Nachdem er sich einen roten Koffeindrink bereitgestellt hatte, den er besonders gern trank, gerade bei solch leseintensiven Nachtschichten wie heute, setzte er sich in den Cortexsitz. Der Terminal hing von der vier Meter hohen Decke herab und war mit vier Touchscreen-Hypervisuals, also den neuesten interaktiven Bildschirmen versehen. Etliche Kabelstränge und Haltestangen mit schwarzen Chromabdeckungen verliefen, wie eine bröckelige Marmorsäule hinter den Bildschirmen und wurden von einem schwarzen Loch in der Decke verschluckt. Jedes mal, wenn Undall sich vor seinem Terminal positionierte, verschanzte er sich regelrecht mit seinem Cortexsitz vor seinen Bildschirmen. So hatte er das Gefühl, dass die anderen im Raum ihn weniger beobachten und wahrnehmen konnten. Dem war nicht so, aber es fühlte sich so an und das reichte Undall, um arbeiten zu können. Besser gefühlte Sicherheit, als gar keine Sicherheit. Mit einem Griff in seine Brusttasche stellte er noch einmal erleichtert fest, dass er vorab für genügend Upper Pillen gesorgt hatte. Die würden ihn zur Not wieder auf Touren bringen, wenn die Zeilen vor ihm nur noch verschwammen, was durchaus passieren könnte. An diese ätzenden Nachtschichten konnte und wollte sich doch niemand wirklich gewöhnen. Auch keiner seiner Arbeitskollegen. Er bildete da keine Ausnahme. Andererseits musste er auch an sein Ziel denken. Nur noch 25 Schichten durchhalten, dann wäre er das Thema für ein Jahr los und würde obendrein einen ganzen Batzen Credits dabei verdient haben. Das reichte als Motivation dann doch aus.
Er nickte mehr zu sich selbst, als zu irgendjemand anderen, der vielen Nachteulen, die sich ebenfalls in ihrer Nachtschicht im Großraumbüro befanden. Seine Abteilung war dafür zuständig, dass alle Berichte aller anderen Abteilungen der Timurai Cooperatio gesammelt, analysiert, aufbereitet, archiviert und gegebenenfalls auch frisiert werden, um mögliche Imageschäden von der Cooperatio fernzuhalten. Selbst deutlich kleinere B-Rating Konzerne hatten für alle Fälle solche Abteilungen. Das mussten sie auch, weil so viele Credits auf dem Spiel standen. Und Timurai, nun ja, sagen wir mal so, war ein AAA-Konzern der Extraklasse mit fast zwei Milliarden Angestellten. Inoffiziell war ihre Abteilung sprichwörtlich, wie das schwarze Loch in der Decke über ihm, das alles Problematische einfach, wie die Kabelstränge und Panele verschlang und für immer im schwarzen Meer der Vergessenheit vergrub. Seine Jobbeschreibung würde sich irgendwo zwischen Marketing, Public Relations und offiziell unnötig bewegen. Seine Stelle wurde natürlich nie öffentlich ausgeschrieben. Nein, an diesen speziellen Job kam er durch interne Verbindungen und durch sein söldnerhaftes Auftreten, mit dem er sich bereits jahrzehnte durch sein Leben gemogelt hatte. Mit seinem flexiblem Gewissen, seiner Verschwiegenheit und seinem Spürsinn, war er genau der Richtige hierfür. Und, so rechnete er sich zumindest aus, in vier bis fünf Jahren würde er die Abteilung leiten. So einfach war die Welt. Seine Welt.
Er selber war der größte Friseur des ganzen Arbeitskollektivs, das wollte er auch gar nicht beschönigen. Keiner wusste darüber Bescheid, außer seine Vorgesetzten, die dies in regelmäßiger Häufigkeit zu ihrem Vorteil ausnutzten. Und er ließ sich ausnutzen, denn er war schlichtweg ein Opportunist ohne Gewissen. Irgendwann würden sich seine Söldnertätigkeiten innerhalb des Konzerns auszahlen und bis dahin spielte er den fleißigen Soldaten, der ohne Gewissensbisse alle Befehle zur vollen Zufriedenheit ausführte. Als die Einlog-Protokolle seines Terminals abgeschlossen waren und seine Identität und die damit verbundene Sicherheitsfreigabe autorisiert wurden, begann die Suche nach den versteckten Hinweisen seiner Vorgesetzten. Zunächst sah es so aus, als würde das eine eher langweilige Schicht werden. Keine offensichtlichen Hinweise auf zu frisierende Skandal-Dokumente. Seine sämtlichen internen Memo-Kanäle und Mailsysteme waren leer. Obwohl er damit kaum rechnete, checkte er noch den geheimsten aller digitalen Aufbewahrungsplätze, die Cache-Lösch-Subroutine der Chefetage seines Arbeitskollektivs. Dort konnten nur geheime Anweisungen von ganz Oben enthalten sein, was so gut, wie nie vorkam. Denn selbstverständlich müssen die wichtigsten öffentlichen Gesichter der Cooperatio mit reinem Gewissen agieren können. Kein Makel sollte an Ihnen gefunden werden. Darum wäre es äußerst seltsam eine Anweisung von ganz Oben zu erhalten. Während er die Protokolle oberflächlich durchscrollte, überkam ihn ein lautes Gähnen mit anschließendem genüsslichen Schmatzen, als würde er sich gerade im Bett herumwälzen, dem er freien Lauf ließ. S`Tueto, der schneckenartige Melkorianer am Terminal neben ihm bedachte dies mit einem verächtlichen Lachen und den Worten: «Die Schicht fängt gerade erst an und Du schläfst schon ein? Hast Du Deine Vitaminpillen nicht dabei?« Als Antwort machte er eine Raute mit seinen Händen und hielt sie dem Melkorianer direkt ins Gesicht, was so viel bedeutete, wie LMAA. S´Tueto war ihm schon lange ein Dorn im Auge, weil er einfach immer wieder seine drei Nasen in Angelegenheiten steckte, die ihn nichts angingen. Da Melkorianer von Natur aus neugierig waren, gehörte S´Tueto auch nicht den internen Friseuren an, sondern ohne es zu Wissen den Drecksuchern. Also genau jenen Kontrolleuren, die er mit seinem Frisieren an der Nase oder an den Nasen in diesem Fall, herumführen sollte. Er wusste über dieses doppelte Kontrollspiel natürlich längst Bescheid. Bisher ist er noch nie beanstandet worden und das sollte gefälligst auch so bleiben. Von so einem Amateur, wie S´Tueto würde er auch nie erwischt werden. Der spielte nicht mal in seiner Liga.
Beim Klicken durch das Tagesarchiv, dass exakt eine Stunde nach Schichtbeginn automatisch und restlos gelöscht werden würde, dachte er über den Trottel neben ihm nach und wie er ihn am besten loswerden könnte. Ihm fiel sogar etwas ein. Der Typ aus der Systemadministration, der ihm hin und wieder Passwörter und Mails anderer Mitarbeiter zur Verfügung stellte, könnte ihm diesmal helfen dem Melkorianer eine unangemessene Mail unterzujubeln. Und schon wäre diese Nervensäge weg. Das Lächeln, dass sich auf seinem Gesicht ausbreitete, gefror jäh zu einer starren Maske, als er eine für ihn wahrnehmbare Nachricht samt verstecktem Textdokument entdeckte. Beim Öffnen startete eine weitere Firewall, die er allerdings zu überbrücken wusste. Danach kam etwas zum Vorschein, das ganz sicher nur von ganz Oben stammen konnte. Damit die Datei sich nicht gemäß ihrer Programmierung selbst zerstörte, kopierte er sie schnell in den Zwischenspeicherplatz, den er extra für solche Dateien angelegt hatte. Dort konnte er dann in Ruhe die Datei bearbeiten. Er setzte sich etwas aufrechter in seinen Terminalsitz. Räusperte sich und nahm einen Schluck aus seinem Koffeindrink zu sich, da sein Mund plötzlich ganz trocken wurde. Was auch immer in diesem Dokument stand, war von höchster Wichtigkeit für die Konzernführung und seine Mitarbeit an der Beschönigung würde dort zur Kenntnis genommen werden. Seine Chance war gekommen. Außerdem reizte ihn die Aussicht darauf, Geheimnisse der Chefetage zu erfahren. Vielleicht ging es ja um Massenvernichtungswaffen, die man geheimhalten wollte, oder einen tragischen Chemieunfall mit etlichen Toten, den man vertuschen wollte. Jetzt wurde er neugieriger, als jeder Melkorianer im Büro um ihn herum. So trocken sein Mund eben wurde, so feucht und schwitzig wurden nun seine Hände. Erwartungsvoll öffnete er die Datei. Der Titel klang irgendwie seltsam und unpassend. "Die Wesen von Anderswo" lautete die Überschrift. In den Metadaten war ein gewisser Krugan Gemek als Verfasser vermerkt. Er hatte nie von ihm gehört. Aber bei so vielen Mitarbeitern war das auch kein Wunder. Das Durchstöbern weiterer Verzeichnisse des Dokumentes erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Also konzentrierte er sich wieder auf den eigentlichen Text. Es schien, als wäre dies ein abgefangener Bericht des konzerneigenen Geheimdienstes, der offiziell natürlich gar nicht existierte. Des Weiteren stammte der Bericht von der Station G-HAN 89 im Nelepadillimon Cluster. Auch davon hatte er nie gehört. Es musste sich um eine Forschungsstation auf irgendeiner Inselsphäre handeln. Jetzt sah er doch nochmal ins Metaverzeichnis des Dokuments und machte einen erschreckenden Fund. Die Worte Situationes Extremis. Das bedeutete nichts anderes, als dass er dieses Dokument gar nicht frisieren durfte, sondern einfach löschen sollte, und zwar sofort, wenn ihm sein Leben lieb war. Der Schweiß ran ihm mittlerweile von der Stirn. Wie konnte der obersten Chefetage nur so ein Fehler unterlaufen. Wenn er so ein Dokument finden konnte, konnten das andere auch.
Unweigerlich musterte er S´Tueto neben sich, der seinen Blick nicht mal zu bemerken schien. Zwei Klicks und das Dokument würde wie geplant gelöscht werden und niemand würde je erfahren, dass er es geöffnet hatte. Irgendeine befremdliche Neugierde, die er an sich noch gar nicht kannte und die ihm auch gar nicht gefiel, verhinderte das allerdings. Vielleicht wollte jemand, dass er es las? Er sah sich nochmal verstohlen im Büro um, doch alle schienen mit ihren jeweiligen Terminals beschäftigt zu sein. Einfach Löschen drücken, dachte er sich, konnte sich aber nicht beherrschen. Er schluckte zweimal jeden Speichel herunter, den er noch im Mund hatte, dann startete er das Ausleseprogramm, das nötig war, um den Text übersichtlich in Krent, der allgemeinen Zeichensprache anzuzeigen, indem er auch ursprünglich verfasst wurde. Das wiederum sprach für eine menschliche Herkunft des Verfassers Krugan Gemek. Die ersten paar Zeilen überfliegend, schien es um eine Art Waffe zu gehen und eine Katastrophe, die sich scheinbar dort ereignet hatte. Er sah sich ein weiteres Mal im Raum um und überlegte krampfhaft, ob der Inhalt des Dokuments die Gefahr wert war, der er sich gerade aussetzte. Immerhin war der Raum voller Kontrolleure. Er schluckte ein weiteres Mal und begann zu lesen. Jetzt musste er es einfach wissen.
Dabei bemerkte er gar nicht, dass S´Tueto eine Art Vampirprogramm laufen hatte, das ihm die gespiegelte Oberfläche aller umliegenden Rechner in Kleinformat anzeigte. Der Melkorianer machte dem Klischee ganze Ehre und saugte neugierig jeden einzelnen Satz des geheimen Berichtes in sich auf. Als er einen bestimmten Namen las, war alles klar. Seine Chance war endlich gekommen, dachte er aufgeregt. Genau dafür hatte Gonrar ihn und seine Leute in die Abteilung eingeschleußt. Er lehnte sich zurück, las den Bericht parallel mit und wartete auf seinen großen Auftritt.