Die Nacht war hereingebrochen und Prinz Rowan lag in tiefem Schlummer. Remy hatte sich in sein eigenes Quartier zurückgezogen, um die letzte Nacht im Schloss nicht auf der kleinen Ottomane schlafen zu müssen, und über dem Palast lag das Schweigen. Einzig das Geräusch des Windes war zu hören, der feinen Nieselregen über das Schloss brachte. So bemerkte niemand die zierliche Frau, die durch die Gänge huschte und schließlich im Schutze der Dunkelheit leise die Tür zum Gemach des annwynischen Prinzen öffnete. Der schrak zusammen, als sie ihn sacht an der Schulter berührte und ansprach. Da es sehr finster war, wich er zurück.
»Königliche Hoheit, seid Ihr erwacht?«
»Wer ist da?«
»Aleera. Die erste Zofe Ihrer Majestät, der Königin. Ich muss Euch bitten, mir zu folgen.« Ein Zischen erklang und Rowan erkannte, dass die junge Frau ein Streichholz angerissen hatte. Er erkannte sie, doch das nahm ihm nicht das unangenehme Gefühl, nicht zu wissen, was sich hier abspielte.
»Welche Absicht kann die Königin verfolgen, die es nötig macht, dies mitten in der Nacht zu tun?«
»Eine, von der ihr Gemahl, der König, nichts wissen darf. Würdet Ihr mir folgen?«
Neugierig geworden, warf der Prinz die Decke zur Seite und schlüpfte in seine Hosen. Sich nur den Rock überwerfend, zeigte er der jungen Zofe, dass er bereit war. Was es auch war, die Königin würde ihm seine hemdsärmelige Aufmachung vergeben.
Stumm ging die junge Frau voran, huschte durch die Dunkelheit und Prinz Rowan blieb ihr auf den Fersen. Er kannte den Teil des Schlosses, in den die Zofe ihn führte, nicht und sein Unbehagen vermischte sich mit der Neugier.
»Hier hinein, Eure Hoheit. Ihre Majestät erwartet Euch«, flüsterte Aleera und öffnete die Tür, hinter der ein leichter Kerzenschein zu sehen war. Rowan nickte und betrat den Raum, der eine kleine private Bibliothek zu sein schien. Die Wände waren von Regalen verstellt, die voll waren mit Büchern, doch fehlte dem Raum das Herbe, das man bei einer Schlossbibliothek erwarten würde. Dominiert wurde er von einem Kamin und zwei Sesseln davor. Auf dem Sims brannte eine einsame Kerze und im Schein dieser konnte der Prinz die Königin sehen. Auch sie trug ein Nachthemd und einen dicken dunklen Morgenmantel darüber. Ihr langes Haar fiel ihr in einem geflochtenen Zopf über den Rücken.
»Eure Majestät, Ihr seht mich verwirrt«, sprach Rowan sie an und verneigte sich, als er vor ihr zum Stehen kam. Er sprach leise, denn diese ganze Situation hatte etwas Konspiratives.
»Das bedauere ich. Ich wollte Euch nicht erschrecken, doch leider ist es eine Angelegenheit, die ich unmöglich weniger geheimniskrämerisch bereden kann.«
»Eure Zofe sagte, es sei etwas, von dem Euer Gemahl nichts wissen dürfe?«
»Nichts Anstößiges.« Die Königin lächelte leicht und Rowan erwiderte es. »Ich gebe mich nicht der irrigen Annahme hin, ein Prinz Eures Alters hätte Interesse an diesen Dingen. Nein, es ist etwas Anderes.« Sie deutete Rowan, Platz zu nehmen. »Eines der Mädchen hat heute morgen einen Teil der Unterredung mit Eurem Diener aufgeschnappt, es einer meiner Zofen erzählt und die schließlich mir.«
»Das Personal weiß alles, ich vergesse das immer wieder«, gluckste der Prinz leise.
»Euer Wunsch, durch Trallien zu reisen, beschränkt sich nicht allein auf die Naturschönheiten, habe ich Recht?«
»Eure Majestät ...«
Die Königin hob die Hand und sah in die Flamme der Kerze. »Mein Gemahl ist ein harter Mann. Allein dieser Charakterzug von ihm hat zur Entstehung der hässlichsten Gerüchte geführt.«
»Also sind es in der Tat nur Gerüchte?«
»Ich kann es Euch nicht mit Gewissheit sagen. Das war vor meiner Zeit. Doch ich kenne meinen Gemahl. Und ich traue ihm die scheußlichsten Dinge zu.«
»Auch, dass er seine eigene Tochter hat verschwinden lassen, weil sie nur ein Mädchen war?«
»Eine Tochter ist für den König eine Schwachstelle in der Blutlinie. Ich danke den Göttern, dass ich ihm niemals eine geschenkt habe. Ich hätte mit der Schuld nicht leben können, das einem Kind angetan zu haben.« Die Königin wandte das Gesicht zu Rowan. »Ich weiß nicht, was mit dem Mädchen geschah. Doch ich fand dies, vor langer Zeit, verborgen in einem Raum wie diesem, wo sich Geheimnisse gut verstecken lassen. Vielleicht hilft es Euch auf der Suche nach der Wahrheit.« Sie zog ein lackiertes hölzernes Kästchen mit kostbaren Intarsien aus dem Ärmel ihres Morgenmantels. »Ich schätze, mein Gemahl hat es einst versteckt und dann vergessen. Ich fand den Schlüssel dafür zufällig. Er klebt jetzt unter dem Boden der Schatulle. Nehmt es, doch öffnet es erst, wenn Ihr weit vom Palast entfernt seid. Gebt Acht, dass es niemand findet, solange Ihr noch hier seid, verbergt es gut, sonst geht es uns womöglich beiden an den Kragen.«
Sie reichte Rowan das Kästchen, der es in den Händen drehte. Es war nicht schwer, als befände sich kaum etwas darin.
»Warum riskiert Ihr, Euch des Verrats am König schuldig zu machen?«
»Ich habe nicht besonders viel für ihn übrig«, antwortete die Königin nur. »Meine Vermählung mit ihm war eine Pflicht, nichts, was ich mir ausgesucht hätte. Ich war nur eine bessere Stute, um ihm die Söhne zu gebären, die er wollte. Und die, obgleich es meine eigenen Kinder sind, ich ebenso verabscheue. Doch verzeiht, Eure Hoheit. Ich möchte Euch nicht mit zu intimen Details einer jahrelangen Hassverbindung langweilen.«
»Das tut Ihr nicht. Ich empfinde Euer Vertrauen als große Ehre.«
»Dann geht nun zurück in Euer Gemach und denkt daran, die Schatulle gut zu verstecken. Reist ab, sobald der Morgen anbricht. Bringt Euren jungen Knappen von hier fort, bevor mein Gemahl einen Grund gefunden hat, ihn wegen Landesverrats in den Kerker zu werfen, weil er Euch dient und sucht Euer Abenteuer. Doch kehrt bald in Euer sicheres Annwyn zurück. Es wäre mir ein Gräuel, wenn Euch ein Leid geschähe.«
»Ihr seid zu gütig.« Rowan erhob sich und verneigte sich vor der Dame.
»Nein, ich sehe in Euch nur den Mann, von dem ich mir gewünscht hätte, einer meiner Söhne wäre ein solcher geworden. Und nun geht. Aleera wird Euch zurückbringen, damit Ihr Euch nicht verlauft.«
Der Prinz wünschte der Königin eine gute Nacht und verließ die kleine Lesestube wieder, ebenso leise, wie er sie betreten hatte. Ohne ein störendes Geräusch zu machen, kehrte Rowan unter der Führung der Zofe in seine Gemächer zurück, wo er, als er wieder allein war, eine Kerze entzündete und seinen Reisesack ausleerte. Er überblickte erneut die Utensilien und überlegte, wo ein winziges hölzernes Kistchen am wenigsten auffallen würde. Schließlich wickelte er es zusammen mit den Gewürz- und Salzdöschen fest in ein Tuch und verstaute es ganz unten, noch unter seiner Kleidung, der Reisedecke und den Feuersteinen. Die Neugier nagte an ihm, doch er nahm sich die Worte der Königin zu Herzen. Was hier in dieser Nacht geschehen war, war schlimmer, als wenn er mit ihr Ehebruch begangen hätte. Er hielt vielleicht ein Puzzleteil zum Geheimnis um die verschollene Prinzessin in den Händen, deren schiere Existenz, sollte sie tatsächlich noch leben, Thedosio als einen hinterlistigen verlogenen Schweinehund entlarven würde. Sein Ruf konnte beim trallischen Volk wahrscheinlich kaum schlechter werden, aber die umliegenden Königshäuser respektierten ihn. Ein womöglich schändliches Verbrechen seiner Tochter gegenüber würde ihn diesen Respekt kosten.
Am liebsten wäre Rowan sofort in die Gesindequartiere gegangen, um Remy zu wecken und das Schloss zu verlassen. Doch das würde Fragen aufwerfen und den Verdacht des Königs wecken können, dass etwas Unrechtes geschehen war. Das musste verhindert werden.
Während er so da saß und stumpf in die Flamme der Kerze starrte, wich die Neugier jedoch wieder der Müdigkeit und er löschte das Licht schließlich, fiel wieder in die Kissen und zog die Decke über seine Ohren. Der Morgen würde bald anbrechen und da würden Remy und er noch genug zu tun bekommen.
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»Prinz Rowan! Hey, Rowan!« Der junge Dieb packte die Schulter seines Herrn und musste ihn regelrecht schütteln, so tief schlief er. Brummend versuchte er, die störende Hand wegzuwischen und öffnete schließlich doch die Augen.
»Wasn?«
»Wie, wasn? Es ist sechs Uhr! Ihr wolltet so früh wie möglich aufbrechen. Es dämmert!«
Rowan sah an die Decke und brummte missmutig. Er fühlte sich zerschlagen.
»Was ist aus dem großen Frühaufsteher geworden?«
Der Prinz setzte sich auf und rieb sich mit den Händen über das Gesicht, während Remy ihm in der Schüssel frisches Wasser eingoss.
»Ihr seht beschissen aus. Schlecht geschlafen?«
»Nein, gar nicht.« Rowan erzählte Remy leise und knapp, was in der Nacht vorgefallen war und der Junge machte große Augen.
»Moment, der König sucht nach einem Grund, mich einzusperren?«
»War klar, dass du das hörst«, brummte Rowan mit einem Lächeln und erhob sich schließlich. Er streckte sich und murrte genüsslich, als sein Rücken knackte.
»Na, das betrifft ja auch mich. Wegen Eurem kleinen Verrat könnte er mich ja nicht belangen. Theoretisch ...«
»Niemand wird hier belangt. Wir brechen auf. Wir packen den Proviant zusammen, beladen die Pferde und reiten los, sobald wir noch einen Happen gefrühstückt haben. Also los. Hast du dein Zeug beisammen?«
Remy deutete auf seinen Reisesack. »Klar. Seit Ihr den gestern neu sortiert habt, liegt der doch hier.«
Rowan schüttelte den Kopf und grinste. Er war noch nicht ganz wach und hatte keine Ahnung, wie viel oder wenig Zeit seit dem nächtlichen Treffen vergangen war.
»Hoffen wir nur, dass es nicht regnet.«
»Ihr seid wirklich nicht wach, oder? Hört Ihr es nicht? Es nieselt.«
»Mist, ich hatte auf besseres Wetter gehofft.«
»Es klart sicher noch auf. Die Wolken sind nicht sehr dunkel.«
Remy wartete, bis Rowan seine Morgentoilette gemacht und sich das Gesicht gewaschen hatte. Neugierig betrachtete er das kleine Tiegelchen, das der Prinz jeden Morgen aus einem Seitenfach seines Reisesacks holte.
»Was ist das hier? Benutzt Ihr auch irgendwelche Cremes, um ‘schöner’ zu werden oder so?«
Rowan drehte sich herum, sich das Gesicht abtupfend. Er sah auf Remys Hand und lachte leise. »Nein. Das ist Zahnpulver.«
»Wie? Zermahlene Zähne oder wie? Wozu soll das gut sein?«
»Ach, du. Nein, hier«, der Prinz nahm es und den Deckel ab. »Hier, riech’ mal.«
Remy tat es zögerlich. »Minze?«
»Unter anderem. Es ist zum Zähneputzen da. Hält sie gesund.«
»Ich benutz’ dazu ein Bürstchen«, murmelte Remy und schnupperte erneut an dem kleinen Gefäß.
»Ich auch. Das Pulver reinigt zusätzlich den Mundraum, sorgt für sauberen Atem.«
»Das erklärt Eure weißen Zähne.« Der junge Dieb gab das Tiegelchen zurück.
»Willst du es? Ich hab noch eins dabei.«
»Wirklich?«
»Ja, eigentlich hatte ich eh vor, dir eines zu geben. Ich muss es vergessen haben. Du hast gute Zähne, hab ich gemerkt. Damit sorgst du dafür, dass es lange so bleibt.«
Remy nahm die kleine goldene Dose. »Und ... wenn es alle ist? Das ist doch sicher teuer ...«
»Nein, man kann es ganz leicht selbst herstellen, die Zutaten gibt es in jeder Apotheke für wenig Geld.«
»Okay.« Der Junge drehte das Gefäß in den Händen und wirkte verlegen. Rowan lächelte leicht. Remy war es nicht gewöhnt, Dinge einfach so zu bekommen, von jemandem etwas geschenkt zu kriegen, ohne es stehlen zu müssen. Das musste eine ziemliche Umstellung für ihn sein.
»Na los, füttern wir die Pferde, damit die satt sind, wenn wir sie beladen.«
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»Ich werde das Essen so vermissen, ich schwöre es«, nuschelte Remy, als sie in der Küche saßen, und schob sich ein weiteres der kleinen Brötchen fast vollständig in den Mund. Rowan musterte ihn und aß seines gezierter, während zwei Mägde den vorbereiteten Proviant sorgfältig einschlugen und verpackten, den die beiden auf ihrer Reise mitnehmen wollten. Die Päckchen würden problemlos in die Satteltaschen passen und in den ersten Tagen ihren Speiseplan etwas erweitern.
»Was du alles in deinen mageren Leib stopfen kannst, beeindruckt mich immer wieder«, lächelte der Prinz. »Ich hätte gedacht, jemand der so unterernährt ist wie du, hätte einen winzigen Magen. Aber da hab ich mich wohl getäuscht.«
»Der nimmt alles, was er kriegen kann, für die Zeiten, in denen es wieder nix gibt.« Remy prostete Rowan mit dem Krug zu und hielt sich rasch die Hand vor den Mund, als er aufstoßen musste. Schließlich lachte er.
»Du hast gute Laune. Ich glaub, ich hab dich noch nie lachen sehen.«
»Ihr seht mich eher lachen als weinen, das kann ich Euch versprechen.«
»Das will ich doch hoffen. Ich möchte nicht, dass jemand leidet.«
»Wie gütig.«
Rowan zog eine Braue hoch. »Glaubst du mir das nicht? Ich dachte, du würdest mich inzwischen etwas besser kennen.«
»Aber natürlich«, Remy grinste breit und mit vollem Mund. »Aber im Ernst«, murmelte der Junge leise, »Ihr seid einer von den Guten ...«
Der Prinz lächelte, als der junge Dieb den Kopf senkte und nur seine roten Ohren seine Verlegenheit zeigten.
»Bist du dann so weit? Die Sonne ist rausgekommen. Das ist ein gutes Zeichen.«
»Ich sagte doch, es klart sicher noch auf.« Remy schob sich ein Brötchen in die Tasche seines Mantels und leerte seinen Krug. Rasch stellte er die benutzten Teller zusammen, um dem Küchenpersonal etwas Arbeit abzunehmen.
»Herrschaften, ich bedanke mich für das gute Essen und die Bewirtung«, wandte sich der Kronprinz an das Gesinde und verneigte sich, bevor er mit einem Lächeln das Gebäude in Richtung der Ställe verließ. Remy verabschiedete sich ebenfalls, nahm die Provianttaschen und die Reisesäcke und folgte seinem Herrn.
»Das war nett. Das sind die echt nicht gewöhnt von den anderen Adligen hier, egal wem.«
»Bedauerlich, den Leuten, die dafür sorgen, dass man zu essen hat, nicht hin und wieder Danke zu sagen. Sollte man, sonst spucken sie in die Suppe. Oder tun schlimmeres damit.«
»Also haben die Bediensteten eigentlich alle Macht hier, oder?«
»So gesehen schon. Sie kommen an jeden heran, kennen alle Schleichwege, verwalten das Essen. Wenn sie wollten, könnten sie die gesamten Bewohner hier umbringen. Aber damit schneiden sie sich ins eigene Fleisch. Ohne den Schlossbetrieb haben sie keine Anstellung und damit keine Lebensgrundlage mehr. Verstehst du? Deswegen lehnt sich niemand auf.«
»Ja, ich glaub schon ...«
Agrippa und Loot kauten nur noch unmotiviert an ihrem Heu herum, als die beiden Männer den Stall betraten. Remy ließ das Gepäck fallen und schnaufte. Müsste er das alles allein tragen, würde er keinen Kilometer weit laufen können.
»Wie machen wir das alles?«
»Die Säcke sind zum Tragen auf dem Rücken gedacht. Der Proviant kommt in deine Satteltaschen, die Plane kannst du hinten daran festbinden. Den Pferden macht das Gewicht nichts aus. Loot ist ein Friese, die sind bullenstark. Außerdem wiegen der Proviant und dein Reisesack zusammen vermutlich mehr als du, also mach dir keinen Kopf.«
»Sollen wir sie schon rausholen?«
»Nein, geben wir ihnen noch ein paar Minuten.« Rowan setzte sich draußen vor dem Stall auf eine Bank und sah dem beginnenden Treiben auf dem Schlosshof zu. Es war noch nicht ganz Sieben, der König und seine Höflinge würden noch mindestens zwei Stunden in ihren Betten liegen, doch das Leben kam allmählich in Gang.
»Remy!«
Der Angesprochene und der Prinz wandten den Kopf herum, als sie die Stimme eines Mädchens hörten. Seena stand im Zugang zu einem der anderen Höfe und dem Gesang nach war es die Wäscherei. Der junge Mann seufzte und Rowan lachte leise.
»Nun geh dich schon verabschieden. Sei ein Mann. Das bist du ihr schuldig, wenn du ihr schon das Herz brichst.«
»Ihr seid mir keine Hilfe«, knurrte Remy, schob die Hände in die Taschen und stiefelte zu Seena, die sich eine ihrer dunklen Haarsträhnen unter das Kopftuch schob und ihn anlächelte. Sie standen beide im Schatten unter dem Durchgang zum Hof der Wäscherei und ein frischer Seifenduft hing in der Luft.
»Du brichst also auf?«
»Ja. Sobald die Gäule mit Fressen fertig sind.«
»Und ich kann dich nicht irgendwie überzeugen, doch zu bleiben?«
»Wie willst du das denn tun?«
Das Mädchen schmunzelte. »Ich weiß nicht. Doch ich hätte trotzdem gern etwas von dir, um mich an dich zu erinnern.«
Remy zog eine Augenbraue hoch. »Ist das ein unmoralisches Angebot? Für ein kleines Stelldichein irgendwo im Heu?«
Seena machte große Augen und ihre Wangen röteten sich, als sie ihm mit ihrer kleinen Faust auf den Oberarm boxte. »Nein! Wofür hältst du mich denn? Wie sollte ich denn weiterleben, wenn ich schwanger werden würde? Dann würde ich ja gar nicht über dich hinwegkommen. Nein, ich dachte an ... etwas viel Harmloseres.«
»So? Und das wäre?«
»Weißt du das echt nicht? Du bist ein komischer Kauz.« Das Mädchen packte Remy am Revers seines Mantels, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm die Lippen auf den Mund. Verdutzt hielt der junge Mann einfach still und spürte, wie die Hitze in seinem Bauch anschwoll. Er hatte noch nie zuvor ein Mädchen geküsst, doch eher hätte er sich die Zunge abgebissen als das jemandem zu gestehen.
»Das hab ich gemeint. Für alles andere ... ich würde gern, ich bin ganz ehrlich. Ich hätte dich gern als meinen Ersten, doch ... da du gehst und nicht wiederkommen wirst ...«
»Und weil das so ist, verrate ich dir ein Geheimnis«, lächelte der Junge, beugte sich zu Seena nach unten und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Echt nicht?«, hauchte sie überrascht.
»Nein.«
»Aber du bist schon zwanzig!«
»Tja«, Remy lächelte schief und zuckte die Schultern. »Ich muss zu meinem Herrn zurück. Pass’ auf dich auf.«
»Und du auf dich ...«
Der junge Dieb wandte sich ab und kehrte zu Rowan zurück, der den Eindruck machte, mit geschlossenen Augen die Sonne genossen zu haben, doch seine Lippen zuckten, als er Schritte hörte.
»Ihr habt zugesehen, oder?«
»Süßer Abschiedsschmerz, hm?«
»Bei ihr, vielleicht. Lief das bei Euch und Eurer Verlobten auch so oder schickt sich das nicht für Adlige?«
»Es war ähnlich. Auch wir tauschten einen merkwürdigen Kuss. Keine Ahnung.«
Remy lehnte sich an die Tür zum Stall und seufzte. »Warten wir noch lange hier oder ...?«
»Nein, du hast Recht. Wir sollten es angehen und den Tag nutzen, damit wir etwas schaffen, bevor wir ein Nachtlager aufschlagen.« Der Prinz erhob sich und ging an dem Jungen vorbei, der ihm nachsah. Rowan roch nach Lavendelseife, ein Umstand, der Remy zuvor nie aufgefallen war. Doch warum jetzt? Weil er so anders duftete als Seena?
»Na komm schon, Remy. Loot sattelt sich nicht von selbst!«
Der Angesprochene nickte und betrat die Box seines Friesen mit der Decke und dem Sattel unter dem Arm. Die ganze vergangene Woche hatte Remy, wenn es die Zeit erlaubt hatte, das korrekte Anlegen geübt oder war bei dem Wallach in der Box gewesen, um ihn zu putzen. Der Junge wollte, dass das gewaltige Tier sich an ihn gewöhnte und ihn mochte. Und der Plan war aufgegangen, denn Loot knuffte ihn zur Begrüßung mit dem Maul und schnaubte zufrieden. Rowan hatte es sogar geschafft, sich ein paar Stunden von der Gesellschaft der Höflinge loszueisen, um seinem Diener Unterricht im Reiten zu geben. Zwar war Remy noch immer ein blutiger Anfänger, doch er kam inzwischen problemlos allein in den Sattel und hatte an Sicherheit und Selbstbewusstsein gewonnen.
Routiniert legte der Junge den Sattel an und befestigte die Taschen, die später den Proviant beinhalten sollten. Die schwere Plane gurtete er zusammen mit seiner Decke am hinteren Ende des Sattels fest, während Loot still stehen blieb und sich die Prozedur gefallen ließ.
»Du hast wirklich schnell gelernt«, bemerkte Rowan zufrieden, der ihm über den Rand der Box zusah.
»Ein Gutes, wenn man in einem Rattenloch aufwächst ist, dass man alles, was man gebrauchen kann, schnell verinnerlicht. Das gilt besonders für den Orientierungssinn, aber auch für praktische Kenntnisse.«
»Ja, dass du dir Umgebungen gut merken kannst, habe ich schon bemerkt. Du findest dich erstaunlich gut in diesem Gewirr aus Höfen zurecht.«
»Ist nicht anders als Thalea.« Remy verließ die Box und warf sich seinen Reisesack über die Schulter. Der Gurt spannte sich quer über seine Brust, sodass ihn das Gepäck nicht behindern würde.
»Das Geschirr ist auch da drin?«
»Ja. Ich dachte, es wäre besser, es da zu verstauen als es klappernd an den Satteltaschen hängen zu haben. Ihr wisst schon, wegen des Krachs. Sind ja nur die Kanne und die Bratpfanne.«
»Eine gute Idee!«
Remy lächelte leicht, zog Loot aus der Box und verstaute die Säcke mit dem Essen. »So, ich wäre dann so weit.«
»Wurde ja auch Zeit«, grinste Rowan leicht und sie führten ihre Tiere aus dem Stall in den sonnenerleuchteten Hof. »Wo du dich so gut auskennst, wie kommen wir am besten aus dem Schloss, ohne den Haupteingang zu nehmen? Von der Brücke aus kommen wir nicht an der östlichen Seite des Sees lang, wenn ich das von unserer Ankunft noch recht im Sinn habe.«
Remy überlegte einen Moment. »Ich glaube, vom Haupthof aus gelangt man in den hinteren Teil der Anlage, wo die Weberei ist. Dort, meine ich mich zu erinnern, gibt es ein Tor.«
»Wann hast du dich hier so genau umgesehen?«
»Immer dann, wenn Ihr Tee mit den feinen Herrschaften getrunken habt und mich nicht brauchtet.«
»Du bist wie eine wandelnde Landkarte, das ist ja faszinierend.«
»Irgendwas kann eben jeder.«
Sie führten die Pferde durch den Torbogen in den Haupthof, auf dem die Handwerker bereits dabei waren, ihre Waren aufzubauen. Das Schloss schien noch im Tiefschlaf zu liegen, obwohl einige der Fenster von fleißigen Dienstmädchen geöffnet worden waren. Rowan hatte vor, möglichst unbehelligt den Palast zu verlassen. Sich vom König zu verabschieden war nicht nötig, da dies bereits während des allabendlichen Gelages geschehen war und der Prinz wusste, dass Thedosio trotz der Etikette nicht extra für ihn so früh aufstehen würde. Doch er wandte überrascht den Kopf herum, als das Portal aufging und die Königin in den morgendlichen Sonnenschein trat. Sie pflegte frühs einen kleinen Spaziergang über den Hof zu machen, erblickte ihn und raffte ihren Rock, um die Treppe hinabzusteigen.
»Eure Hoheit, es freut mich, Euch noch anzutreffen. Es hätte mich bekümmert, Euch nicht noch einmal viel Glück für die Reise wünschen zu können.«
Rowan verneigte sich, ein Verhalten, das Remy immer wieder merkwürdig vorkam. Da standen sich zwei Vertreter aus Königsfamilien gegenüber und doch benahm sich Rowan wie ein Untergebener. Ob die trallische Königin als Gast in Annwyn wohl diejenige wäre, die sich tief vor dem Prinzen zu verbeugen hatte?
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich kann gar nicht betonen, wie dankbar ich für die Gastfreundschaft an diesem Hof bin. Es war mir ein Vergnügen, hier sein zu dürfen.«
Die Königin musterte die beiden entspannten Pferde und den trallischen Burschen in Rowans Begleitung. »Wohin führt Euch der Weg? Ihr habt Euch vom Haupttor abgewandt.«
»Mein Knappe meint, im Osten bei der Weberei gäbe es ein Tor? Ich habe den Wunsch, am Ostufer des Drachensees gen Süden zu ziehen.«
»Damit hat Euer Diener Recht. Es liegt gut verborgen inmitten des Baumbestandes, doch zwei Pferde finden gut ihren Weg hindurch. Viel Glück.«
»Vielen Dank, Eure Majestät.«
Die beiden Männer zogen an der Dame und ihren Zofen vorbei, passierten ein paar am Rand stehende Marktstände und bogen schließlich in eine Gasse ein, die an der Außenmauer des Palastes entlang führte und sich nach einigen Metern in einen weiteren Hof öffnete.
»Dort, da ist das Tor.« Remy zeigte darauf und ein Wachmann hörte ihn.
»Willst du hier durch, Bursche?«
»Ich möchte es gern«, antwortete Rowan stattdessen und der Soldat verneigte sich, sofort verstummt. »Die Königin hat ihre Erlaubnis erteilt, dass wir es passieren können.«
Ohne ein weiteres Wort machte sich der Wachmann daran, eine Seite des zweiflügeligen Tores zu öffnen. Es war mehr als genug Platz für die Pferde, um hindurch zu passen.
»Sitz’ auf, Remy«, sagte der Prinz und schwang sich in den Sattel. Der junge Dieb tat es ihm nach und langsam durchquerten sie die Pforte, die sie geradewegs auf einen schattigen Pfad führte. Als würde diese Seite der Palastmauer direkt im Wald liegen, schluckte das noch junge Laub des trallischen Frühjahrs die Sonne und die Schritte der Pferdehufen.
Remy atmete erleichtert tief ein, als sie einige hundert Meter vom Schloss entfernt waren und entließ den Atem mit einem lauten Stoßseufzer. »Ich bin froh, aus dem Wespennest weg zu sein, Ihr auch?«
»Erstaunlicherweise bin ich das wirklich.« Lächelnd ließ Rowan Agrippa ruhig gehen, genoss das Summen des Waldes und als das Ufer des Sees in Sichtweite kam, ergötzte er sich an der Aussicht, die auch Remy die Sprache verschlagen hatte.
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Der Raum, in dem der König saß, war dunkel. Die Kerzen in den Haltern waren beinahe alle heruntergebrannt und die tiefe Dämmerung vor den Fenstern wurde noch verstärkt durch die dicken Vorhänge.
Er wandte kaum den Kopf, als er die Schritte der schweren Stiefel hörte. Der Mann blieb im Schatten stehen.
»Du hast mich warten lassen«, brummte Thedosio.
»Womit kann ich Euch zu Diensten sein, Majestät?«, sprach der Fremde leise und sehr ruhig. Seine Stimme verriet keinerlei Gefühlsregung, sondern klang wie eine Maschine.
»Mit dem, was du am besten kannst.«
»Und das Ziel?«
»Der annwynische Thronfolger und sein Begleiter. Sie reiten gen Süden, am Ufer des Sees entlang. Ihr Vorsprung kann noch nicht sehr groß sein, der Diener des Prinzen ist kein guter Reiter. Mich dünkt, der impertinente Spross meines alten Freundes Marek hat sich in den Kopf gesetzt, eine Mär zu verfolgen, die ihn nichts angeht. Und bevor er irgendetwas herausfinden kann, musst du ihn ausschalten. Sie beide. Den Prinzen für seine Neugier und seinen Begleiter für den Verrat. Ein Trallier, der seine Loyalität einem anderen Königshaus als meinem zukommen lässt, hat das Leben nicht verdient!«
Der König hieb mit seiner dicken Faust auf die Lehne des Stuhls, in dem er saß und schnaubte, dass die Spucke nur so sprühte.
Der Mann im Schatten senkte sein Haupt zur Bestätigung. »Wie erkenne ich die beiden?«
»Sie werden die Einzigen in der Wildnis sein, du Idiot!«
»Um ganz sicher zu gehen, Eure Majestät.«
Thedosio knurrte. »Der Prinz ist blass und hat blaue Augen. Er reitet einen Schimmel. Der Bursche ist Trallier, wie ich bereits sagte und hat einen Friesenrappen! Reicht das, um ganz sicher zu gehen oder soll ich dir ein Bild malen?«
»Ich werde den Auftrag zu Eurer Zufriedenheit erfüllen, Eure Majestät. Wie immer.« Der Meuchelmörder verneigte sich und ließ seine Hand schnell wie eine Schlange vorschnellen, um das Säckchen mit Münzen aufzufangen, das der König ihm zuwarf.
»Den Rest gibt es nach getaner Arbeit. Vergiss nicht, mir einen Beweis zu bringen. Der Prinz trägt einen Ring, zum Beispiel.«
»Ich bringe Euch sein Herz, wenn Ihr danach verlangt!«
»Bring, was dir beliebt, nur mach’, was ich dir aufgetragen habe. Vertrödle keine Zeit und sorge dafür, dass niemand sie je findet!«
Der Mann im Schatten verneigte sich noch einmal tief und verschwand mit leisen Schritten in einem der verborgenen Gänge des Schlosses. Thedosio saß unterdessen weiter in der schweren Finsternis des Gemachs, hatte die fetten Finger über seinem gewaltigen Bauch verschränkt und lächelte vor sich hin. Hatte er ein schlechtes Gewissen, den Mord am Sohn eines Mannes in Auftrag gegeben zu haben, den er einst seinen Freund nannte? Nein. Hier ging es nicht um Empfindlichkeiten und solche banalen Dinge wie Freundschaft, es ging um knallharte Politik und um die Zukunft des trallischen Wohlstandes. Seines Wohlstandes, zuallererst! Dafür heiligte der Zweck alle Mittel und warum auch sollte Marek allzu betrübt über den Verlust seines ältesten Sohnes sein? Er hatte doch noch zwei weitere. Der Prinz würde einfach einen bedauerlichen Unfall haben, so etwas passierte auf Reisen doch ständig! Thedosio begann zu lachen. Erst leise und verschlagen, dann immer lauter, bis es beinahe den Eindruck machte, er hätte den Verstand verloren. Doch hören tat ihn niemand.