Rotkäppchen blickte zurück, in die Richtung, in der sie den Weg vermutete, doch sie hatte ihn aus den Augen verloren. Äste knackten im Wald und plötzlich sah sie einen Schatten dicht hinter der Grenze entlangschleichen, hörte gleich darauf eine vertraute Stimme zu ihr sprechen.
„Schöne Frau, hast du dich verlaufen? Hab keine Angst, ich bin es nur. Der Wolf.“
„Wolf? Oh, Wolf, bin ich froh, dass du da bist! Ja, ich habe mich ganz schrecklich verlaufen! Die Wiese ist so groß, dass ich den Weg aus dem Blick verloren habe.“
„Armes Ding…“
„Warst du bei der Großmutter? Geht es ihr gut?“
„Sie hat sich Sorgen gemacht, wo du bleibst. Aber nun weiß sie Bescheid und du kannst so lange fortbleiben, wie es dir gefällt.“
„Ich will aber nicht länger hier herumirren. Bitte zeig mir doch, wo der Weg ist, lieber Wolf.“ Sie konnte ihn noch immer nicht richtig hinter den Bäumen erkennen, sah bloß seinen großen, dunklen Schatten.
„Der kürzeste Weg zu ihrem Haus führt nun durch den Wald. Komm her, ich zeige ihn dir. Ich bin ihn schon tausend Mal gelaufen.“
„Aber ich will nicht in den Wald. Er ist dunkel und unheimlich. Ich will auf den schönen Weg zurück!“
„Das ist nicht klug, meine Liebe. Die Mittagssonne brennt nun heiß auf den Sand des Weges herunter. Und um den Weg herum gibt es keine Bäume, die dir Schatten spenden können. Was meinst du, warum die Mutter dich so früh am Morgen losschickte? Sie würde es gutheißen, wenn du dich nicht durch die Hitze quälst und am Ende noch zusammenbrichst. Sieh stattdessen, wie schattig und kühl es hier im Wald ist. Ich mag den Wald, und du wirst ihn auch mögen, glaub mir. Riech, wie herrlich es nach Tannen duftet. Der Boden ist wunderbar weich. Und es ist ruhig. So wunderbar ruhig hier…“
Die junge Frau blickte ins Dunkle und roch die Tannen, setzte behutsam einen Fuß über die Schwelle des Waldes, spürte den weichen Boden aus Nadeln und als sie schließlich hinübertrat, wurde sie von der vollkommenen Stille überrascht, die sie zusammen mit der kühlen, feuchten Luft umfing. Fast schien es, als betrete sie eine andere Welt.
„Wo bist du, Wolf? Ich kann dich nicht sehen.“
„Hier, nimm meine Pfote“, sagte die tiefe, weiche Stimme und etwas Warmes, Felliges berührte ihre Hand. „Ich bringe dich zum Haus der Großmutter.“
„Was, wenn ich dort gar nicht mehr hin will?“
„Warum denn nicht? War es denn nicht immer schön bei ihr, als du noch klein warst?“
„Doch, es war sehr schön. Aber die Erinnerungen sind verzerrt. Was, wenn die Großmutter nun ganz anders ist als früher? Wenn sie es nicht gutheißt, dass ich den Weg so lange verlassen habe?“
„Sollten wir nicht gerade deshalb nachsehen, ob es der Großmutter gut geht? Du sagtest, ihr Herz sei krank. So viel Aufregung verträgt sie sicher nicht. Komm mit mir, wir wollen sie beruhigen.“
„Oh Wolf… Du hast ja recht… Ich will nicht zu ihrem Haus, aber… Nun, da du es sagst, weiß ich, dass ich muss. Ich muss nach ihr sehen.“ Sie drückte seine Pfote fester. „Aber bitte, versprich mir, dass du bei mir bleibst, Wolf.“
„Das werde ich“, sagte er warm und beruhigend. „Das werde ich immer.“
Und so liefen Frau und Wolf gemeinsam durch den Wald – er stützte sie, hielt sie sehr fest und mit der Zeit passten sich die Bewegungen der beiden Gestalten im Schatten so aneinander an, dass sie – zumindest im Geiste – zu einer einzigen Gestalt zu werden schienen.
Der Boden fühlte sich unter Rotkäppchens Füßen weich, doch uneben an. Wieder und wieder trat sie in Löcher, stolperte und wankte. Die Blumen, die sie sich zuerst noch unter den freien Arm geklemmt hatte, fielen ihr eine nach der anderen herunter, bis keine von ihnen mehr übrigblieb.
Den ganzen Weg über musste sie tiefhängenden Ästen ausweichen, sich ducken bis ihr Rücken schmerzte und sie es nicht mehr schaffte, sich aufrecht zu halten. Der Wolf stützte sie sanft und liebevoll, sie spürte sein weiches Fell an ihren Wangen und klammerte sich an ihn. Ihren eigenen Halt hatte sie längst verloren.
Schließlich, endlich, nach viel zu langer Zeit lichtete sich der Wald und sie kamen an das Haus ihrer alten Großmutter. Zu ihrer Erleichterung fanden sie es nicht heruntergekommen vor, sondern unversehrt und einladend, ganz wie sie es in Erinnerung hatte.
Freudig warf sie einen Blick auf den Wolf an ihrer Seite – und erschrak: Er sah zwar aus wie früher, war auch eindeutig derselbe, aber sein Fell schien nun glanzlos und zerfleddert, seine Ohren hingen müde herunter von den vielen Geräuschen, die sie hatten hören müssen, seine Augen blickten leer und müde und als er nach der langen Zeit im Wald zum ersten Mal wieder sprach, klang seine Stimme heiser und erschöpft: „Hier sind wir nun, meine Liebe. Bitte, klopf doch an. Ich bin sicher, deine Großmutter ist zuhause. Sieh, aus dem Schornstein steigt Rauch auf.“
„Aber ich habe keine Blumen und keinen Korb mit Geschenken mehr für sie.“ Rotkäppchen hustete.
„Sorge dich nicht darum. Sie wird es schon verstehen.“
Also klopfte Rotkäppchen an die Tür. Drinnen schleifte ein Stuhl langsam über den Boden, als erhebe sich jemand unter großen Anstrengungen. Dann näherten sich schlurfende Schritte der Tür, die endlich auch geöffnet wurde.
Käppchen wollte sich aufrichten, doch ihr Rücken sperrte sich dagegen, und so stand sie plötzlich Auge in Auge mit einer alten Dame mit großen, schlaffen Ohren, dem leblosen Blick einer Sterbenden und hörte ihre eigene heisere Stimme fragen: „Rotkäppchen?“
Ihr Herz schlug wild – es war so schrecklich schwach und schmerzte. Die alte Frau sog verzweifelt die Luft ein, starrte sich an, erzitterte unter der Erkenntnis – der Konfrontation mit ihrem Ebenbild.
Unter einem gequälten Seufzer brach sie zusammen.
Als Rotkäppchen erwachte, lag sie in dem großen, weichen Bett ihrer Großmutter. Was hatte sie geweckt? Ein Klopfen an der Tür. Wo versteckte sich der Wolf, konnte er nicht für sie öffnen? Sie fühlte sich so schwach…
Doch von dem Wolf fehlte jede Spur.
„Wer ist da?“, krächzte sie also mit der heiseren Stimme der alten Frau, die sie nun war.
„Ich bin es, Großmutter – dein liebes Rotkäppchen!“, tönte ein zartes Stimmchen von draußen.
Das Herz der alten Frau begann wild zu klopfen. Draußen zwitscherte ein Vogel eifrig immer und immer wieder dieselbe Tonfolge.
Großmutter! Großmutter! Großmutter!
„Komm herein, mein Kind. Ich bin krank und liege im Bett, aber die Tür ist offen.“
Langsam, vorsichtig drückten zarte Kinderhände die Tür auf und ein Kopf schob sich herein. Ein kleines Mädchen, das einen Korb bei sich trug und schüchtern in die Stube spähte.
„Komm näher, Rotkäppchen“, flüsterte die alte Frau mit ihrer heiseren Stimme. „Meine Augen sind alt und schwach, sodass ich dich von hier aus kaum sehen kann.“
Das Kind stellte den Korb (Rotkäppchens Korb!) neben der Tür ab und tapste brav zum Bett der alten Frau herüber, kam ganz nah zu ihr heran.
„Großmutter“, flüsterte es schließlich ehrfürchtig. „Warum hast du so große Ohren?“
Rotkäppchen knurrte leise. Was wagte es dieses kleine Kind, sie zu verurteilen? Die Ohren wuchsen mit dem Alter nun mal weiter, wurden größer und irgendwann verwandelten sie sich in merkwürdige, hässliche Lappen, die wie unförmige Fleischfetzen an den Köpfen älterer Menschen hingen. So war das eben.
„Damit ich dich besser hören kann“, bellte die schwerhörige alte Frau erbost.
Das Kind wollte ängstlich zurückweichen, doch da schossen die Arme der Alten blitzschnell unter der Decke hervor, packten die Kleine bei den dicken, speckigen Kinderarmen und zogen sie näher zu sich heran.
„Großmutter“, winselte das verängstigte Kind. „Warum hast du so große Augen?“
Waren sie so groß? Vielleicht wirkte es so, weil die Haut schlaff herunterbaumelte und die Ringe darunter sich tief und endgültig ins Gesicht gegraben hatten. Und dennoch – was erlaubte sich dieses kleine Gör? Seine eigenen, jungen Augen sahen vermutlich noch mit der Schärfe eines Adlers.
„Damit ich dich besser sehen kann“, grollte die Alte und brachte ihre riesigen Augen direkt vor die des Kindes, das Rotkäppchen angstvoll ins Gesicht starrte.
„Gro- Großmutter“, schluchzte es unter Tränen. „Warum hast du so einen großen Mund?“
Eine dumme Frage – warum fragte die Kleine nicht zur Abwechslung mal nach der Nase der Alten? Die schien nämlich in diesen Sekunden besonders gut riechen zu können. Rotkäppchen schnupperte und roch Schweiß, den Gestank nach Angst und gutes… frisches… junges Fleisch…
„Damit ich dich besser fressen kann!“ Mit einem gierigen Knurren packte die Alte das zappelnde Kind, zog es zu sich auf das Bett und klappte den Mund weit, weit auf. Ihre Lefzen legten sich um den Kinderkopf, glitten an ihm hinunter, zum Kinn, zum Hals – schluck – zu den Schultern, zu den Armen – schluck – zu der Hüfte, zu den Beinen – schluck – ein Kind, ein ganzes, verspeist in einem Stück.