Zugegeben, Severus war wütend auf Albus. Immer überließ er ihm die unangenehmen Aufgaben. Und Harry in alles einzuweihen, gerade da hätte er gern etwas Rückendeckung gehabt. Weil Dumbledore diese ihm nicht geben wollte oder konnte wandte er sich an den einzigen Menschen von dem er glaubte er könnte diese Funktion erfüllen: Minerva.
Als Severus an ihre Tür klopfte und diese sich wenig später öffnete erblickte er eine deutlich überraschte Minerva McGonnagal. Es war selten, dass er sie aufsuchte. Wenn überhaupt, dann nur, wenn die Kacke am Dampfen war und das war sie Severus' Meinung nach.
„Severus, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie nachdem er eingetreten war.
Minervas Räumlichkeiten im Gryffindorturm waren ähnlich geartet wie die Seinen. Ein Wohnraum mit Kamin, davor zwei Sessel, ein Tisch mit Stühlen und überquellende Regale. Hinzu kamen zwei abgetrennte Räume in denen sich Bad und Schlafzimmer befanden.
„Albus möchte, dass ich Harry in alles einweihe.“, kam Severus ohne Umschweife zur Sache.
„In Alles?“, fragte Minerva irritiert.
„In alles.“, antwortete Severus. „Der Schulleiter war natürlich so frei diese Aufgabe auf mich zu übertragen. Ich bin ehrlich, ich fühle mich dieser Sache allein nicht gewachsen.“
„Sie wollen meine Hilfe?“, schlussfolgerte Minerva.
„Ja.“, gab Severus zu.
Minerva schwieg für einige Augenblicke und schritt ein paar Mal in ihrem Wohnzimmer auf und ab.
„Was gedenken Sie zu tun?“, fragte sie ihn schließlich.
„Ich weiß es nicht.“, entgegnete Severus offen. „Diese ganze Sache überfordert mich.“
„Wegen Black?“, erwiderte Minerva.
„Wie soll ich Harry die Wahrheit sagen? Was er ist? Wofür er da ist? Weshalb er diese Verbindung zu Voldemort hat? Ich kann es nicht, Minerva. Ich kann es einfach nicht!“
„Ich verstehe Sie. Sie fühlen sich verantwortlich für den Jungen.“, entgegnete Minerva.
„Und Black? Würde er es verstehen? Wohl kaum!“, sagte Severus, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah zu Boden.
„Dann überlassen Sie Sirius mir. Auf mich wird er hören.“
„Glauben Sie das ernsthaft?“, fragte Severus zweifelnd.
„Wenn er mit Harry umgehen will, dann wird er es tun.“, antwortete sie. „Und ich helfe ihnen mit Harry.“
„Danke.“, erwiderte Severus leise.
Minerva legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn an. Severus hob seinen Blick.
„Wenn Sie es ihm beibringen wird er es verstehen. Albus hat recht, Severus. Sie müssen es ihm sagen. Ich kann Sie unterstützen, doch Sie müssen derjenige sein, der ihn einweiht, weil er Ihnen vertraut.“
Severus atmete tief. Im Grunde wusste er, dass sie Recht hatte. Leider, wie so oft.
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Am nächsten Tag, nach dem Unterricht, erwartete Severus den Jungen in seinen Räumlichkeiten. Minerva saß auf der Couch bei einer Tasse Ingwertee. Harry klopfte und trat ein. Sein Blick fixierte seine Verwandlungslehrerin, wanderte dann allerdings fragend zu Severus.
„Setz dich.“, bat Severus den Jungen. Zögerlich ließ sich dieser vor dem Kamin neben Minerva nieder. „Du hast mich neulich gefragt, ob du immer noch bei deinen Verwandten wohnen musst. Die Antwort auf diese Frage verlangt leider, dass ich, oder besser gesagt wir, etwas ausholen müssen.“
Severus ließ sich neben Harry nieder. Zu Dritt wurde es auf der Couch schon etwas eng, aber vielleicht war das auch gut so. Severus sah in die Flammen des Kamins, während er sprach.
„Es gibt keine einfache Antwort auf deine Fragen, Harry, und der Grund dafür liegt zwölf Jahre zurück. Als deine Mutter sich für dich opferte hat sie einen Schutz geschaffen. Unbewusste, mächtige Magie. Etwas, das Voldemort nicht vorausgesehen hatte als er sich auf dem Weg nach Godrics Hollow machte, um dich zu töten. Ihr Opfer hat einen Blutschutz erschaffen. Das Blut deiner Mutter, welches auch in dir fließt, sorgt dafür, dass Voldemort dich nicht körperlich berühren kann. Niemand weiß exakt, was in jener Nacht geschehen ist, aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit war es dieses Opfer, dass dafür sorgte, dass der Fluch auf Voldemort zurückprallte.“
„Wie eine Art Schutzschild?“, fragte Harry.
„Nicht ganz. Der Blutschutz gilt nicht allein für dich, sondern umfasst auch all jene, die sich das Blut mit deiner Mutter teilen. Wie du weißt ist Petunia Lilys Schwester.“
„Aber warum soll ich dann zu den Dursleys zurück? Du hast es doch selbst gesagt, ich habe den Blutschutz auch.“, antwortete Harry. „Außerdem war ich die letzten Ferien bei dir und da war Petunia schließlich auch nicht da!“
„Das stimmt. Die Sache ist folgende; deine Narbe hast du nicht umsonst. Sie ist eine direkte Verbindung zwischen dir und Voldemort. Deshalb konnte er dich kontrollieren und deshalb kannst du, wie er auch, mit Schlangen sprechen. Es ist nicht deine Schuld, Harry, aber wir müssen vorsichtig sein. Voldemort kann dich vielleicht nicht direkt angreifen, aber er kann deinen Geist für sich nutzen. In den Ferien war ich die ganze Zeit bei dir. Ich hätte es gemerkt, wenn Voldemort einen erneuten Versuch gestartet hätte dich zu benutzen. Wenn du jedoch allein bist, dann können wir dir nicht helfen. Ich weiß, dass du dir nichts mehr wünschst als von deinen Verwandten weg zu kommen.“
„Und wenn etwas passiert, während ich bei den Dursleys bin? Die würden mich eher verrecken lassen als etwas zu unternehmen!“, erwiderte Harry.
Severus spürte wie seine Argumentation langsam in Bedrängnis kam. Harry hatte vollkommen recht. Seine Verwandten würden keinen Finger rühren. Dumbledore setzte darauf, dass Petunia einen Rest an Anstand besaß und ihn informieren würde, doch ehrlich gesagt würde Severus nicht darauf wetten. Es gab im Grunde keinen einleuchtenden Grund, abgesehen von Petunias Blutschutz und auch der war mittlerweile fraglich. Sie hatten nicht umsonst die gute Misses Figg als Beobachtungsposten im direkten Umfeld der Durselys platziert. Weil selbst Dumbledore nicht so dumm war alles auf eine Karte zu setzen.
„Ein guter Einwurf, Mister Potter.“, meldete sich nun Minerva zu Wort. „Der Blutschutz ist jedoch nur ein Faktor von vielen.“
„Der Blutschutz verhindert lediglich, dass Voldemort dich direkt angreifen kann. Deshalb schickte er Mittelsmänner. Erst Quirell, dann das Tagebuch von Tom Riddle. Seine wahre Stärke jedoch lag immer in seiner Kunst zu manipulieren. Du hast es selbst erlebt, wie er durch die Verbindung deiner Narbe Zugriff auf dich hatte. Das kann immer wieder passieren.“, sagte Severus.
„Deshalb die Okklumentik.“, schloss Harry.
„Ja.“, antwortete Severus. „Das ist aber nicht alles. Es gibt gewisse Dinge, die wir dir nicht erzählt haben. Auf Dumbledores Anweisung im übrigen.“
„Was noch?“, wollte Harry wissen.
Severus tauschte einen Blick mit Minerva. Diese nickte ihm zustimmend zu und er räusperte sich.
„Als Voldemort deine Eltern tötete, da hat er etwas erschaffen, wenn auch vermutlich unbeabsichtigt. Voldemort ist nicht unsterblich, wie manche glauben, sondern er überlebte, weil er Etwas sein eigen nannte, was man Horcrux nennt. Schwarze Magie. Man spaltet einen Teil seiner eigenen Seele ab und versteckt es in einem Objekt. So kann man im Fall des eigenen, körperichen Todes weiterleben, wenn auch nicht unbedingt in einer Form wie wir Menschen sie kennen. Allerdings war niemanden bewusst, dass man es auch mit einem lebendigen Wesen tun kann. Du, Harry, bist ein Horcrux. Ein Teil von Voldemorts Seele hat sich an dich gehangen im Augenblick seines Todes. Deshalb hast du diese Narbe. Deshalb kannst du mit Schlangen sprechen. Deshalb ist es scheinbar so leicht für ihn auf dich zuzugreifen.“, erklärte Severus, der nur sah wie dem Jungen nach und nach die Gesichtszüge entglitten.
Stille. Eine lange, unangenehme Stille. Severus hätte am Liebsten die Augen zugekniffen, denn er erwartete einen Knall, eine Ohrfeige. Etwas in der Art.
„Wie viele dieser Dinger … dieser Horcruxe hat Voldemort erschaffen? Kann man sie vernichten? Und heißt das nicht, dass ich auch sterben muss? Irgendwann?“, fragte Harry jedoch nur ganz sachlich.
„Wir wissen nicht genau wie viele er schuf und wo oder in was sie versteckt sind. Die Theorie besagt, dass vernichtet man die Horcruxe Voldemort wieder zu einem herkömmlichen Sterblichen wird. Geht man diesen Gedanken weiter, dann ja, dann könnte das bedeuten, dass du sterben musst, aber und das ist ein großes Aber: Ich werde es nicht so weit kommen lassen!“, entgegnete Severus.
„Nun, wir wissen noch nicht einmal, ob Voldemort überhaupt weiß, dass er Sie zu einem Horcrux gemacht hat. Wie Severus schon sagte: Es war vermutlich unbeabsichtigt. Ein Unfall, wenn man so will.“, schaltete Minerva sich ein. „Wir werden in dieser Hinsicht nichts überstürzen.“
„Und Sirius?“, fragte Harry. „Weiß er davon?“
Wieder tauschten Severus und Minerva nervöse Blicke.
„Wohl kaum.“, sagte Severus schließlich. „Er hat die letzten zwölf Jahre in Askaban verbracht. Keiner glaubte ernsthaft an seine Unschuld. Der Kontakt zur Außenwelt war beschränkt. Pettigrew hat er nur gefunden, weil er ihn auf dem Foto wiedererkannt hat. Also nein, du wirst es ihm irgendwie beibringen müssen. Falls er das für dich sein will, was er behauptet, dann wird er es verstehen. Wenn nicht … nun ja ...“
„Was Severus damit sagen will ist, dass es dir frei steht zu Sirius zu gehen, wenn dir danach ist. Doch die Entscheidung deine Verwandten im Ligusterweg zu verlassen sollte gut überlegt sein.“, meldete sich Minerva.
„Da gibt es nichts zu überlegen!“, schoss es aus Harry heraus.
„Aber …!“, wollte Severus einwenden.
„Alles ist besser als das Leben bei den Dursleys!“, legte Harry nach. „Falls mich also kein seltsamer Zauber daran hindert zu gehen, dann werde ich gehen!“
Severus saß da, mit offenen Mund. Die Widerworte, die ihm auf der Zunge lagen, wollten ihm einfach nicht über die Lippen gehen. Ja, er konnte es verstehen. Auf der anderen Seite wollte er nicht daran denken wie es wäre, wenn Harry ausgerechnet bei Black einzog.
„Ich weiß, was du von Sirius hältst.“, fügte Harry hinzu. „Ich kann es auch verstehen. Aber Sirius ist der letzte Rest meiner Familie, meiner echten Familie!“
Severus nickte nur steif. Er hatte ja irgendwie mit so einem Ergebnis gerechnet.
„Mach dir keine Sorgen um mich.“, erwiderte Harry. „Vielleicht, na ja, tut es ja auch euch beiden gut. Ich will nur, dass ihr aufhört euch zu prügeln.“
Severus konnte nichts versprechen.
„Für einen Dreizehnjährigen ist das ziemlich durchdacht.“, sagte Minerva.
Severus rollte jedoch nur mit den Augen. Die Aussicht darauf ab jetzt mit Sirius Black in irgendeiner Form zivilisiert umgehen zu müssen bereitete ihm jetzt schon Alpträume.