„Verlass nicht den Weg.“
„Mach ich schon nicht.“
„Und gib Acht, dass dir der Korb nicht herunterfällt.“
„Ich halte ihn schon fest.“
„Wenn er fällt, wird alles zerbrechen.“
„Er fällt aber nicht.“
„Und dann ist die Großmutter traurig.“
„Sie muss nicht traurig sein, ich halte ihn sicher.“
Die Mutter beugte sich herunter und knöpfte ihrer Tochter den roten Mantel zu. Das kleine Ding. So jung und unerfahren, so unschuldig. Hoffentlich würde das Kind dem Weg folgen. Es war so leicht zu beeindrucken – und die Welt abseits des Weges so gefährlich.
„Vor allem aber, Käppchen, versprich mir eines: Lass dich nicht ablenken.“
„Wovon denn? Wovon soll ich mich nicht ablenken lassen? Ich muss doch nur dem geraden Weg neben den Wiesen folgen, den wir zusammen schon so oft gegangen sind. Das ist nicht schwierig.“
„Liebling, ich kenne dich doch. Wenn du einen Vogel siehst, träumst du dich in die Luft hinauf und glaubst, du kannst fliegen, du wärst frei, könntest tun, wonach auch immer dir der Sinn steht. Und wenn du eine Blume siehst, träumst du von Wurzeln, die aus deinen Füßen wachsen, dich im Boden verankern, wegen deiner Schönheit eins mit der Natur werden lassen und dir Halt geben, in einer Welt, in der es in Wahrheit nichts außer Unsicherheiten gibt. Und Gott bewahre, du siehst den Wolf…“
„Was ist dann, Mutter?“
„Dann wirst du dich bereitwillig in sein gefräßiges Maul stürzen, weil du glaubst, dass es recht ist, wenn er dich frisst.“
„Ich will aber nicht gefressen werden.“
„Dann bleib auf dem Weg. Und hör nicht auf den Wolf, wenn er zu dir spricht. Denk nicht einmal an ihn.“
„Nun, da du mir von ihm erzählt hast, werde ich aber ganz sicher an ihn denken müssen.“
„Nein, Käppchen. Denk an die liebe Großmutter, an ihr freundliches Gesicht: Ihre alten Ohren, die schon so viel gehört haben und wissen, wie es sich mit der Welt verhält. Ihre gutmütigen Augen, in denen die sanfte, beschützende Weisheit des Alters liegt. Und ihr liebevolles Lächeln, aus dem stets die Erfahrung spricht, auch wenn ihr Mund den Rat nicht immer laut von sich gibt, weil sie weiß, dass du die Wahrheit selbst herausfinden musst.“
„Dann denke ich eben an die Großmutter. Das wird schon so schwer nicht sein.“
Die Mutter schenkte ihrer kleinen Tochter ein besorgtes und liebevolles Lächeln. Dann ließ sie das Kind in die weite Welt hinausziehen, über den Weg zwischen Blumenwiesen, hinter denen der Wald lag, mit seinen Gefahren, hin zur Großmutter, wo das Mädchen sicher sein würde. Die Mutter winkte und lächelte und tat ganz unbesorgt. Doch in ihrem Inneren machte sich eine seltsame Unruhe breit, eine böse Ahnung um das Schicksal ihres Töchterchens, des kleinen Kindes, das sie nicht ewig behüten konnte.
Nur musste sie diese Angst überwinden. Die Großmutter hatte ihr damals, als sie selbst noch jung war, ebenso vertraut und es war doch auch gut gegangen – alles in allem.
So dachte die Mutter, doch die Beklemmung ließ sich nicht bekämpfen. Und ehe sie sich versah, hielt sie ein Taschentuch in Händen und weinte bitterlich.
Das rot blitzende Käppchen in der Ferne.
Die Mutter schloss die Tür.
Käppchen ging unterdessen den einen, den einzigen Weg entlang, in den Wald, sah nicht nach links und nicht nach rechts, dachte angestrengt an das Gesicht der Großmutter – nicht die Vögel, nicht die Blumen, nicht den Wolf…
Die Großmutter!
Nicht den Wolf…
Der Wolf.
„Guten Morgen, junge Dame. Wohin soll es denn so früh schon gehen?“, fragte eine schmeichelnde, warme Männerstimme.
Eine Sekunde – ein Augenblick nur – sie wandte den Kopf zur Seite und erblickte den Wolf.
Er war jung – so hatte sie ihn sich nicht vorgestellt.
Er war freundlich – das hatte sie nicht erwartet.
Er lächelte sie an – kein bisschen böse. Nur die Zähne ein bisschen spitz.
Das Rotkäppchen griff sich verlegen in die Haare. Hielt sich in seinem Angesicht aufrechter, versuchte in ihrem hübschen, roten Käppchen schon ein klein wenig Frau zu sein.
„Du bist nicht der Wolf, oder?“
Er lachte. „Natürlich bin ich der Wolf. Mädchen, Mädchen… Siehst du das denn nicht? Ich bin bösartig und furchterregend.“
Auch sie lachte. „Sehr böse. Sehr furchterregend. Schrecklich… nett vor allen Dingen. Du bist nicht der Wolf, das kann gar nicht sein.“
„Aber nein, was hat man dir denn erzählt, dass du mich für einen lieben Kerl hältst? Kennst du nicht die Geschichten über mich, die… nun ja, unglücklich formuliert, in aller Munde sind? Die Geschichten von entführten Kindern? Verzweifelten Eltern? Den einsamen, verschlungenen Seelen im Schatten? Sie behaupten, ich sei so furchterregend, dass mein Anblick die Menschen schlagartig altern ließe, wenn ich ihnen am Wegrand begegne. Sie behaupten, ich sei ein Dämon auf der Jagd nach unschuldigen Menschenkindern und wer mir in die Dunkelheit folgt, sei für immer verloren. Denn hinter der Gestalt des Wolfes verbirgt sich eine alte, mächtige Kreatur aus den Wäldern. Wer einmal seiner dämonischen Stimme lauscht, verliert sein Ziel aus den Augen, verirrt sich… und verschwindet.“
„Mir ist egal, was die Leute behaupten. Ich habe natürlich gehört, du seist böse.“ Das Käppchen, das bis gerade noch fröhlich weiter den Weg entlang stolziert war, blieb nun plötzlich stehen und sah dem Wolf in seine tiefen, schwarzen Augen. „Aber was du sagst, ist Unsinn und eine totale Übertreibung. Wir unterhalten uns jetzt schon Minuten, ohne dass etwas passiert ist. Und du hast eine schöne, verlockende Stimme, ja, das ist wahr. Doch warum solltest du mir all diese Dinge über deinen schlechten Ruf erzählen, wenn du mir wirklich etwas Böses wolltest? Das wäre doch dumm.“
„Ziemlich dumm.“ Der Wolf lächelte über die überzeugten Worte des Mädchens.
„Na also! Ich glaube nicht, dass du böse bist. Deine Ohren horchen meinen Worten sehr aufmerksam, recht höflich sogar. Und deine Augen blicken freundlich und tiefsinnig. Ach, und wenn ich aus deinem Mund deine Stimme höre, fühle ich mich äußerst wohl und geborgen.“
„Das ist sehr freundlich, dass du das sagst. Derart freundliche Worte bekomme ich selten zu hören, weißt du?“
„Armer Wolf.“
„Liebes Mädchen.“ Der Wolf bleckte seine scharfen Zähne, als grinse er sie an. „Sag, wohin geht so eine stolze junge Dame wie du so früh am Morgen?“
„Weg von der Mutter. Hin zur Großmutter.“
Der Wolf legte nachdenklich den Kopf schief. „Zur Großmutter also? Ist das die alte Frau, die am Ende dieses Weges in dem kleinen Häuschen wohnt? Die so nett und liebenswert auf all die Tiere um ihr Haus herum Acht gibt? Sie füttert und ihnen gut zureden, wenn sie sie besuchen?“
„Ja, das muss die Großmutter sein, ganz sicher! Sie ist der liebste Mensch, den ich kenne.“
„Und bringst du ihr all diese schönen Dinge in deinem Korb als Geschenk?“
„Oh ja, das tu ich.“
„Und schaust du dich auch manchmal um, unterwegs?“
Das junge Mädchen sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. „Oh nein, wie dumm von mir! Ich sollte überhaupt nicht mit dir sprechen. Die Mutter hat mich gewarnt, nicht meine Zeit am Wegrand mit dir zu vergeuden, sondern sofort zur Großmutter zu gehen.“
„Oh nein, warum das denn?“
„Wenn ich zu lang mit dir schwatze, macht sich die Großmutter Sorgen, warum ich denn nicht komme. Ihr Herz ist krank, musst du wissen. Es schlägt nicht mehr so gut. Meist liegt sie im Bett, wenn Mutter und ich sie besuchen, und dann komme ich heran, bringe ihr Kuchen und Wein und wir essen gemeinsam… Aber meist esse ich den Kuchen und Mutter trinkt den Wein, weil Großmutters Magen so viel Zucker nicht mehr verträgt. Davon kriegt sie ganz schreckliche Bauchschmerzen.“
„Oh, die arme Großmutter“, sagte der Wolf. „Aber ist es gerecht, dass du dich ihretwegen nicht auf deinem Weg umsehen darfst? Vor allem, da du ihn nun zum ersten Mal allein gehst? Die Welt ist so schön. Sieh die Vögel, sieh all die Blumen auf der Wiese. Warum darfst du sie nicht betrachten? Noch sind deine Ohren jung und hören jeden Laut, jeden Ton in der Melodie der Vögel – ist ihr Gesang nicht für junge Ohren wie deine bestimmt? Und was sehen deine Augen, Mädchen? Die Farben, die vielen wunderschönen Blumen, die Bäume und all die Tiere, die genauso unschuldig wie du sind und bloß tun, was ihrer Natur entspricht. Komm sag es mir, mit deinen eigenen zarten Lippen, mein Mädchen, sprich die Worte – ich will sie aus deinem Mund hören. Sag mir, dass du frei sein und die Welt kennenlernen willst.“
„Deine Worte überwältigen mich, lieber Wolf.“ Das Mädchen sah sich verzweifelt um, erkannte die Schönheit, von der er gesprochen hatte, und spürte, wie gern es Teil dieses Treibens wäre, das ihm so viel natürlicher und selbstverständlicher erschien als der streng angelegte Weg. Doch auch die Worte der Mutter hatte das Rotkäppchen nicht vergessen. „Ich wünsche mir so sehr, wenigstens für eine kurze Zeit über die Wiese zu spazieren und ein Vogel zu sein – oder ein Fuchs – oder ein Reh –“
„– ein Wolf?“
„– auch das.“
„Aber?“
„Die Großmutter. Ich muss doch auch an die liebe Großmutter denken.“
„Sorge dich nicht um die Großmutter. Ich weiß doch, wo sie wohnt, und gehe zu ihr, während du dich umsiehst und Blumen sammelst. Ich sage ihr, warum du länger brauchst. Und glaub mir, sie wird es verstehen.“
„Meinst du?“
„Aber sicher doch. Und nun schau dich um, Mädchen, genieße die Pracht, die Herrlichkeit der Welt und sorge dich um nichts.“
„Ich danke dir, lieber Wolf. Du bist so freundlich!“
Und so lief der Wolf den Weg hinunter, während das Käppchen munter Blumen pflückte. Sie leuchteten so hübsch in der hellen, heißen Sonne. Stiel um Stiel riss sie aus dem Boden, während die Kaninchen und die Eichhörnchen sie verstohlen aus Verstecken heraus beobachteten, die Vögel immer lauter sangen und der Waldrand immer näher rückte.
Besonders ein Vogel tat sich hervor – immer wieder stieß er dieselbe Tonfolge aus. Zuerst ganz leise, dann immer lauter und nachdrücklicher, dass der Klang einer Warnung gleichkam.
Doch Rotkäppchen hörte bloß das Zirpen der Grillen, das Rascheln der Grashalme im Wind und ihr eigenes, fröhliches Summen – das Wiegenlied, das ihre Mutter immer gesungen hatte.
Bald wurde ihr der Korb mit dem Wein und dem Kuchen so schwer, dass sie ihn abstellte, die Hände in die Hüften stemmte und verschwitzt, aber glücklich aufatmete – sie hatte so viele schöne Blumen gesammelt!
Das Pfeifen des Vogels wurde noch lauter, schriller, mahnender.
Großmutter! Großmutter! Großmutter!
Eine Windböe fuhr Rotkäppchen durchs Haar und riss ihr die gesammelten Schönheiten aus den Händen, sodass sie sich auf der Wiese, ganz dicht am Waldrand verteilten.
Großmutter! Großmutter! Großmutter!“
Sie bückte sich, hob die Blumen eine nach der anderen wieder auf. Die Sonne glühte, es war nun schon Mittag und sie strahlte so hell, dass Rotkäppchen die Augen zusammenkneifen musste, bis sich Falten auf ihrer Stirn abzeichneten.
„Oh je“, seufzte die junge Frau. „Wie konnte ich nur so viel Zeit vertrödeln? Ich muss schnell hin zur Großmutter, sehen, ob es ihr gut geht!“
Großmutter! Großmutter! Großmutter!
Der Vogel schrie. Und etwas bewegt sich im Dickicht.