Harry stand mit erhobenen Zauberstab in Severus' Räumlichkeiten. Er hatte ihm ja versprochen er würde einen Dementor besorgen. Die mit Ketten gesicherte Kiste zuckte hin und her. Natürlich war das kein echter Dementor, sondern ein Irrwicht. Lupins Irrwicht. Der Irrwicht, dem Harry vor Wochen hatte nicht entgegentreten dürfen. Nun hatte er die Gelegenheit, auch wenn die Übung dieses Mal eine andere war.
Die letzten Wochen hatte er mit Severus den Patronuszauber trainiert. Nun würde er ihn das erste Mal in der Gegenwart eines fast echten Dementors wirken müssen.
„Denk an das, was wir geübt haben.“, sagte Severus. „Also dann. Eins – zwei – drei!“
Mit einem Schwenk seines Zauberstabs löste er die Ketten und der Deckel der Kiste sprang auf. Dem Inneren entstieg ein Dementor, der Harry sofort einen Schauer über den Rücken jagte. Er spürte die eisige Kälte, die er ausstrahlte und wie benommen er sich fühlte. Harry bemühte sich an sein glücklichstes Erlebnis zu denken.
„Expecto … Expecto Patro … Expecto Patronum!“
Der Dementor schwebte auf ihn zu. Die verrotteten Hände erhoben. Harry wollte widerstehen, doch alles um ihn herum verschwamm. Wieder hörte er diesen markdurchdringenden Schrei. Den Schrei seiner Mutter und das widerliche Lachen Voldemorts als er sie ermordete. Harry fühlte wie seine Beine nachgaben und er ohnmächtig zu Boden sank. Als er die Augen wieder öffnete hockte Severus neben ihm und half ihm auf.
„Alles in Ordnung?“, fragte er und wickelte etwas aus einem Stück Papier. Es war Schokolade. Wie schon Lupin im Zug gab er ihm ein Stück. „Ich habe nicht erwartet, dass du es beim ersten Mal schaffst.“
„Ich habe Voldemort gehört. Er lachte während er meine Mutter umbrachte.“, sagte Harry matt und biss ein Stück seiner Schokolade ab.
„Du darfst dich auf keinen Fall auf das konzentrieren, was der Dementor dich zwingt zu sehen oder zu hören, Harry.“, ermahnte Severus ihn.
Harry erhob sich vom Boden und nickte. Er fühlte sich noch immer unsicher auf den Beinen.
„Noch einmal?“, fragte Severus.
„Ja.“, antwortete Harry und nahm seinen Zauberstab. Er musste an das denken, was sie wochenlang geübt hatten. Das Glück aus seiner Erinnerung musste ihn durchströmen, doch noch immer klang ihm Voldemorts Stimme im Ohr.
Severus ließ den Irrwicht frei.
„Expecto … Expec … Exp ...“
Die Kälte des Dementors schien ihm nun noch durchdringender. Der Schrei seiner Mutter und das Lachen Voldemorts noch lauter als je zuvor. Harrys Abwehr brach zusammen und er ging dieses Mal noch schneller zu Boden. Als er die Augen aufschlug lag er auf dem Sofa vor dem Kamin.
„Ich glaube, wir lassen es für heute.“, meinte Severus als er bemerkte, dass er wach war.
„Es tut mir leid.“, sagte Harry und setzte sich auf. „Ich höre immer ihren Schrei und Voldemorts Lachen! Dieses schreckliche Lachen!“
Severus setzte sich zu ihm und legte Harry den Arm um die Schulter. Erst öffnete er den Mund, doch dann schloss er ihn wieder. Stattdessen schwiegen sie und sahen in die Flammen.
„Vielleicht müssen wir es anders angehen.“, meinte Severus irgendwann.
„Wie?“, fragte Harry.
„Statt an etwas glückliches zu denken leerst du deinen Geist. Der Dementor hat dann vielleicht nichts, was er gegen dich benutzen kann.“, schlug Severus vor.
„Aber der Patronus nährt sich doch vom Glück, oder?“
„Nicht zwangsläufig. Der Patronus muss stabil bleiben damit der Dementor nicht in deinen Geist dringen kann. Ein bisschen wie Okklumentik mit einem Avatar. Theoretisch ist es möglich.“, erklärte Severus.
„Woran denkst du, wenn du einen Patronus beschwörst?“, fragte Harry ihn.
Severus atmete tief. Er sah, dass es ihm unangenehm war.
„An deine Mutter.“, antwortete Severus dann aber doch. „Ich weiß, das hilft dir jetzt nicht.“
Harry wusste, dass er sie geliebt hatte und es tief in sich wohl noch immer tat. Er hatte verschiedene Glücksmomente gegen den Dementor ausprobiert. Zuerst seinen ersten Flug auf einem Besen, dann wie Hagrid zu ihm kam und ihm mitteilte er sei ein Zauberer. Damals hatte Harry sich unbeschreiblich gefühlt. Das es ihm noch nicht einmal etwas gegen diesen Irrwicht nützte bedrückte ihn. Wie viel musste man denn fühlen, um einen Dementor in die Flucht zu schlagen? Vielleicht hatte Severus recht und es war besser seinen Geist zu leeren statt zu versuchen sich irgendwelche glücklichen Augenblicke aus den Erinnerungen zu saugen.
„Also gut“, sagte Harry. „Ich will es noch einmal versuchen.“
Severus nickte. Sie erhoben sich vom Sofa und Harry nahm erneute seinen Zauberstab in die Hand. Er schloss die Augen und leerte seinen Kopf, ganz so wie sie es im Okklumentikunterricht geübt hatten. Dann nickte er Severus zu und dieser öffnete einmal mehr die Kiste. Der Dementor schwebte heraus.
„Expecto Patronum!“, rief Harry.
Aus der Spitze seines Zauberstabs quoll eine Art weißer Nebel, der sich zwischen ihm und dem Dementor ausbreitete. Harry spürte zwar noch immer die Kälte, die der Irrwicht imitierte, doch er hörte nicht den Schrei seiner Mutter oder das grässliche Lachen. Harry drängte den Dementor vor sich langsam zurück in die Kiste. Severus ließ den Deckel zufallen.
„Ha!“, rief sein Lehrer aus.
Harry strahlte. Er hatte es geschafft! Er hatte den Dementor nicht gewinnen lassen!
Severus sicherte die Kiste wieder mit den Ketten.
„Das war gut!“, sagte er.
„Ich habe meinen Geist geleert, genau wie du gesagt hast und es hat funktioniert!“, rief Harry. Er fühlte sich als könnte er Purzelbäume schlagen.
Es dauerte eine Weile bis er sich wieder beruhigte an diesem Nachmittag. Als Harry später in den Gemeinschaftsraum der Slytherins kam war er bester Laune. Er hüpfte über die Lehne des Couch vor dem Kamin, auf der Draco und ein Mädchen namens Pansy saßen.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Draco.
„Nichts. Ich fühle mich nur großartig!“, entgegnete Harry strahlend.
„Wieso das denn?“, wollte Draco wissen. Er musterte seinen Freund als fürchte er Harry habe sich irgendeine Kopfverletzung zugezogen.
„Ich habe meinen ersten Dementor verjagt! Du weißt doch, mit dem Patronus, den ich mit Severus geübt habe. Und es hat endlich funktioniert! Verdammt, ist das klasse! Hast du Lust auf Kuchen? Ich glaube, ich will jetzt Kuchen!“
Harry sprang auf und holte sich etwas Gebäck vom Tisch in der Mitte des Gemeinschaftsraums. Gerade als er dabei war sich ein großes Schokoladentörtchen in den Mund zu stopfen ertönte die magisch verstärkte Stimme des Schulleiters.
„Alle Schüler finden sich sofort in der Großen Halle ein!“
Stille. Die Slytherins sahen sich verdutzt an. Es musste etwas passiert sein, denn Dumbledore wandte sich in der Regel nie so direkt an die Schüler. Harry raffte noch ein paar Stück Kuchen zusammen und ging dann an der Seite von Draco und Pansy die Kerkerstufen hoch in Richtung Großer Halle.
Dort angekommen nahmen die Schüler an ihren jeweiligen Haustischen Platz. Dumbledore stand mit ernstem Gesicht vor ihnen.
„Es gab einen Vorfall.“, sagte der Schulleiter. „Sirius Black ist in die Schule eingedrungen und hat versucht sich Zugang zum Turm der Gryffindors zu verschaffen. Dabei wurde das Portrait der Fetten Dame beschädigt. Ich muss daher darauf bestehen, dass alle Schüler ausnahmslos hier bleiben, während die Schule durchsucht wird. Die Vertrauensschüler werden die Eingänge zur Halle bewachen.“
Erst herrschte Stille, doch dann brach ein lautes Gemurmel aus. Die Nachricht, dass Sirius Black in der Schule gesichtet worden war sorgte für aufgeregtes Getuschel.
„Aber wie ist er denn hier rein gekommen?“, fragte Pansy.
„Vermutlich hat er die Dementoren überlistet.“, mutmaßte Draco.
Harry nahm eines der Kuchenstücken und biss hinein. Er fühlte sich plötzlich verdammt hungrig.
„Verdammt, Potter, wie kannst du in so einer Situation nur ans Essen denken?“, regte Pansy sich auf.
Harry zuckte nur mit den Schultern. In den letzten Wochen hatte er die ganzen Geschichten über Black gehört. Das er der größte Anhänger Voldemorts war und es gab Gerüchte, dass er in Wirklichkeit auf Harry abgesehen hatte, weil er Voldemorts Werk vollenden wollte. Aber warum ging er dann zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors? Vielleicht wusste er nicht, dass Harry ein Slytherin war? Oder er war wirklich nur verrückt.
Die Durchsuchung der Schule dauerte bis zum nächsten Morgen und sie mussten in der Großen Halle übernachten. Dumbledore ließ die Tische zur Seite gleiten und beschwor mit seinem Zauberstab hunderte Schlafsäcke. Es war wirklich komisch auf dem Boden er Halle zu schlafen und in den sternenklaren Himmel an der Decke zu schauen. Fast als würden sie draußen campen.
Harry konnte kaum ein Auge zumachen. Woran nicht zuletzt der harte Steinboden der Halle schuld war. Am Morgen als sie endlich in ihre Häuser zurück geschickt wurden ließ er sich im Jungenschlafsaal in sein Bett fallen. Es dauerte nur wenige Minuten ehe er dann tatsächlich einschlief.
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Der Vorfall im Gryffindorturm beschäftigte die Lehrerschaft die ganze Nacht. Severus hielt die Durchsuchungsaktion ja für sinnlos. Black war offensichtlich so schnell gegangen wie er gekommen war. Allerdings nagte die Frage an Severus wie Black es an den Dementoren vorbei geschafft hatte. Es wäre absolut unmöglich gewesen, es sei denn natürlich jemand hatte ihm geholfen. Severus verschwendete seine Zeit jedoch nicht damit Dumbledore erneut ein Ohr wegen Lupin ab zu kauen. Der Schulleiter wollte schließlich nichts darüber hören. Lupin fehlte in der Nacht, doch das lag am Vollmond. Trotzdem machte sich Severus auf den Weg zum Quartier des Werwolfs. Sicher war schließlich sicher. Er klopfte. Nichts. Keine Antwort. Severus zog seinen Zauberstab und öffnete die Tür. Eigentlich wollte er schnell eintreten, doch er blieb auf der Schwelle stehen. Lupin lag nackt eingerollt auf dem Boden. Offenbar hatte er sich erst vor kurzem zurück verwandelt.
„Was willst du?“, fragte Lupin schwach. Er war noch nicht in der Lage selbstständig aufzustehen.
Zugegeben, ein Teil von Severus hatte nicht damit gerechnet ihn hier vorzufinden. Severus antwortete nichts, sondern schloss die Tür hinter sich. Mühsam quälte sich Lupin in eine sitzende Position. Er sah furchtbar aus. Mehr tot als lebendig. Seine Haut war fahl. Er hatte tiefe Augenringe und ehrlich gesagt wirkte er als würde er gleich in Ohnmacht fallen.
„Vermutlich hast du es nicht mitbekommen, aber Sirius Black war in der Schule.“, sagte Severus.
„Und jetzt verdächtigst du mich?“, entgegnete Lupin mit ungewöhnlich rauer Stimme. „Sieh mich an! Ich bin kaum in der Lage aufrecht zu sitzen, geschweige denn irgendjemanden ins Schloss zu lassen.“
„Wie kam er an den Dementoren vorbei?“, wollte Severus wissen.
„Woher soll ich das wissen?“, erwiderte Lupin und sah ihn an. „Dein Misstrauen ist schon regelrecht krankhaft, weißt du das?“
Severus knurrte etwas in sich hinein. Seine Paranoia hatte ihn jahrelang am Leben gehalten, so war das!
„Er hat versucht in den Gryffindorturm einzudringen.“, meinte Severus.
„Tja, was soll ich dazu sagen?“, entgegnete Lupin. „Statt mich zu verhören könntest du mir auch einfach mal aufhelfen. Ich komme nicht von alleine auf die Beine.“
Severus steckte den Zauberstab in die Innenseite seines Jacketts und trat zögerlich auf Lupin zu. Er half ihm auf und bugsierte ihn in einem der Sessel vor dem Kamin.
„Anziehen kannst du dich hoffentlich alleine.“, sagte Severus.
„Du bist ein richtiger Menschenfreund.“, entgegnete Lupin. Er stützte sich mit den Armen auf den Knien auf und hielt sich angestrengt den Kopf.
„Geht es Harry gut?“, wollte Lupin wissen.
„Er ist mit den anderen in der Großen Halle.“, antwortete Severus.
„Er weiß es nicht.“, sagte der Werwolf plötzlich. „Sirius. Er muss angenommen haben Harry wäre bei den Gryffindors, oder?“
„Zumindest wenn man dem Minister glauben schenkt.“, entgegnete Severus.
„Du glaubst nicht, dass er hier ist, um Harry zu töten?“, fragte Lupin.
„Dumbledore zweifelt daran.“, antwortete Severus.
„Und du?“
„Ich halte Sirius Black für einen Bastard. Trotzdem, er war nie ein Todesser, egal was die Öffentlichkeit denkt. Du kanntest ihn wesentlich besser als ich. Wenn er nicht wegen Harry den weiten Weg hierher auf sich genommen hat warum dann? Fällt dir da zufällig etwas ein?“
Lupin lachte nur hohl.
„Ich dachte, ich kenne ihn.“, sagte der Werwolf. „Aber nach zwölf Jahren in Askaban weiß ich nicht, was in seinem Kopf vorgeht.“
Das war wahr. Niemand konnte sagen, was Black vor hatte. Vielleicht war er auch einfach nur so wahnsinnig wie alle sagten. Severus machte keine Anstalten das Gespräch diesbezüglich weiter zu vertiefen und verließ Lupin.