Einander wiederzufinden,
wenn man sich bereits für immer verloren glaubte,
ist mit Sicherheit eines der schönsten Gefühle im Leben.
Kapitel 1
Ich bin Mali.
An einem sonnigen Junitag kam ich im Tierheim zur Welt.
Während meine beiden Geschwister aussahen wie meine Mama, nämlich schwarz mit weißem Lätzchen, kam ich mit meiner farbenfrohen Fellzeichnung wohl eher nach meiner unbekannten Großmutter. Schildpatt nennt man die schwarz-braun-weiße Farbgebung, die nur weibliche Tiere haben und von der man sagt, sie sei ein Glücksbringer für jede Fellnase, die sie ihr Eigen nennt.
Und tatsächlich hatte ich großes Glück, denn ich wurde gleich, nachdem ich die Pflegestation verlassen durfte, an eine sehr nette Familie vermittelt.
Zuerst gestaltete sich das jedoch gar nicht so einfach.
In den ersten zwei Tagen nach unserem Umzug in ein eigenes Katzen-Familienzimmer kamen einige Leute, die sich für mich und meine Geschwister zu interessieren schienen. Doch meine Katzenmama war noch nicht bereit eines ihrer Kinder abzugeben. Sie fauchte jeden Neuankömmling, der versuchte, sich uns zu nähern, sofort warnend an und baute sich mit drohend gesträubtem Fell schützend vor ihrem Nachwuchs auf.
Doch dann, am dritten Tag, erschien diese junge Frau.
Als sie gemeinsam mit unserer Pflegerin das Katzenzimmer betrat, blieb Mama erstaunlicherweise ganz ruhig. Hatte sie die besondere Verbindung etwa auch gespürt?
Wie dem auch sei, ich spürte es sofort, dieses warme Gefühl von Verbundenheit, denn ich wagte mich mutig hinter Mama hervor und tapste noch etwas unsicher auf die beiden Hände zu, die sich mir vertrauensvoll entgegenstreckten.
Die Frau hob mich vorsichtig hoch und nahm mich zärtlich in den Arm. Liebevoll begann sie mein Fell zu streicheln und mich zwischen den Ohren zu graulen, während sie mit wohlklingender leiser Stimme beruhigend auf mich einsprach. Ich wusste gar nicht wie mir geschah, als ein mir bislang unbekanntes, aber durchaus angenehmes Grummeln aus meinem Inneren in meiner Kehle emporstieg und sich in einem tiefen, zufriedenen Schnurren entlud.
„Da haben sich ja zwei gefunden!“, lachte die Pflegerin, die uns immer das Futter brachte. „Dann werde ich schon mal die Papiere fertigmachen.“
„Na, meine Kleine“, flüsterte meine neue Zweibeiner-Frau liebevoll. „Du möchtest dich bestimmt noch von deiner Familie verabschieden, bevor wir in dein neues Zuhause fahren.“
Sie hielt mich sicher im Arm, beugte sich hinunter zu meiner Mama und streichelte sie beruhigend. „Ich verspreche dir, dein kleines Mädchen wird es gut haben bei uns.“
Meine Mama ließ sich die Berührung gefallen, ohne den Blick von mir zu wenden. Sicher fiel ihr der Abschied nicht leicht, aber sie spürte wohl, dass es so sein sollte. Meine Geschwister drückten sich schüchtern an sie und verabschiedeten sich mit einem letzten stummen Blick von mir.
„Macht`s gut“, sagten meine Augen.
Dann kuschelte ich mich tief in den Arm meiner neuen Mama und wanderte erwartungsvoll mit ihr hinaus in mein spannendes zukünftiges Leben.
Zu meiner neuen Familie gehörten Mama, Papa und ihr vierjähriger Sohn Jonas.
Sie hießen mich freudig willkommen und gaben mir den schönen Namen Mali.
Alle drei waren sehr lieb zu mir.
Ich bekam das beste Futter, hatte einen richtig großen Kratzbaum, an dem ich mich herrlich austoben konnte, erhielt so viele Streicheleinheiten, wie ich zuließ und konnte mich im ganzen Haus frei bewegen und herumtollen, soviel ich wollte.
Nachts und auch oft tagsüber schlief ich in meinem wunderbar weichen Katzenkissen oder auf dem Sofa in der Stube.
Am allerliebsten jedoch kuschelte ich mich auf den Schoß meiner neuen Mama.
Nach ein paar Wochen Eingewöhnung durfte ich dann auch in den Garten meiner Familie. Ich liebte es, herumzustreifen und die Gegend zu erkunden. Die Wildblumenwiese und das angrenzende Feld hinter unserem Grundstück wurden zu meinem bevorzugten Revier. Ich sprang herum, kletterte Baumstämme hinauf und erklomm in meinem Übermut irgendwann auch das hauseigene Garagendach, auf dem ich dann jedoch jammernd sitzenblieb, weil der Abstieg mir gefährlicher erschien als das Hinaufklettern. Mein klägliches Mauzen klang wohl, als käme es tief aus der Schwanzspitze, woraufhin mein Zweibeiner-Papa sofort die Leiter holte und mich aus meiner misslichen Lage befreite.
Auf dem Feld hinter dem Haus gab es jede Menge Mäuse. Diese schmackhaften kleinen Häppchen zu jagen und zu fangen gehörte bald zu meinen liebsten Hobbys. Ich fraß sie nicht auf, sondern nahm sie mit und schenkte sie meinen Zweibeinern. Das war der höchste Liebesbeweis, den ich ihnen erbringen konnte. Liebevoll legte ich ihnen meine erlegte Beute zuerst vor die Tür und später direkt auf den Boden in der Diele, wohin mich mein eigener Hauseingang namens „Katzenklappe“ führte.
Meine Zweibeiner-Mama sah zwar nicht begeistert aus, wenn sie die „Häppchen“ bemerkte, aber sie streichelte und lobte mich jedes Mal. Trotzdem konnte ich nicht verstehen, warum sie danach Besen und Schaufel holte und die mühsam erlegte Beute in der Mülltonne entsorgte.
Wenn Jonas schnell genug war und eines meiner „Mitbringsel“ sah, war er sofort interessiert und wollte es aufheben, doch die Mama verbot es mit strengen Worten.
Manchmal spazierte ich gemütlich durch die Anlage bis hinüber zu den netten Nachbarn. Sie hatten zwar einen großen Hund, doch der war anscheinend ein Katzenfreund, denn er lag meist friedlich in seiner Hütte und knurrte mich nie an. War die Nachbarin draußen im Garten, streichelte sie mich liebevoll und lobte mein weiches Fell. Dann holte sie jedes Mal ein Leckerli, das ich mit Wonne annahm.
Einmal sah mich meine Mama aus dem Nachbargarten kommen und hob drohend den Zeigefinger. „Nein, Mali! Nein!“
Warum denn nicht? Es war doch drüben ganz nett!
Wahrscheinlich hatte Mama nur Angst vor dem Hund.
Meine Mama sagte selten „Nein“, aber wenn, dann tat sie es mit so viel Bestimmtheit in der Stimme, die mich aufhorchen ließ.
Zum Beispiel, wenn ich mich mal wieder mitten auf der Straße niederließ um mich ausgiebig zu putzen. Klar, da kamen ab und zu Autos vorbei, aber die konnten doch anhalten! Ich fand es lustig, wenn der Fahrer hupte und schließlich ausstieg, mich hochnahm und an den Straßenrand setzte, um dann weiterzufahren.
Ein herrliches Spiel!
Meine Mama fand das gar nicht lustig.
Als sie mich wieder einmal bei so einer Aktion erwischte, nahm sie mich mit ins Haus, schimpfte mit mir und schloss die Tür.
„Ätsch, jetzt hast du Stubenarrest!“ flüsterte Jonas und verzog drollig das Gesicht.
Beleidigt zog ich mich auf meinen Kratzbaum zurück und schmollte eine Weile. Aber nur so lange, bis ich etwas entdeckte, was interessanter war als Schmollen.
Ja, das war mein neues Katzenleben.
Es war toll, denn ich hatte alles, was mein Herz begehrte.
Bis zu jenem verhängnisvollen Tag im August des folgenden Jahres…