Satt und zufrieden lehnte sich die Alte in den Kissen ihres himmlisch weichen Bettes zurück, während ihr Enkelkind im Magen noch ein wenig zappelte, sich dann allmählich beruhigte, sodass Rotkäppchen sich entspannen und einschlafen konnte.
– Doch nicht lange. Es erschien ihr
wie eine Sekunde
eine Sekunde bloß…
Bis etwas an ihrem Bauch schmerzhaft riss und zerrte. Sie verdrängte es, schlief weiter
eine Sekunde bloß…
Stiche. Nun stach und ziepte es ganz entsetzlich an ihrem Unterleib. Aber sie wollte nicht in Schmerzen erwachen und hielt die Augen fest verschlossen.
Der Schmerz verschwand wieder. Nun hörte Rotkäppchen Stimmen in der Ferne. Ein Mann. Eine Frau – zwei vielleicht, eine alte und eine junge. Dann ein Kind.
Langsam schälte sich Rotkäppchen aus den Wirren ihrer Traumwelt, fühlte sich schrecklich schwer, vor allem am Bauch. Stöhnend setzte sie sich im Bett auf, öffnete die Augen. Was sie sah, erfüllte sie mit einem solchen Zorn, dass sie aus den Kissen sprang und wie eine Wilde schrie – oder heulte – wie ein wütender Wolf keifend die Zähne fletschte. Das Kind stand dort, über und über von klebrigen Verdauungssäften bedeckt, neben ihm ein Jäger, eine alte Frau und die Mutter des Kindes.
Rotkäppchen zögerte, als ihr Blick auf die Mutter fiel, doch es war zu spät, um anzuhalten. Schwere Steinbrocken in ihrem Magen schlugen aneinander, sodass ihr schwarz vor Augen wurde, sie taumelte und schreiend zu Boden stürzte, den Blick nur auf die Mutter gerichtet.
Ihre Mutter. Das war ihre Mutter!
Bitte, Mutter, erkennst du mich denn nicht?
Der Jäger richtete sein Gewehr auf die sich in scheinbar unerträglichen Schmerzen am Boden windende, klagend-schreiende, weinende Kreatur.
Ich bin es doch! Dein Rotkäppchen!
Tränen standen auch in den Augen der Mutter, doch sie erkannte ihr Kind nicht. „So schießen Sie doch endlich“, bat sie den Jäger und zog das kleine, schleimnasse Mädchen an sich. „Erschießen Sie doch dieses Ungeheuer, gewähren sie ihm Gnade!“
Rotkäppchen sah, wie der Lauf des Gewehrs sich auf ihren Kopf richtete.
Ein Schuss ertönte und die Gestalt am Boden, in Wahrheit weder Alte noch Kind noch Wolf, hörte auf zu zucken. Aus der geöffneten Schnauze entwich unterdessen ein unförmiger Schatten und huschte vor den Augen der Anwesenden als geisterhafter Schemen in den Wald.
Das kleine Kind – das nicht Rotkäppchen war – nahm die Hand der Frau, die nicht seine Mutter war, und tat unschuldig. Nur als es zusammen mit der Großmutter, der Mutter und dem Jäger das Haus verließ, warf es noch einen kurzen Blick auf den Kadaver im Haus der Alten zurück. Auf seinem Mund spielte, kaum merklich, ganz leicht nur, ein unheimliches Lächeln. Seine schwarzen Augen blitzten und irgendwo in der Ferne vernahmen seine gespitzten Ohren die Schreie eines verzweifelten Vogels.
Rotkäppchen!
…
Rotkäppchen!
…
Rotkäppchen!