»Ihr seid es leid, hier festzusitzen, oder?« Remy sah ins Feuer und seufzte leise. Eine Woche war seit dem Angriff vergangen, sieben Tage, in denen Rowan einige Male befürchtet hatte, er würde den Kampf verlieren und der Dieb es nicht schaffen. Sieben Tage, in denen der Prinz gehofft, gefleht und kein Auge zubekommen hatte, weil die Sorge um den Verletzten ihm keine Ruhe ließ. Obwohl die Fleischwunde im Grunde harmlos gewesen war, hatte Remy Fieber bekommen. Sein Körper hatte sich vehement und brutal gegen die Verletzung gewehrt und der anhaltende Schmerz, in dem der Junge sich befunden hatte, hatte das noch angeheizt. Die Arzneien waren nur bedingt eine Linderung für die Pein gewesen, obgleich er ohne sie ganz sicher gestorben wäre. Remys Qualen und sein Wimmern vor Schmerz waren zeitweilig für den Prinzen kaum zu ertragen gewesen, der nichts anderes hatte tun können, als ihm leise zuzureden, Kinderlieder seiner Heimat zu singen und das Tuch auf Remys Stirn kühl zu halten.
Nun saß Rowan neben den Kamin gelehnt und lächelte leicht. »Nein.« Sein Gesicht zierten noch einige Schrammen und erinnerten an den ausgestandenen Kampf mit dem Attentäter. Er kratzte sich daran und betrachtete den Burschen, der sich matt die Decke höher zog. Wie froh der Prinz war, dass Remy diese gefährlichen Tage überstanden hatte, würde er diesem lieber nicht sagen, der würde ihm nur wieder eine freche Zote dafür reindrücken. Und auch Rowan selbst wollte die ausgestandene Angst lieber vergessen, die von ihm gezehrt und ihn gleichzeitig verwirrt hatte.
»Ihr seid ein Lügner.«
»Bin ich nicht. Du kannst eh nicht reiten, also bleiben wir, bis es dir besser geht.«
»Aber der Proviant ist fast aufgebraucht und ...«
»Das macht nichts. Wirklich, bleib’ ruhig. Es verheilt doch gut. Und das Fieber hast du überstanden. Alles andere steht hintenan.«
Verlegen huschte der Blick des Beutelschneiders über den milde lächelnden Prinzen und schließlich seufzte er leise. Wirklich erinnern konnte er sich an die ersten drei Tage nach dem Angriff nicht. Alles war verschwommen und verzerrt in einer Flutwelle aus Schmerz und Fieberträumen. Und auch sonst hatte er die ganzen letzten Tage mehr schlafend als wach verbracht. Remy fragte sich, ob er wohl im Schlaf gesprochen hatte und wenn ja, was er da alles zutage gefördert hatte, von dem Rowan nur zu höflich war, es zu erwähnen. Der Dieb war noch niemals zuvor jemandem so auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen und bevor er diesen Prinzen gekannt hatte, hätte er geglaubt, dass jeder diese Situation in der einen oder anderen Art ausgenutzt hätte. Jeder außer seinen Freunden und Frau Enid, aber das waren die einzigen Ausnahmen gewesen, immer.
»Ich hab Durst«, murmelte Remy und versuchte umständlich, sich aufzusetzen. Mit nur einem Arm war das schwierig, doch die verletzte Schulter konnte er noch nicht wirklich belasten, ohne dass der Schmerz an ihm riss. Rowan half ihm und reichte ihm dann einen Becher. Während der Junge in kleinen Schlucken trank, wickelte der Prinz den Verband ab und betrachtete die Wunde, die bereits wieder von rosiger neuer Haut überzogen war.
»Wenn du Glück hast, bleibt da keine Narbe zurück. Oder nur eine ganz feine.«
»Was macht das jetzt noch? Wen kümmern die Narben auf dem Leib, wenn man eine im Gesicht hat ...«
»Gräm’ dich nicht. Sie macht dich zu etwas besonderem«, lächelte Rowan, tupfte die Verletzung ab und verteilte vorsichtig etwas Salbe darauf, bevor er sie wieder verband. »Makellos kann jeder. Aber seine vermeintlichen Fehler stolz zeigen nur wenige.«
»Ihr seid ein Torfkopf. Glauben Euch die Frauen diese abgedroschenen Phrasen?«
»Es reichte, wenn du es tätest. Ich meine das nämlich so«, der Prinz zwinkerte und legte ihm einen Moment die Hand auf den Rücken. Remy, der seit der Nacht seiner Verwundung kein Hemd mehr getragen hatte, spürte eine feine Gänsehaut in seinem Nacken. Irgendetwas an den Berührungen Rowans hatte sich verändert. Oder war es etwas in seinem, Remys, Kopf? Seit diesem Vorfall war es von Mal zu Mal weniger unangenehm gewesen, angefasst zu werden. Und der Prinz hatte das oft getan, als er die Wunde versorgt oder dem Dieb den Schweiß abgewaschen hatte, wenn er ihm Wasser oder etwas Suppe gab, ihm die im Fieberwahn weggestrampelte Decke wieder übergeworfen und festgesteckt hatte. Das Gefühl von Fingern auf seiner nackten Haut, etwas, das Remy seit jeher mit Grauen erfüllt hatte, war zu etwas geworden, das sich tröstlich anfühlte. Zumindest, wenn es diese Hände waren.
Er wandte den Kopf herum. »Hofft lieber, dass Ihr nicht auch eine zurückbehaltet von dem Schnitt auf Eurer Nase!«
Rowan kratzte daran und kicherte. »So wie das juckt, verheilt das ohne irgendwas.«
»Würde Euer würdevolles Prinzengesicht nicht kleiden, so eine Narbe.«
»Deine Sorge um meine Erscheinung ehrt mich.«
»Ach, hört doch auf«, schnaubte Remy und lächelte leicht. »Und wieder hab ich mehr meines Blutes sehen müssen als ich wollte.«
»Und fast alles ist verheilt. Deine geschundene Lippe ist wieder intakt und deine Schulter ist in ein, zwei Tagen auch so weit, dass du wieder in den Sattel kommst, ohne dass ich deinen mageren Hintern schieben muss.«
»Dabei seid Ihr doch ganz scharf drauf«, murmelte der Junge und prustete leise, zischte aber, als die Erschütterung ein schmerzhaftes Ziehen durch seinen Oberkörper jagte. Rowan musterte Remy mit einem Lächeln. »Zumindest kann ich sagen, dass es mich schwer getroffen hätte, wenn du einfach den Löffel abgegeben hättest. Bin ich ehrlich.«
»Weil einem Prinzen niemand einfach wegstirbt?«
Mit einem Seufzen rollte der Mann mit den Augen und schüttelte den Kopf. »Zufällig bist du mir nicht so egal, wie du denkst, du Muskopf, und es ist keine Frage meines Stolzes, dich nicht sterben lassen zu wollen. Meine Güte.« Er stand auf und nahm den Eimer. »Ich gehe frisches Wasser holen.«
Der Junge zuckte leicht zusammen, als die Tür laut ins Schloss fiel. Was war das denn gewesen? Bisher hatte der Prinz nie so reagiert, egal was Remy an Frechheiten gesagt hatte. Etwas war wirklich anders geworden in den letzten Tagen. Zu dumm, dass der Dieb kaum lange genug wach gewesen war, um etwas davon zu bemerken. Was hatte Rowan nur? Leise seufzend ließ sich Remy wieder nach hinten sinken und zog die Decke über die Brust. Diese winzige Mühle kam ihm riesig vor ohne die Gestalt des Prinzen. Nur ein Hauch seines Geruchs war noch da. Das Knistern des Feuers lullte Remy ein und er fiel in einen leichten Schlummer.
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Schnaufend blieb Rowan vor der Tür der Mühle stehen und biss die Zähne zusammen. Remys Verhalten, dieses betont scherzhafte und doch sehr ernstgemeinte Aufrechterhalten der Distanz zwischen ihnen, egal, was bereits alles vorgefallen war, machte Rowan so wütend. Ein Gefühl, von dem er nicht wusste, wo genau es herkam, denn eigentlich war es vollkommen unangemessen und untypisch für ihn. Lag es nur daran, dass er sich zuletzt so viele Sorgen gemacht hatte, dass er es als ungerecht empfand, Remy so reden zu hören? Als ginge es um seinen, Rowans, Stolz, wenn er nicht wollte, dass der Junge starb, nur weil er zufällig bei ihm gewesen war. Remy hatte ihm das Leben gerettet und war zuvor nur verletzt worden, um Rowan zum Handeln zu provozieren. Hätte der Dieb nicht versucht, sich fallen zu lassen, wäre die Klinge in sein Herz eingedrungen und nichts hätte ihn mehr retten können. Ein Gedanke, der Rowan wahnsinnig machte und den zu denken er kaum ertragen konnte.
Zittrig atmete er ein und machte einen Schritt. Er musste aufhören, diese Mär zuzulassen. Es war nichts weiter geschehen. Die letzten Tage waren eine Qual für Remy gewesen und eine schlaflose, sorgenvolle Zeit für Rowan, doch sie waren überstanden. Er ging an den Bach hinunter und füllte den Eimer, bevor er sich dem kleinen Schuppen zuwandte, um mit einer alten Schaufel den Mist der Pferde wegzuschaffen. Diese standen auf der Wiese, die Führstricke angepflockt, da es keine Zäune gab, und grasten vor sich hin. Der Himmel über Trallien war rot und der Abend stand bevor. Der scharfe Wind der letzten Tage hatte nachgelassen und es war fast warm für trallische Verhältnisse.
Nachdem der Prinz Agrippa und Loot in den Schuppen gebracht und ihnen Wasser und Futter gegeben hatte, ging er die Falle kontrollieren, die er im nahegelegenen Wäldchen aufgestellt hatte. Dort gab es eine Menge Hasen und Rebhühner und tatsächlich hatte sich einer der kleinen Vögel darin verfangen. Vorsichtig befreite Rowan das Tier, strich ihm die Federn glatt und streichelte es einen Moment, bevor er ihm kurz und schmerzlos den Hals umdrehte. Daraus würde er eine Suppe kochen. Die verbrauchte wenig Proviant und sättigte trotzdem.
Als er die Hütte wieder betrat, fand er Remy schlafend vor. Leise verrichtete der Prinz seine Arbeit, rupfte den Vogel und zerlegte ihn, goss den kleinen Kessel, den er zu seiner großen Überraschung in der Mühle gefunden hatte, mit etwas Wasser auf und tat das Fleisch mit einigen anderen Zutaten zusammen hinein. Als er den Topf ins Feuer gehängt hatte, wanderte sein Blick über das Gesicht des Schlafenden. Remy wirkte sehr jung, das war dem Prinzen in den letzten Tagen oft aufgefallen. Es musste Jahre her sein, wenn überhaupt, dass der Bursche so friedlich hatte schlafen können, inzwischen wieder entspannt und nicht mehr von Fieberkrämpfen geschüttelt. Rowan lächelte leicht, als Remy ein Seufzen ausstieß und die Hand etwas ausstreckte, mit der Handfläche nach oben, die Finger ganz ruhig, nicht zur Faust geballt. Fast hätte der Prinz dem Bedürfnis nachgegeben, sie zu ergreifen und festzuhalten, um zu verhindern, dass dem Beutelschneider, den er nur als Diener hatte mitnehmen wollen, etwas geschah. Rowan zog die Augenbrauen kraus. Dieser Plan war schon zum Scheitern verurteilt gewesen, als er Remy mit ins Gasthaus in Thalea genommen und gesehen hatte, wie elend dieser Junge all die Zeit gelebt hatte, wie verhungert er war, wie zerschunden, schmutzig und dünn. Remy hatte Recht, Rowan hatte in ihm einen Welpen gesehen, ein kleines Wesen, das er aufpäppeln und füttern wollte, weil es ihm leidtat.
Doch das hatte sich geändert. Remy war nicht schwach oder hilflos. Er hatte bewiesen, wie er zu Rowan stand und dass man ihn nicht beschützen musste. Seine Loyalität stand fest. Ehrliche Loyalität, keine bezahlte Verpflichtung, kein Eid, der ihn zwang. Remy tat es freiwillig.
Das war mehr, als Rowan je von jemandem außer seiner Familie bekommen hatte. So saß der Prinz da und sinnierte vor sich hin, es hätten ohne sein Bemerken Stunden vergangen sein können. Draußen war es Nacht geworden und der Duft des auf dem Feuer blubbernden Eintopfs breitete sich aus. Er schrak aus den Gedanken hoch, als Remy brummte und sich streckte. Er zischte und zuckte zusammen, denn die Bewegung zog in der Wunde.
»Wie lange hab ich geschlafen?«, murmelte er leise und rieb sich die Augen.
»Eine Weile. Bist du hungrig?«
»Ja.«
Rowan gab etwas von der Suppe in einen Becher. Schüsselchen und Näpfe hatten sie keine.
»Sei vorsichtig«, sagte er leise und reichte Remy die Tasse, der sich umständlich aufsetzte und sie ergriff.
»Ich fühl mich nicht gut«, nuschelte der junge Dieb und verzog das Gesicht, denn der Eintopf war brühheiß. Rowan musterte ihn und legte ihm den Handrücken auf die Stirn. Remy entzog sich und schüttelte den Kopf.
»Nicht das.«
»Sondern?«
Der Junge schmunzelte leicht. »Habt Ihr Euch inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass Ihr nicht mehr riecht, wie verflucht ich stinke?«
Der Prinz machte ein überraschtes Gesicht und lachte los. »Ach, das. Du hast Recht, ich merk das schon nicht mehr. Du hast während des Fiebers so sehr geschwitzt, ich konnte dich waschen, so viel ich wollte.«
»Ihr habt mich gewaschen?«
»Du hast nicht viel mitbekommen, oder?« Rowan nahm sich ebenfalls etwas Suppe und pustete in die Tasse. »Eine Zeitlang dachte ich, ich verliere dich.«
»Und das hätte Euch nicht gefallen ... Ihr sagtet es. Bevor Ihr mich angefaucht habt.«
»Völlig zu Recht! Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass nicht jeder nur eine Zecke in dir sieht, die man zertreten muss, damit sie sich nicht verbreitet? Nein. Es gibt Menschen, die dich mögen und denen daran gelegen ist, dass es dir gut geht. Und wenn das im Moment auch nur ich bin, weil du niemanden sonst mehr hast.«
Remy sah in seine Tasse. »Nein. Das ist es echt nicht.« Er seufzte. »Schaut, es ist ... komisch. Ihr gebt mir das Gefühl, mein Freund sein zu wollen, doch ... ich hab immer nur gelernt, dass es so eben nicht ist. Dass jemand Eures Standes und jemand wie ich nie ... auf einer Stufe stehen können.«
»Wie wunderbar die Welt wäre, wenn zwei Leute einander kennenlernen würden, ohne Namen, ohne Stand oder Titel und einfach tun würden, was ihr Gefühl ihnen sagt.«
»Wenn selbst Ihr das sagt, zeigt das doch, wie die Welt ist. Unter anderen Umständen hätte man mich nicht mal auf ‘ne Armeslänge an Euch rangelassen und sicher gäbe es Leute, die verurteilen würden, was Ihr hier getan habt. Dass Ihr Euch herablasst, mich zu pflegen, als wärt Ihr der Diener.«
Rowan lachte leise. »Das ist eine Ausnahmesituation. Es ist ja niemand anderes da, dem ich diese Aufgabe hätte zuteilen können. Außerdem ist es mir egal, was andere darüber sagen würden. Ich würde jemanden, der Hilfe braucht, ob Freund oder Diener, nicht im Stich lassen. So ein Mensch bin ich nicht, das könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Schon gar nicht denjenigen, der verhindert hat, dass mir eine Axt den Schädel spaltet.«
Brummend ließ der junge Dieb die Tasse sinken. »Was ... habt Ihr eigentlich mit dem Körper gemacht?«
»Du isst ihn gerade«, entgegnete Rowan trocken und lachte auf, als er Remys erschrockenen Blick sah. »Nein! Nein. Bei Solem, nein. Ich hab ihn vergraben. Zwischen den Bäumen. Nachdem ich erst mal herzhaft gekotzt habe.«
»Ich hab ja schon viel Schlimmes gesehen. Auch ‘ne Menge Leichen, vergammelt oder vom Fluss in Thalea aufgequollen, aber ... dass jemandem der Kopf abgeschlagen wurde, das war neu.«
»Tut mir leid.«
»Warum? Er hat’s nicht anders verdient.« Remy warf Rowan über den Becher hinweg einen Blick zu. »Ich wollte nämlich auch nicht, dass Ihr getötet werdet. Lieber sein Kopf als Eurer.«
Der Prinz sah den Dieb nur an, wie so oft, schweigend und ohne Unterbrechung. Wenn auch die Sache mit dem Berühren für Remy leichter geworden war, war ihm dieses milde Starren immer noch unangenehm. Besonders jetzt, wo er sich dreckig und elend und zerrupft wie ein altes Huhn fühlte.
»Hört auf damit!«
»Verzeihung. Ich bin nur immer noch so erleichtert, dass ich dich nicht auch zu beerdigen hatte. Du hast mir ganz schön zugesetzt zuletzt.«
»Wirklich, das ist nicht in Ordnung«, murmelte Remy und versteckte sich förmlich hinter seiner Tasse. Rowans Zutraulichkeit war mehr als nur komisch, es war aufwühlend und löste etwas in dem Jungen aus, das dieser nicht empfinden wollte. Etwas, das er noch nie gefühlt hatte und nicht verstand. Er hasste es, wenn etwas mit ihm geschah, was er sich nicht erklären konnte. Das Prickeln in seiner Magengegend war etwas vollkommen Neues für ihn, etwas, das sich noch auf ganz andere Regionen ausbreitete und Bilder in seinem Kopf produzierte, die er verwirrend fand und doch einen wohligen Schauer über seinen Rücken jagten.
Rowan seufzte indes und ballte die Finger zu Fäusten, um sie anschließend zu strecken. Das löste etwas die Anspannung in ihm. Er brauchte frische Luft. Dieses merkwürdige Ding, was da zwischen ihm und Remy ablief, hatte auch er bemerkt. Zuletzt hatte er solche Spannung empfunden, als er mit Ana auf dem Heuboden gewesen war. Jahre war das her! Er konnte unmöglich die gleichen Absichten Remy gegenüber haben, das war absurd.
Der Prinz wischte sich über die Nase und leerte seinen Becher. »Wahrscheinlich hast du Recht. Wir wollen ja keine komische Stimmung aufkommen lassen.« Rowan lächelte schief und rieb sich den Nacken.
»Ihr seid ein merkwürdiger Mann ...«
»Aber ein Ehrenmann.«
»Zweifellos.«
»Trink’ aus.«
Der Junge kaute auf einem Stück Fleisch herum. »Und dann?«
»Ich denke, du stinkst? Dann solltest du baden. Der Teich draußen ist sauber und nicht tief.«
»Kann ich das denn? Ich meine, mit der Wunde?«
Rowan stand auf und ging um Remy herum. »Sie ist geschlossen, da kommt kein Schmutz mehr ran. Der Stoff tut sein übriges. Ich glaube, es ist in Ordnung, wenn du badest. Sauberkeit fördert die Heilung.«
Der Prinz öffnete die Tür der Mühle, um etwas frische Luft hereinzulassen, als Wetterleuchten über den wolkenverhangenen Himmel zuckte. Rowan sah nach oben und bekam die ersten Tropfen ab. Doch obwohl die Schleusen eines Regenschauers sich über ihnen öffneten, war es mild und es ging kein Wind.
»Es regnet!«, bemerkte Remy überflüssigerweise. »Na toll.«
»Das macht nichts. Du wirst ja so oder so nass. Komm schon.« Ohne langes Zögern zog Rowan die Tücher aus den Reisesäcken und legte sie auf einen Tisch neben der Tür, bevor er seinen Rock ablegte und so mit all seiner Kleidung außer den Unterhosen verfuhr.
»Was wird das?« Remy musterte ihn und obwohl er das nicht zum ersten Mal mitansah, fühlte es sich auf einmal anders an. An Rowans Leib war nicht ein Gramm Fett zu viel.
»Wonach sieht es aus? Ich hab sieben Tage bei dir am Bett gewacht und ansonsten die Pferde versorgt, Leichen verscharrt und Fallen aufgestellt. Viel Zeit zum Baden war da nicht.«
»Ich wollte Euch nicht solche Umstände machen.«
»Hast du nicht. Eine Hand wäscht die andere. Und jetzt sind wir beide dreckig. Brauchst du Hilfe?«
Remy stand umständlich auf und atmete schwer. Ihm tat vom langen Liegen der Rücken weh. »Nein ... da Ihr offenbar schon dafür gesorgt habt, dass ich keine Hosen mehr anhabe ...« Verlegen blickte er an sich herunter.
»Was denn, du bist doch nicht nackt.« Rowan lachte leicht. »Es war leichter, dir den Schweiß abzuwaschen so. Außerdem waren Blutflecken auf deiner Hose, die hab ich rausgewaschen. Aus dem Mantel auch. Gut, dass ich gelernt habe, Kleidung zu flicken.«
Langsam und mit einem schwindeligen Kopf tapste Remy barfuß auf die Tür der Mühle zu. Eine Woche nur liegen hatte seinem Kreislauf nicht gut getan und er fühlte sich steif.
»Du siehst blass aus.«
»Mir ist schwindelig.« Der junge Dieb trat wackelig aus der Tür und in den fein fallenden Regen. Die Kühle belebte ihn und als er tief einatmete, fühlte er sich gleich besser. Das Streicheln der Tropfen auf seiner erhitzten Haut war eine Wonne. Ohne es zu merken, gab er einen Laut von sich wie eine schnurrende Katze.
»Na komm schon, Kätzchen«, zog Rowan ihn auf und ging mit einem Stück Seife in der Hand auf den Teich zu. Es war dunkel, doch nicht zu finster, um nicht wenigstens Konturen auszumachen. Die Laterne, die der Prinz an die Tür der Hütte gestellt hatte, zeigte ihnen, wo sie sich befanden. Remy folgte ihm langsam, mit vorsichtigen Schritten. Er kannte das Terrain nicht und gab so einen erschrockenen Laut von sich, als er in den Bach trat, der den kleinen See speiste. Rowan hielt inne und ging ein paar Schritte zurück. Er packte Remy am Unterarm und leitete ihn, damit er nicht fiel und sich erneut verletzte.
»Es ist ... warm«, murmelte der Junge überrascht, als er bis zur Hüfte in dem Teich stand. Tiefer war er nicht. Seufzend legte er die Handflächen auf das Wasser und ging schließlich in die Hocke. Er tauchte einmal komplett unter und kam schnaubend wieder hoch, sich die Haare aus dem Gesicht streichend. Als ein feiner Lufthauch ihn erfasste, erschauderte er, doch das ließ ihn lachen. Er hatte sich seit dem Moment, als die Klinge seine Schulter durchbohrt hatte, nicht mehr so lebendig gefühlt. Der Schmerz, der ihn gepeinigt hatte, war vergessen und das wunderbar duftende Wasser an die erste Stelle gerückt. Remy hob die Hände und trank aus der hohlen Handfläche, spülte sich den Mund aus und spritzte wie ein Kind Wasserfontänen herum.
»Du hast Spaß?«
»Entschuldigt, hab ich Euch angespuckt?«
Rowan lachte. »Nein.«
»Mist, der Verband ist nass geworden.«
»Egal, ich mach dir drinnen später einen neuen.« Der Prinz fuhr sich mit der Seife über den Körper und seufzte wohlig. Dass er kaum Zeit für sich gehabt hatte, weil er Remy nicht hatte allein lassen wollen, war keine inhaltlose Aussage gewesen. Er hatte sich nur selten außerhalb der Mühle aufgehalten und dass nur, um die Tiere zu versorgen oder Nahrung zu beschaffen. Mit Wonne spürte er nun das Wasser auf seiner Haut und massierte sich die Seife in die Haare ein.
Remy sah zu, er konnte nur Konturen erkennen und Rowans helle Haut, die lichter schimmerte als die Dunkelheit. Fast erlag er dem plötzlichen Impuls, die Hand zu heben und ihn anzufassen. Doch Remy konnte es verhindern. Wie würde er denn dann dastehen? Er hatte den Prinzen schließlich die ganze Zeit über mit seinen möglichen unlauteren Absichten aufgezogen. Wenn er, Remy, nun seinerseits Rowan berühren würde, wäre er dann nicht derjenige, der unanständige Gedanken hatte? Brummend wandte der Junge sich ab. Er hatte überhaupt noch niemals solche Absichten gehabt, warum sollte das auf einmal anders sein? Und dann auch noch bei einem Mann?! Einem Prinzen. Jemandem, der einst einmal ein König sein würde! Das war doch lachhaft. Aussichtslos ...
»Hast du was?«
»Äh ... ja, ich hab keine Seife ...«
»Hier, nimm meine.« Rowan machte einen Schritt und drückte Remy das Stück in die Hand. Der Lavendelduft hüllte ihn ein wie eine Decke und der junge Dieb machte instinktiv einen Schritt zurück, rein aus Gewohnheit. Sein Hals schnürte sich zu und es plätscherte laut, als er den Halt verlor und beinahe umknickte. Doch Rowan packte ihn. Remy hielt sich reflexartig an ihm fest, seine Finger lagen am Oberarm des Anderen und das Atmen fiel ihm schwer. Verdammt, das konnte doch nicht wahr sein, was, verflucht, war denn nur los mit ihm? Bildete er sich ein, dass auch der Prinz erschauderte? War es nicht ein merkwürdiges Gefühl, dass sie beide einander, kaum richtig bekleidet, so nahe waren? Vor ein paar Tagen hatten sie zusammen im Fluss gespielt und da war es noch nicht so sonderbar gewesen! Ein Ziehen, anders als der dumpfe und leichte Schmerz seiner Stichwunde, zog sich durch Remys Körper und er konnte ein leises Schnaufen nicht verhindern. Ihm war schwindelig und das Herz raste wie nach einem Sprint.
»Rowan ...«, flüsterte er fast und konnte hören, wie dieser scharf die Luft einsog. Der Griff um Remys Arm, wo der Prinz ihn gepackt hatte, verstärkte sich.
»Verdammt«, presste Rowan hervor. Er zog Remy an sich und ehe der sich versah, war sein eigener Arm um die Schultern des Königssohns geschlungen, dessen Hände auf seinem Rücken und in seinem Nacken und ihre Lippen aufeinander. Obwohl Remy noch nie zuvor in seinem Leben jemanden geküsst hatte, war es nicht merkwürdig für ihn, dies zu tun. Er schloss die Augen und krallte die Finger in Rowans kurzes Haar. Das Schwindelgefühl war verschwunden, als hätte sein Körper die ganze Zeit nur auf diesen Moment gewartet. Der Prinz wiederum stieß ein leises Brummen aus und fühlte überdeutlich, wie all die Anspannung und die komischen Gefühle der letzten Tage sich in Rauch auflösten, als wären sie nie dagewesen. Nur er und Remy, warm und vor allem lebendig, mehr zählte nicht. Nur sie und der Sternenhimmel. Der Regen hatte nachgelassen, die Wolken sich verzogen und der Mond kam heraus. Alles war in silbernes Licht getaucht.
Rowan zog den Dieb näher an sich, doch als er merkte, wie sehr diese Nähe sich auf seinen Leib auswirkte, zuckte er zusammen und unterbrach ihre Verbindung. Er keuchte und machte einen Schritt zurück.
»Tut ... tut mir leid. Verzeih. Ich hätte das nicht tun dürfen!« Rowan wischte sich über das Gesicht und wandte sich ab. Sein Körper stand in Flammen und die Hitze raste durch seine Adern. Er wollte nicht genau das tun, vor dem Remy die ganze Zeit solche Bedenken gehabt hatte, sich nicht benehmen wie ein Schwein, das die Situation oder ihre Isolation ausnutzte. So einer war Rowan nicht, er hatte es Remy versprochen!
Der strich sich mit der Hand über den Mund. »Schon ... schon okay.«
»Ich geh’ wieder hinein. Jetzt ist es nicht mehr so dunkel, du kommst also bestimmt zurecht. Bleib’ nicht zu lange im Wasser ...« Ohne einen weiteren Blick verließ Rowan den Teich, sich zwingend, seinen Puls und seinen Körper wieder unter Kontrolle zu kriegen. So etwas hatte der Prinz noch nie erlebt, dass eine Berührung, so etwas Harmloses wie ein Kuss gereicht hatte, um fast alle Vernunft fallen zu lassen. Nur zu gern hätte er jede Barriere zwischen sich und Remy eingerissen, ihn genommen, sich dem Drängen des Fleisches hingegeben. Doch wie könnte er das tun? Remy war ein Mann! Was war nur in ihn, Rowan, gefahren? Hatten die Sorge und die Erleichterung ihn tatsächlich so weit getrieben, sich dermaßen zu vergessen?
Die Tür der Hütte hinter sich schließend, griff er sich eines der Handtücher, presste sich den Stoff auf den Mund und stöhnte auf, in der Hoffnung, irgendwie den Druck loszuwerden. Er hatte einen Fehler gemacht!
Remy sah ihm nach, unschlüssig an seiner Lippe herumkauend. Seufzend schloss er die Finger enger um Rowans Seifenstück und hob es an die Nase. Es roch pur und lange nicht so gut wie der Prinz. Noch immer kämpfte seine Lunge damit, wieder genug Luft zu kriegen und das Kribbeln auf seiner Haut, das Brennen in seinen Adern vertrieben die zunehmende Kälte der Nacht und das Gefühl des stärker werdenden Windes. Er schloss die Augen und tauchte bis zu den Schultern ins Wasser. Die Bilder in seinem Kopf hatten sich nach dem Vorfall nur noch verstärkt und mit Schrecken spürte er die sehr präsente Reaktion seines Körpers darauf. Was sagte es über ihn aus, dass er so reagierte? Lag es einfach nur an der Natur des Menschen, dem Trieb, wie Rowan es genannt hatte und der Tatsache, dass sie beide hier die einzigen Vertreter ihrer Art weit und breit waren? War das so ein Trick der Natur, dass so etwas geschah, wenn man nur genug Zeit miteinander verbrachte?
Energisch begann Remy, sich zu waschen, um sich abzulenken. Schnaufend tauchte er wieder auf, nachdem er sich die Seife aus den Haaren gespült hatte. Er hatte Gänsehaut auf den Armen und spürte, wie seine Lippen zu zittern begannen. Der Wind hatte aufgefrischt und fuhr ihm frostig über den nassen Kopf.
Verlegen und doch erleichtert, dass der sichtbare Beweis seiner schändlichen Gedanken der Kälte zum Opfer gefallen war, sah er zur Mühle herüber. Durch die schmutzigen Scheiben erkannte er den seichten Schein des Feuers. Wie sollte er dort jetzt wieder hineingehen, nachdem er sich Rowan so offen begierig an den Hals geworfen hatte? Der meinte, er hätte das nicht tun dürfen, doch war es wirklich nur von ihm ausgegangen? Gehörten dazu nicht zwei?
Entschlossen ballte Remy die Hände zu Fäusten. Sie hatten die Grenze doch bereits überschritten, warum also jetzt stehenbleiben, anstatt den ganzen Weg zu gehen? Sie konnten nicht mehr zu dem Moment zurück, bevor ihre Lippen sich berührt hatten. Zum ersten Mal hatte der Dieb eine Ahnung davon erlebt, was Menschen dazu brachte, sich wie die Tiere aneinander zu vergnügen. Und diese Ahnung reichte ihm nicht. Lange nicht!
Er rubbelte sich das überschüssige Wasser aus den Haaren und wrang die dünnen Hosen aus, bevor er sie wieder anzog. Es war unangenehm, wenn sie tropften und so würden sie schneller wieder trocken sein. Mit einem tiefen Atemzug, mehr ein Ringen, keuchend und schwer, machte er den ersten Schritt in Richtung der Mühle und spürte überdeutlich, dass seine Hände zitterten, als er die hölzerne Klinke berührte. Schweigend betrat er die Hütte, in der nur schummriges Licht herrschte. Es war warm und duftete nach dem Eintopf, Holz und Rowan, der auf dem Lager saß, nur ein locker sitzendes Hemd am Leib. Er sah in die Flammen und wandte kaum den Kopf, als Remy eintrat, sein Handtuch nahm und sich damit über die Haare und die Arme fuhr. Er zischte, da die Bewegung seiner Wunde nicht gefiel, aber er spürte es kaum, so sehr pumpte sein Herz.
Rowan hob den Kopf, als Remy sich ihm zuwandte und zwei Schritte auf ihn zuging.
»Remy, ich glaube ...«
»Sei still«, murmelte der Dieb. »Mir ist egal, was du sagen willst. Sei ... nur für jetzt, für diese Nacht, still, in Ordnung?«
Der Prinz sah Remy ins Gesicht, der die Lippen zusammengepresst hatte. Seine Augen waren schwarz und der Ausdruck entschlossen, als hätte er sich bereits entschieden, wie diese Nacht enden würde. Rowan nickte und ließ zu, dass Remy sich auf seinen Schoß sinken ließ. Sie hatten diesen Kampf schon verloren, als sie zugelassen hatten, dass ihre Lippen einander fanden, vielleicht sogar schon viel früher. Es erschien ihnen nur natürlich, sich nicht weiter dagegen zu wehren.
»Was ist mit meinem Versprechen?«, fragte Rowan leise und legte die Stirn an Remys Brust. Die Fingerspitzen des Prinzen fuhren seidenzart über die Haut des jungen Diebes, der die Augen schloss und die Gänsehaut genoss, die diese feine Berührung auslöste.
»Vergiss es«, murmelte Remy und ließ seine Nasenspitze über Rowans Wange streichen. Dessen Barthaare waren weich und jagten einen Schauer über den Rücken des Jungen, der diesen schnaufen ließ. »Es spielt keine Rolle mehr.«
»Aber ...«
»Rowan, sei still. Bitte.« Remys Fingerspitzen fuhren in die dunklen Haare des Prinzen und dieser keuchte unterdrückt, weil der Dieb sich auf seinem Schoß bewegte. Die Hitze und die zerreißende Anspannung waren mit einem Schlag wieder da und auch Remy konnte das spüren. Er hob den Kopf und sah Rowan an, ein Grinsen im Gesicht.
»Verzeih mir ... ich bin eben auch nur ein Mensch.«
»Ja«, erwiderte der Dieb leise und schmunzelnd und lehnte sich wieder zu ihm. Er schnurrte wie eine Katze, weil Rowans Hände unablässig seine Haut liebkosten und senkte seinen Mund fast scheu auf den des Prinzen. Remy war unerfahren, doch was ihm an Erfahrung fehlte, machte er durch Hingabe wieder wett. Ihrer beider Puls schoss gleichermaßen in die Höhe, schaukelte sich hoch wie ein Schiff auf schwerer See, je mehr und je intensiver sie sich aufeinander einließen. Nur allzu bereitwillig ließ Remy zu, dass die streichelnden und forschenden Hände des Prinzen über seinen Leib glitten. Er zögerte am Stoff der Unterhosen.
»Es ... gibt kein Zurück mehr, wenn wir jetzt weitermachen«, murmelte Rowan an der Kehle Remys, bevor er sich sanft an der Haut festsaugte. Der Junge hob den Kopf und schnaufte.
»Wohin sollte ich zurück wollen? Da gibt es nichts mehr.«
Ihr Spiel gewann an Intensität, als sie sich des störenden Stoffes entledigt hatten. Remy packte Rowans Hemd und zog es ihm über den Kopf, ohne nur einen Moment zu zögern. Wenn der Junge gedacht hatte, die Hautnähe zu einem Mann würde ihn verunsichern, so wurde er eines Besseren belehrt. Im Gegenteil hatte er nie etwas Lustvolleres empfunden und selten etwas Besseres unter den Händen gehabt. Auch Rowan empfand nichts von dem, was geschah, als unnatürlich oder merkwürdig. Allenfalls etwas ungewohnt, war er zuvor doch nur in den Genuss weiblicher Formen gekommen. Er wusste nur, dass er Remy wollte, ganz und gar, und dass er dieser Spannung kaum mehr standhalten konnte. Rowan legte dem jungen Dieb die Hände auf die Hüften und ein stummes Einverständnis in dessen Blick ließ ihn die Position verändern. Unendlich langsam, unter dem Einsatz von leichtem Druck, verschwammen die Grenzen vollends. Remy stieß ein gepresstes Geräusch aus und klammerte sich an die Schultern des Prinzen, die Nase an dessen Hals und die Finger in seinem Haar, doch der Schmerz, den beide im ersten Moment fühlen konnten, wich schnell etwas viel sinnlicherem.