strahlte sie etwas Neckisches und Unbeholfenes aus. Wenn man sich dieses hühnerähnliche Geschöpf mit den viel zu kleinen Flügeln, den Gänsefüßen und dem langen Schnabel betrachtete, lag ich auch in diesem Fall gar nicht so falsch.
»Wir schalten die Kopfhörer wieder ein«, funkte Frau Urban mit ihrem starken bayrischen Dialekt in meinen Raum und das Licht ging wieder aus. Dann kam das Rauschen. Diesmal ziemlich zeitig. Ich konnte nicht lauschen, ob und wann sich der Schieber öffnete. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Eine Welle negativster Energien durchfloss mich. Reflexartig sprang ich vom Stuhl auf. Zwang mich aber, mich nicht umzudrehen und die Augen geschlossen zu halten. Mein Herz puckerte. Was auch immer sich da gerade hinter mir befand, ich konnte nur hoffen, dass die Gitter standhielten.
»Das ist definitiv kein friedliches Geschöpf«, sprach ich mit einem Beben in der Stimme. »Ich spüre Wut. Große Wut. Ich würde nicht so weit gehen und von Chaos sprechen, aber in mir herrscht das Gefühl großer Angst.«
»Wollen Sie es sehen?«, fragte mich Frau Urban und ich konnte auch in ihrer Stimme hören, dass sie das Geschöpf nicht kaltließ.
»Ja, ich will es sehen«, gab ich mein Einverständnis einen Blick auf das zu werfen, was diese finstere Aura ausstrahlte.
Das Licht ging an und ich konnte ein wildes Schnauben hören. Schweres Stampfen. Dann schlug es gegen die Gitterwand. Diese bebte noch eine ganze Weile nach. Es roch etwas streng in meiner Zelle. Zögernd drehte ich mich um, nachdem sich meine Augen wieder an das Licht der Leuchtstoffröhren gewöhnt hatten.
»Ach du Scheiße!« Ich taumelte rückwärts gegen den Tisch. Das Wasserglas fiel klirrend zu Boden. Ich tastete mich zurück zum Stuhl und musste mich setzen. »Was in aller Welt ist das?«
Hinter dem Gitter stand ein riesiges graubraunes Tier mit einem plumpen tonnenförmigen Körper. Es hatte auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit einem Flusspferd. Allerdings war es sehr viel größer. Aus seinem massigen Kopf starrten riesige beinahe menschenähnliche Augen und auch die großen Ohren glichen denen eines Menschen. Sein Maul endete in einem kurzen Rüssel, aus dem zwei kleine Stoßzähne wuchsen. Die Beine waren gerade und kräftig wie Baumstämme. Trotz all dieser Besonderheiten fiel mir vor allem sein langer dicker Schwanz auf. Derartiges kannte ich höchstens von Reptilien. Die eher glatte schuppenlose Haut des Geschöpfs sprach jedoch dagegen, dass es eine Art Dinosaurier oder etwas in der Richtung sein konnte.
»Darf ich Ihnen Bəhēmôth vorstellen.« Frau Urbans Stimme ließ mich erneut zusammenzucken. Besonders die Art und Weise, wie sie den Namen des Tieres betonte.
»Wa-warten Sie.« Ich strich mir mehrmals übers Gesicht und zwinkerte ein paarmal. Das Geschöpf blieb, wo und wie es war. »Sie wollen mir nicht ernsthaft erklären, dass ich hier vor Behemoth, dem Vieh aus der Bibel stehe?«
»Ich hatte angenommen, dass Sie mit der Zeit selbst das nicht mehr überraschen würde, Frau Emmerich. Immerhin sind Sie auf einem Hippokamp geritten, wenn ich den Berichten von Herrn Clausen Glauben schenken darf.«
»Das dürfen Sie.« Hui, diesen herablassenden Tonfall hatte ich nicht erwartet. Es war nicht mehr die gütige Frau Urban, die mit mir sprach. Eine andere Frau hatte sich unserer Sitzung angeschlossen. Und ich musste zugeben, dass mir ihr Zweifel an unserem Abenteuer an der Rappbodetalsperre einen Stich versetzte. Einen Stich ins Herz und in meinen Stolz.
»Mein Name ist Patricia Kreuzer. Stellvertretende Leiterin der Abteilung für Wesen der Unterwelt«, stellte sich die zweite Frau vor. »Und Sie sind Alexis Emmerich, das Fabeltiermedium?«
»So würde ich mich selbst nicht bezeichnen, ich habe –«
»Versuchen Sie, näher an den Behemoth heranzutreten. Herr Burmeister hat angegeben, dass Sie eine beruhigende Wirkung auf Fabelwesen haben.«
Wer? Ach, Wilhelm! »Auch dem möchte ich nicht uneingeschränkt zustimmen«, wiegelte ich ab.
»Um das zu überprüfen sind Sie ja heute hier. Frau Emmerich, bitte stellen Sie sich näher ans Gitter. Machen Sie, was auch immer Sie mit ihrem Rasselbock getan haben.«
Meinem Rasselbock. Ich hatte diese Person noch nie gesehen, aber allein der Klang ihrer Stimme ließ mich zu der Erkenntnis kommen, dass ich sie nicht leiden konnte. Ich hätte nicht herkommen sollen. Aber Wilhelm hatte mir noch einmal ausdrücklich dazu geraten. Er war nach wie vor überzeugt, dass ich all diese Fähigkeiten besaß. Leider sah es bislang auch danach aus, als würde er recht behalten.
Ich gab mich also geschlagen und trat näher an den Behemoth heran. Dieser reagierte alles andere als entspannt. »Das ist kein Fabeltier. Das ist ein Monster aus der Bibel! Was kommt denn als Nächstes? Satan himself?«
»Frau Emmerich?« Kristine Urban meldete sich wieder zu Wort. »Die Behemoths waren einst friedliche pflanzenfressende Fabelwesen. Sie wussten sich jedoch zu wehren und nahmen kaum Rücksicht auf Stadt- und Ackergrenzen. Aufgrund ihrer Größe und magischer Fähigkeiten wurden sie alsbald verteufelt. Die CF hat die Behemoths in Sicherheit gebracht und die Menschen haben falsche Tatsachen überliefert. Nach Hiob 40,19 wurde Behemoth – wie auch sein im Wasser lebendes Gegenstück Leviathan – als Erstes der Werke Gottes geschaffen. Es war nie ein Monster. Es wurde zu einem gemacht.«
Ein Schicksal, das Behemoth mit vielen anderen Fabelwesen teilte. Mein Vorurteil dem Geschöpf gegenüber war mir unangenehm. Auch wenn sein Anblick es einem nicht einfach machte, so wollte ich dennoch Zuneigung zu dem großen Tier fühlen. Für den Anfang versuchte ich es allerdings wieder mit meiner Gleichgültigkeits-Taktik. Ich lungerte am Gitter auf und ab und ignorierte das Fauchen, Schnauben, Trampeln und Springen. Nach einer Weile schien sich Behemoth zu beruhigen. Er atmete noch etwas schwer, lehnte seinen riesigen Kopf jedoch an die Gitterstäbe.
»Streicheln Sie ihn«, ertönte wieder Frau Kreuzers hochnäsige Stimme aus den Lautsprechern. »Wir wollen sehen, was direkter Körperkontakt bewirkt.«
Hatten die sie nicht mehr alle? Ich? Streicheln? Behemoth? Gut. Ich hatte diesen Tests zugestimmt. Inklusive Blutuntersuchung und Ahnenforschung. Dann sollte Behemoth-Streicheln die Sache eben abrunden. Das durfte man echt keinem erzählen! Wer weiß, ob man mich jetzt noch in eine Kirche ließ?
Behutsam ging ich einen Schritt weiter auf das Ungeheuer zu. Dieses blickte zu mir herab und senkte seinen Kopf. Vorsichtig streckte ich meine rechte Hand nach der Gitterwand aus. Die Maschen waren zu eng, als dass Behemoth nach mir hätte schnappen können. Ich konnte fühlen, dass sich seine Präsenz veränderte. Nach wie vor war sie voller negativer Erinnerungen. Dennoch war da auch etwas Friedlicheres. Ich musste an eine Kuhweide denken, auf der Rinder ungestört grasten und wiederkäuten. Ich wurde auf einmal traurig. Sollten diese Geschöpfe wirklich nur missverstanden worden sein und dann so lange gejagt und gefoltert, bis sie der späteren Beschreibung des Monsters entsprachen? Bis heute trugen diese Wesen den Groll der Menschen tief in sich. Bis auf diesem hier. Mein Behemoth hatte sich beruhigt. Er legte sich hin und schloss die Augen.
Das lautstarke Öffnen der Schleuse ließ ihn wieder aufschrecken und wild den Kopf hin und her schwenken.
»Frau Emmerich, das reicht uns. Kommen Sie heraus, bitte.«