Rating: P16 [TW: Suizidgedanken, Depressionen, Erwähnung von Kindestod]
Nach dem Prompt „Lily Rodriguezs Schnabelkröte“ der Gruppe „Crikey!“
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Die großen Bäume beugten sich dem dicht strömenden Regen schwermütig wie alte Männer, die sich vor einem Trauerzug verneigten. Karim ließ den Blick müde über die unruhigen Hügel wandern, die Büsche, die sich von den Tropfen prügeln ließen, ihnen nichts entgegenzusetzen hatten. Der Regen bildete Sturzbäche zwischen den moosbesetzten Steinen, die bereit schienen, sich dem Erdreich zu überantworten.
Karim hatte die vertrauten Wege verlassen, um die Einsamkeit des Waldes zu genießen. Doch statt der ersehnten Ruhe hörte er überall die Kröten quaken. Der Regen hatte ihn überrascht, doch er gab sich nicht die Mühe, Schutz zu suchen.
Sollte er sich doch erkälten! Sollte er doch daran zugrunde gehen! Seit dem Tod seiner Frau sah Karim keinen Sinn mehr im Leben. Jeder Schritt schien für den Zwerg ein unendlicher Kraftakt.
Mit seiner geliebten Melia war auch das wachsende Leben in ihrem Bauch gestorben. Nach Jahren des Probierens war sie endlich schwanger geworden, nur um daran zugrunde zu gehen. An ihrem großen Traum, ihrem gemeinsamen Wunsch.
Karims Arzt hatte ihm gerate, mehr Spaziergänge zu unternehmen. Das wäre gesund, nachdem er seine Arbeit als Laternenanzünder verloren hatte und nur noch zuhause zu sitzen. Die Natur sollte ihn ablenken. Aber hier, in den südlichen Wäldern, war er bloß allein mit seinen Gedanken und der schmerzlichen Frage, wofür er überhaupt noch lebte.
⁂
Jarev rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Tropfen, so groß wie sein Kopf, schlugen neben ihm auf dem Waldboden ein. Doch er hatte die Deckung der dichten Gräser verlassen müssen, als er die Kröte in der Schlinge gesehen hatte.
Eines der grauen Tiere mit dem länglichen Gesicht hatte sich in langen Gräsern verheddert, als es eine Abkürzung zum Teich hatte nehmen wollen. Jetzt hing die riesige Kröte bauch zuoberst über den Steinen und die Gräser drohten, ihr das Bein abzuschnüren. Entgegen seines besseren Wissens hatte Jarev die Deckung neben seiner Reitlibelle verlassen und sich in den tödlichen Regen hinausgewagt.
Über tropfnasse Grashalme kletterte er nach oben. Seine vier Hände tauchten bis zu den Gelenken in das Wasser, das über die Halme rann. Mit vor Panik rasendem Herzen kletterte er weiter und betete, dass kein Tropfen auf ihn fallen würde.
Das wäre sein Ende!
Durch irgendein Wunder erreichte er die zappelnde Kröte und zückte die Ameisenzange, die ihm als Messer diente. Rasch hebelte er das Seil durch und die Schnabelkröte fiel.
Erleichtert atmete der Feenmann durch.
Ein dicker Tropfen fiel auf den Halm, auf dem er balancierte, und schleuderte ihn in die Luft. Jarev schrie auf, als er quer durch den Wald katapultiert wurde - direkt auf den Teich zu, in den die Kröte wollte, und unter dessen Wasseroberfläche garantiert hungrige Fische lauerten. Jarev wedelte panisch mit Händen und Füßen, auf der Suche nach Halt, den er nicht finden würde.
"Neeeiiin!"
⁂
Mit einem Hechtsprung war Karim über dem Bach und streckte die Hand aus. Im letzten Moment erwischte er das zappelnde Etwas, mit dem Geschick eines viel jüngeren Zwergs, der er früher gewesen war. Dieser Junge, der Frösche und Eidechsen und Heuschrecken zum Spaß gefangen hatte.
Nun beugte er sich überrascht über das, was er erwischt hatte. Ein kleiner Mensch? Er sah Arme und Beine, Kleidung in Braun- und Grüntönen. Die Kröte hatte ihn aufmerksam gemacht, die ein Stück nach unten gefallen war, und dann hatte er dieses Wesen gesehen ...
Die kleine Person rappelte sich auf und warf ihm einen erschrockenen Blick zu. Fast instinktiv streckte Karim die Hand zum Land. Der kleine Mensch sprang von seinen Fingern und war im nächsten Moment zwischen der Vegetation verschwunden.
Karim stand da und blinzelte. Was war überhaupt geschehen? Konnte er seinem Gedächtnis, seiner Erinnerung vertrauen? Oder hatte er sich das eingebildet und es war bloß ein merkwürdiger Käfer gewesen?
Jetzt war das ... was auch immer es gewesen war ... fort. Er hatte es freigelassen, wie er auch jeden Frosch früher freigelassen hatte. Aber als Kind hatte er sie wenigstens einen Moment festgehalten und angesehen.
Nachdenklich richtete er sich auf. Was war eigentlich aus diesem neugierigen Zwergenjungen geworden, diesem geschickten Insektenfänger? Ob er das nochmal könnte - weitere Tiere fangen? Er hatte mal davon geträumt, neue Arten zu entdecken, und sicher irgendwo noch seine penibel geführten Hefte mit Zeichnungen seiner Funde.
Hatte nicht jemand erzählt, dass sie bei den Forschern immer Feldarbeiter suchten, die einfach nur die Zahl an heimischen Arten überprüften? Vielleicht wäre das eine Arbeit, bei der er sich bewerben könnte. Ein Schritt zu einem neuen Lebenssinn.
Ohne es zu merken, hatte sich etwas in ihm verändert. Vielleicht hatte sein Arzt mit diesem Rat doch recht gehabt.